Mystik

(griechisch mystikós von mýein: einweihen; lateinisch mysticus: geheimnisvoll, dunkel), spezielle Frömmigkeitsform, die in allen Religionen verbreitet ist. Mystik bezeichnet die unmittelbare Schau der Gottheit, durch die der Eingeweihte die Kluft zwischen Mensch und Gottheit überwindet und zur mystischen Einheit (unio mystica) gelangt. Damit soll das Alltägliche im Bewusstsein hin auf die Erfahrung eines Göttlichen transzendiert werden. Da der Begriff in den verschiedenen Religionen unterschiedlich konnotiert ist, ist seine genaue Fassung äußerst schwierig.

Hinduistische Mystik

Der Hinduismus besitzt vermutlich die älteste Tradition der Mystik. In der hinduistischen Philosophie, insbesondere im metaphysischen System des Advaita-Vedanta, ist das „Selbst" oder Atman eines Menschen ein Teil des „höchsten Selbst" oder Brahman. Die scheinbare Trennung von Wesen und Erscheinung gilt als Trugbild (maya), das aus der Gewohnheit von Denken und Fühlen entstanden ist. Dieses Trugbild kann durch die Erkenntnis der grundlegenden Einheit von Atman und Brahman durchschaut werden. Sobald der Mystiker die Unwissenheit (avidya) überwunden hat, auf der die scheinbare Getrenntheit von Subjekt und Objekt, von Selbst und Nicht-Selbst, beruht, ist ein mystischer Zustand der Befreiung (moksha) erreicht. Durch die Praxis des Yoga überwindet der hinduistische Mystiker das Gefühl der persönlichen Identität und macht dadurch den Weg für eine Erfahrung der Vereinigung mit dem göttlichen Selbst frei. Die Mystik wird in Indien traditionell von den Sadhus praktiziert, die eine strenge Askese befolgen, zu der es z. B. gehört, keine Kleidung zu tragen.

Buddhistische Mystik

Der Buddhismus, der sich als Reformbewegung des Hinduismus entwickelte, nahm dessen mystischen Zug auf. Die historische Person Buddha selbst betrieb jahrelang Yoga, bevor er dies zugunsten einer anderen Meditationsform aufgab. Das Ziel des Buddhismus ist es, die Menschen zur Erlangung des endgültigen mystischen Zustandes, des Nirwana, zu führen. Der Buddhismus kennt keinen Klerus im christlichen Sinne; dagegen nehmen Mönche und Nonnen eine besondere Stellung ein, da sie nach Erleuchtung streben, indem sie geistige Übungen und rechtes Leben praktizieren. Auf diese Art und Weise soll der ewige Kreislauf der Wiedergeburt durchbrochen werden.

Die Entwicklung verschiedener Richtungen des Buddhismus führte zu unterschiedlichen Ausprägungen der Mystik. Der Zen-Buddhismus, der sich im 6. Jahrhundert v. Chr. in China entwickelte und sich später in Japan und anderen Ländern ausbreitete, nahm Einflüsse des Taoismus in sich auf. Er versucht durch die Zerstörung der begrifflichen Strukturen die unmittelbare Erkenntnis der Wesenlosigkeit und Leerheit der Dinge zu erreichen. Der Zen-Unterricht gebraucht daher oft paradoxe Rätsel (Koans), um das schematische Denken des Schülers aufzubrechen und ihn für das Nirwana frei zu machen. Der esoterische Buddhismus, vor allem der buddhistische Tantrismus, entwickelte ebenfalls eine mystische Disziplin, durch die der Meister die Jünger mit strengen körperlichen und geistigen Übungen, bei denen Mandalas als Meditationshilfe dienen, zur Erleuchtung führt.

Chinesische Mystik

Während der Konfuzianismus, der bis ins 20. Jahrhundert die führende philosophische Strömung Chinas bildete, von seinem Wesen her eher formalistisch und antimystisch ist, trägt der Taoismus, wie er von seinem überlieferten Begründer, dem chinesischen Denker Laozi, gelehrt wurde, stark mystische Züge. Der Taoismus betont die Relativität und die Fehlbarkeit der begrifflichen Unterscheidungen, die der Geist zum Verständnis und zur Beherrschung der Welt entwickelt hat und die in der Sprache zum Ausdruck kommen. Daher strebt er danach, die begrifflichen Unterscheidungen zu beseitigen, um den Geist wieder in den ursprünglichen Zustand der undifferenzierten Einheit mit dem Universum zurückzuführen, der auch als Zustand des „unbehauenen Klotzes" bezeichnet wird. Im 3. Jahrhundert v. Chr. verglich der taoistische Philosoph Zhuangzi diesen Zustand mit einem Schwimmer, der sich wie ein Fisch durch Stromschnellen bewegt. Neben der Tradition einer mystischen Kontemplation brachte der Taoismus in Verbindung mit dem frühen chemischen Wissen Chinas eine pseudomystische Alchimie hervor, die jedoch mehr nach dem Elixier der Unsterblichkeit trachtete als nach der Vereinigung mit dem Unendlichen.

Griechische Mystik der Antike

Das Denken der alten Griechen, das überwiegend rationalistisch geprägt war, fand seinen mystischen Ausdruck im Orphismus, den Eleusinischen Mysterien und anderen Ritualen. Eine spätere Bewegung des griechischen Denkens, der Neuplatonismus, ging auf die Philosophie Platons zurück, zeigt aber auch den Einfluss der Mysterienreligionen. Sein bedeutendster Vertreter war Plotin, dessen Denken einen großen Einfluss auf das frühe Christentum ausübte. Die Mystik der vorchristlichen Epoche spiegelt sich insbesondere in den Schriften des jüdisch-hellenistischen Philosophen Philon von Alexandria wider.

Islamische Mystik

Der islamische Sufismus stellt eine Form der theistischen Mystik dar, die Ähnlichkeit mit der Mystik der Vedanta besitzt. Diese relativ frühe Bewegung in der Geschichte des Islam strebt mittels einer asketischen und kontemplativen Disziplin nach der persönlichen Vereinigung mit Allah. Die mystischen Erfahrungen der Sufis sowie ihre pantheistischen Lehren trugen dazu bei, dass der Sufismus von den offiziellen Repräsentanten des Islam als Irrlehre betrachtet wurde. 922 wurde der Sufi Al-Hallaj in Bagdad hingerichtet, da er behauptet hatte, mit Gott eins gewesen zu sein. Erst im 11. Jahrhundert versöhnte der Denker Al-Ghazali den Sufismus mit dem orthodoxen Islam. Die Lehren des Sufismus fanden ihren Ausdruck in den Werken der persischen Dichter Mohammed Shams ad-Din, der auch unter dem Namen Hafis bekannt ist, und Djalal od-Din Rumi sowie in den Schriften des Persers Al Ghazali.

Christliche Mystik

Paulus war der erste christliche Mystiker. Seine Briefe, die im Neuen Testament enthalten sind, sowie das Johannesevangelium sind von einer tiefen Mystik geprägt. Als System geht die christliche Mystik jedoch auf den Neuplatonismus zurück, insbesondere auf die Schriften des Dionysius Areopagitas oder Pseudo-Dionysius. Im 9. Jahrhundert übersetzte der scholastische Denker Johannes Scotus Erigena dessen Werke aus dem Griechischen ins Lateinische und brachte so die mystische Theologie der östlichen Christenheit nach Westeuropa, wo sie sich mit der Mystik des Augustinus verband.

Im Mittelalter brachten die Klöster einige der berühmtesten Mystiker und Mystikerinnen hervor, die sowohl der östlichen wie der westlichen Kirche angehörten. Zu ihnen gehörte Hesychast, ein Mönch vom Berg Athos, in der östlichen sowie Bernhard von Clairvaux, Franz von Assisi und Johannes vom Kreuz in der westlichen Kirche. Das französische Kloster von Saint-Victoire bei Paris war im 12. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum der Mystik. Der berühmte Mystiker und Scholastiker Bonaventura war ein Schüler der Mönche von Saint-Victoire. Franz von Assisi, der seine Mystik unmittelbar aus dem Neuen Testament ableitete, gehört zu einer der zentralen Gestalten der modernen Mystik. Zu den Mystikern von Holland zählten Jan van Ruysbroec und Gerhard Groote, letzterer ein religiöser Reformer und Gründer des Mönchsordens der „Brüder vom gewöhnlichen Leben". Johannes Eckhart aus dem 13. Jahrhundert, auch Meister Eckhart genannt, gilt als der führende Vertreter der Tradition der deutschen Mystik.

Andere bedeutende Vertreter der deutschen Mystik sind Johannes Tauler und Heinrich Seuse, ein Schüler Meister Eckharts, die beide einer Gruppe angehörten, die sich „Freunde Gottes" nannte. Einer aus dieser Gruppe schrieb die Deutsche Theologie, die Martin Luther beeinflusste. Ein weiterer bedeutender deutscher Mystiker ist Thomas von Kempen, der allgemein als Verfasser des Werkes De imitatione Christi (Von der Nachfolge Christi) aus dem 15. Jahrhundert gilt. Zu den englischen Mystikern des 14. und 15. Jahrhunderts zählen Margery Kempe und Richard Rolle, Walter Hilton, Juliana von Norwich und der anonyme Verfasser von The Cloud of Unknowing (Die Wolke des Unwissens), einem einflussreichen Traktat über das mystische Gebet.

Viele Vertreter der Mystik waren Frauen. Zu ihnen zählten Hildegard von Bingen, Katharina von Siena, Theresia von Ávila, Elisabeth von Schönau, Hadewijch, Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta. Die französische Mystikerin Jeanne Marie de Guyon du Chesnoy führte im 17. Jahrhundert die mystische Lehre des Quietismus in Frankreich ein.

Aufgrund der Suche nach spiritueller Freiheit trug die Mystik vermutlich mit zum Aufkommen der Reformation bei. Sie stieß jedoch später bei den protestantischen wie schon vorher bei den katholischen religiösen Autoritäten auf Widerstand. In der Zeit der Gegenreformation verfasste Ignatius von Loyola seine Schrift Geistliche Übungen. Das erbauliche Werk Die Praktik der Gegenwart Gottes von Bruder Laurentius avancierte zum französischen Klassiker der mystischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Die bekanntesten deutschen protestantischen Mystiker dieser Zeit waren Jakob Böhme, Verfasser von Mysterium Magnum (Das Große Geheimnis) sowie Kaspar von Schwenckfeld. Die Mystik findet ihren Ausdruck in vielen protestantischen Bekenntnissen und gehört zur Religiosität der Täufer und Quäker.

In Neuengland war der berühmte Geistliche der Kongregationalisten, Jonathan Edwards, stark von der Mystik beeinflusst, und die religiöse Erneuerung, die damals begann, und sich im 19. Jahrhundert in den ganzen Vereinigten Staaten ausbreitete, schöpfte einen großen Teil ihrer Kraft aus mystischen Grundsätzen. Im 17. Jahrhundert kam die Mystik in England in den Werken der Platoniker von Cambridge, in den Werken des religiösen Schriftstellers William Law, Autor von Serious Call to a Devout and Holy Life (Ernsthafte Aufforderung zu einem frommen und ernsthaften Leben), sowie in der Kunst und Dichtung von William Blake zum Ausdruck.

Mystik der Gegenwart

Im 20. Jahrhundert ist ein Wiederaufleben des Interesses an der christlichen sowie der fernöstlichen Mystik festzustellen. Frühe bedeutende Kommentatoren waren der australische Baron Friedrich von Hügel, der britische Dichter und Schriftsteller Evelyn Underhill, der amerikanische Quäker Rufus Jones, der anglikanische Priester William Inge und der deutsche Theologe Rudolf Otto. Ein prominenter nichtgeistlicher Kommentator war der amerikanische Psychologe und Denker William James in The Varieties of Religious Experience (1902, Die Vielfalt der religiösen Erfahrung).

In den nichtchristlichen Überlieferungen war der führende Kommentator zum Zen-Buddhismus der Japaner Daisetzu Suzuki; zum Hinduismus der indische Denker Savepalli Radakrishnan; und zum Islam der britische Gelehrte R. A. Nicholson. Die mystischen Züge des Judentums kommen insbesondere in den Schriften der Kabbalisten des Mittelalters sowie im 18. Jahrhundert in der Bewegung der Chassidim zum Ausdruck. Im 20. Jahrhundert griff Martin Buber diese Ansätze wieder auf. Bekannte zeitgenössische Mystiker waren die französische Sozialphilosophin Simone Weil, der französische Jesuit und Philosoph Pierre Teilhard de Chardin sowie der amerikanische Trappist Thomas Merton. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in Westeuropa und den Vereinigten Staaten ein wachsendes Interesse an der östlichen Mystik, insbesondere der hinduistischen und buddhistischen Lehren zu verzeichnen.

 

 

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