Mumia Abu-Jamals Vorgeschichte
Als ich dieses Essay konzipierte, habe ich in groben Zügen die Kapitel zusammengestellt welche enthalten sein sollen, und ich hatte auch eine ungefähre Vorstellung darüber, welchen Umfang diese Kapitel haben sollen. Hingegen zeigten die Recherchen für seine Vorgeschichte, daß ich mich gründlich getäuscht habe. Wenn man den allgegenwärtigen Behauptungen folgt, er sei ein mit dem Peabody Award ausgezeichneter Journalist gewesen, der einen vehementen Kampf gegen die oft rassistisch motivierten Übergriffe der Polizei von Philadelphia geführt hat, dann findet man erstaunlicherweise wenig an.
Mumia Abu-Jamal wurde am 24. April 1954 als Wesley Cook geboren. Im Alter von 14 Jahren trat er in Philadelphia dem Ortsverein der Black-Panther-Partei bei. Im Sommer 1970 arbeitete er in Oakland, Kalifornien für die Zeitung dieser Partei. In den 1970er-Jahren war er ein in Philadelphia bekannter Radioreporter und Journalist, und ihm wurde gemeinsam mit anderen Mitarbeitern seiner Radiostation 1980 ein lokaler Medienpreis für seine Arbeit zuerkannt.[1] Wegen seines Eintretens für soziale Belange wurde er als „the voice of the voiceless“, als „die Stimme derer, die nicht für sich selbst sprechen können“, bezeichnet. Er war auch der Präsident der Vereinigung Schwarzer Journalisten. Im Jänner 1981 wurde er vom Philadelphia Magazine als Mann den man 1981 im Auge behalten sollte bezeichnet.
Seine Veröffentlichungen nach der Verurteilung, vor allem seit den 1990er-Jahren, sind zahlreich, aber es gibt kaum Artikel die er vor 1981 geschrieben hat. Auch war er nicht der Aufdecker von Mißständen in Polizei und Stadtverwaltung, als der er oft hingestellt wird. In seiner Tätigkeit als Journalist und Radioreporter beschäftigte er sich mit sozialen Fragen, nicht aber mit Polizeibrutalität oder Korruption. Seine einzige Arbeit mit hohem Bekanntheitsgrad die sich mit der Polizei befaßte, war eine an Bürgermeister Rizzo gerichtete Kritik wegen dessen Darstellung der Erstürmung eines Gebäudes der Gruppe MOVE. Allerdings war er nur einer von vielen Journalisten, die Rizzo deshalb kritisiert haben. Die Arbeit als Reporter endete bereits knapp ein Jahr vor dem Mord an Daniel Faulkner.[2] Danach verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer. Die Arbeit als Taxifahrer lieferte kein zusätzliches Einkommen, wie ein Bericht von Amnesty International andeutet, sondern war seine einzige Tätigkeit.[3]
William Marimow, der gemeinsam mit Jonathan Neuman für eine Reportage für den Philadelphia Inquirer über Polizeibrutalität 1978 den Pulitzer Preis erhielt, war für lange Zeit mit diesem Thema befaßt. Nach eigener Aussage beschäftigte er sich mit allem, was andere Reporter über Polizeibrutalität in Philadelphia geschrieben haben. Er konnte sich aber nicht daran erinnern, jemals von Mumia Abu-Jamal gehört zu haben. Seine Stellungnahme in einem Vanity Fair-Artikel war: „Dieser Kerl hat keinen Pieps auf meinem Radarschirm ausgelöst.“[4] Allerdings gibt es auch gegenteilige Darstellungen. So behauptet der Reporter Linn Washington, der auch öffentlich für Abu-Jamal eintritt und dessen Anwälten eine eidesstattliche Erklärung zu den Geschehnissen in den Stunden nach der Tat überreicht hat, Mumia Abu-Jamal wäre einer von einer handvoll Reportern gewesen, der ständig über Polizeibrutalität berichtet hat und dafür auch ausgezeichnet wurde.[5] Trotzdem dies ein Streitpunkt mit sehr widersprüchlichen Behauptungen ist, wurden bislang jedoch kaum Artikel von Abu-Jamal aus der Zeit vor dem Mord an Daniel Faulkner vorgelegt, welche den Umfang seiner Kritik an der Polizei untermauern könnten.
Seine Tätigkeit bei der Radiostation WHYY war seine letzte Arbeit als Journalist. Später wurde er von seinen ehemaligen Kollegen heftig kritisiert. Diese behaupteten, er hätte zwar großes Talent gehabt, er wäre aber auch manipulativ gewesen. Seine letzte Zeit bei WHYY war von Berichten über MOVE geprägt. Auch der Inhalt seiner Arbeit veränderte sich nachdem er in immer engeren Kontakt mit MOVE kam. Obwohl er ursprünglich über soziale Anliegen berichtet hatte, beschäftigte er sich 1979 und 1980 intensiv mit dem Gerichtsverfahren gegen MOVE. Er wohnte nicht nur den Verhandlungen bei, sondern verkaufte zu dieser Zeit auch Zeitungen von MOVE. Seine Arbeit wurde immer unberechenbarer, und immer öfter mußten komplette Berichte überarbeitet werden. Ihm wurde vorgeworfen, daß er seine journalistische Integrität und Objektivität zugunsten von MOVE aufgegeben hat. Es wurde vermutet, daß er persönliche und finanzielle Probleme hatte. Sein Verhalten in der Station wurde als „außer Kontrolle“ beschrieben. Gegen Ende seiner Anstellung bei WHYY verschwand er immer öfter. Als er schließlich ohne Erklärung 3 Tage lang mit einem stationseigenen Auto verschwand, wurde er aufgefordert zu gehen.[6] Vertreter der Radiostation sagten aber auch ausdrücklich, die mangelnde Objektivität in der Berichterstattung wäre ein Grund gewesen. Diese Erfahrung war für ihn nicht neu. Schon bevor er sich mit MOVE eingelassen hat, wurde er gezwungen andere Radiostationen zu verlassen (WDAS, WHAT, WCAU-FM, WPEN). Der Hinauswurf bei WDAS wurde sogar in einem Zeitungsartikel mit dem Titel „Warum WDAS Mumia Abu-Jamal gefeuert hat“ öffentlich diskutiert.[7] Scheinbar konnte er keinen Arbeitsplatz für längere Zeit behalten.
Eine interessante Wendung erfuhr die Behauptung, er hätte den Peabody Award erhalten. Diese Auszeichnung wird von der Universität von Georgia verliehen und ist eine der prestigeträchtigsten Auszeichnungen für Journalisten. ABC News hat 1998 die Universität von Georgia kontaktiert und erfahren, daß Mumia Abu-Jamal diese Auszeichnung niemals erhalten hat. Später behauptete Leonard Weinglass, sein damaliger Anwalt, weder er noch Abu-Jamal hätten bemerkt, daß der Peabody Award auf dem Einband von Abu-Jamals Buch „Live From Death Row“ erwähnt wurde. Er schob die Schuld für dieses Versehen dem Verleger zu.[8]
Der Behauptung, Mumia Abu-Jamal wäre aus Rache für seine journalistische Tätigkeit von der Polizei mit falschen Beweisen hereingelegt worden, fehlt die entsprechende Grundlage. Er war nicht der polizeikritische Journalist, als der er heute dargestellt wird. Wahrscheinlich wußten weder die Polizisten am Tatort noch die Zeugen, die innerhalb von weniger als einer Stunde nach dem Mord an Daniel Faulkner ausgesagt haben, wer Mumia Abu-Jamal war. Das einzige was sie wußten (Robert Chobert, einer der Zeugen, hat es am Tatort gegenüber Inspektor Giordano ausdrücklich erwähnt) war, daß Abu-Jamal ein Mitglied von MOVE war. Die Frisur mit langen fingerdicken Zöpfen war ein gemeinsames Merkmal aller Mitglieder von MOVE.[9] Die Behauptung, Mumia Abu-Jamal wäre von der Polizei hart behandelt worden, weil er offensichtlich ein MOVE-Mitglied war, klingt jedoch nicht mehr vollkommen unglaubwürdig.[10]
Philadelphia war als eine Stadt voller Probleme zwischen Weiß und Schwarz bekannt.[11] Darüber hinaus stand die Polizei im Ruf diese Probleme durch zahlreiche Übergriffe zu schüren. Diese Konflikte waren der Nährboden auf dem MOVE entstand. MOVE ist eine radikale Organisation von Schwarzen, die auch zu bewaffnetem Widerstand bereit ist. Ihr Anführer war der mittlerweile verstorbene John Africa. Dieser baute MOVE als eine Sekte auf und organisierte diese Gruppe entsprechend seiner Philosophie. Im Gegensatz zur Partei der Black Panthers war MOVE klein und auf Philadelphia beschränkt. Auch vertrat MOVE kein politisches Programm. Die Gruppe existiert zwar noch, spielt aber im politischen Leben keine Rolle. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde MOVE von den Behörden als Unruhestifter betrachtet. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei waren zahlreich. In einigen Fällen kam es zu offenen Schußwechseln mit Toten und Verletzten.
Im Jahre 1978 kam es zur Belagerung eines von MOVE-Mitgliedern bewohnten Gebäudes durch die Polizei. Nachdem bei einem Schußwechsel der Polizeibeamte James Ramp tödlich getroffen wurde, wurden neun Bewohner des Gebäudes, allesamt Mitglieder von MOVE, vor Gericht gestellt und wegen Mordes zu 30 bis 100 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Polizisten wurden dabei gefilmt, wie sie einen Mann namens Delbert Africa bei der Verhaftung schwer mißhandelten. Am nächsten Tag wurde das Gebäude mit Planierraupen dem Erdboden gleichgemacht, wodurch eventuell vorhandene Beweisstücke verloren gingen. Eine ähnliche Belagerung ereignete sich 1985. Als die Polizei während der Belagerung eines Gebäudes einen Sprengkörper aus einem Hubschrauber abwarf, kamen 11 Personen, darunter 6 Kinder, ums Leben. Nur 2 Personen überlebten. 1995 sprach ein Bundesgericht Mitgliedern von MOVE 1,5 Millionen Dollar als Entschädigung zu.
Diese beiden Fälle sollten nicht dazu verwendet werden, der Polizei von vornherein die Schuld an den Konfrontationen zu geben. In beiden Fällen waren die Einsätze der Polizei gut begründet. So führten im Jahre 1978 die Bewohner des Hauses eine Hungerstreik durch, von dem auch Kinder betroffen waren. Vor dem Eingreifen der Polizei wurden die Hausbewohner mit Lebensmitteln versorgt. Sie warfen diese aber anschließend aus dem Fenster. Als die Polizei schließlich eingriff kam es zu einem Schußwechsel, in dessen Verlauf ein Polizist ums Leben kam. Die danach entstandenen Gerüchte und Anschuldigungen gegen die Polizei weisen Ähnlichkeiten mit Mumia Abu-Jamals Fall auf. Es wurde öffentlich diskutiert, ob MOVE oder die Polizei den ersten Schuß abgegeben hat, und Mitglieder von MOVE behaupteten später, der Polizist wäre durch eine Kugel eines anderen Polizisten getötet worden. Auch Amnesty International gab diese Gerüchte unkritisch wieder und erzeugte den Eindruck, die Polizei hätte diese Schwierigkeiten provoziert. Der Bericht unterläßt es aber, die Gründe für den Polizeieinsatz zu beschreiben und erklärt auch nicht, wieso MOVE der Polizei mit derartig massiver Waffengewalt entgegengetreten ist.
Übergriffe der Polizei waren häufig. 1973 erklärte ein Richter, diese Übergriffe seien so häufig, daß man sie nicht mehr als isolierte Fälle betrachten kann. Ein Komitee des Parlaments von Pennsylvania erhob 1978 ähnlich Vorwürfe gegen die Polizei von Philadelphia. Im Jahre 1979 reichte das US-Justizministerium ein Klage gegen Frank Rizzo, den Bürgermeister von Philadelphia ein, weil dieser nichts gegen Polizeiübergriffe unternahm. Er hatte dies offensichtlich auch nicht vor, den vor einer Versammlung von 700 Polizisten sagte er: „Selbst wenn sie im Unrecht sind, werde ich Ihnen Rückendeckung geben“. Das Verfahren des Justizministeriums wurde später wegen fehlender juristischer Zuständigkeit eingestellt.
Im Laufe der Jahre kam es auch zu rechtlichen Folgen dieser Vorwürfe. 1995 bekannten sich sechs Polizisten aus Philadelphia schuldig, Drogen als falsche Beweise unterschoben zu haben. Weiters gestanden sie den Diebstahl von mehr als 100.000 $ und die Fälschung von Polizeiberichten. Im selben Jahr wurden 2 Polizisten für die Fälschung von Beweismitteln zu 5 bis 10 Jahren Haft verurteilt. Zwischen 1993 und 1999 mußte Philadelphia etwa 27 Millionen Dollar in mehr als 230 Verfahren gegen die Polizei bezahlen. Dieser enorme Umfang der Mißstände innerhalb der Polizei war der Hauptgrund, weshalb das Verfahren gegen Mumia Abu-Jamal so leicht zu einem Politikum gemacht werden konnte. Das gut begründete Mißtrauen großer Bevölkerungsteile gegenüber der Polizei war ein ausreichender Nährboden für Vorwürfe und Verdächtigungen.
Ein weiterer oft angeführter Punkt, der eine Intrige der Polizei beweisen soll, ist ein Programm des FBI. Das Counter Intelligence Program COINTELPRO wurde vom FBI ins Leben gerufen, um radikale Vereinigungen von Minderheiten, z.B. von Indianern oder Schwarzen, zu überwachen. Eines der Ziele war die Vereinigung Black Panthers, der Mumia Abu-Jamal in jüngeren Jahren angehörte. COINTELPRO wurde häufig von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Auch Amnesty International gehörte zu den Kritikern dieses Programms. Obwohl es sicher ist, daß Mumia Abu-Jamal ebenfalls überwacht wurde, sind bislang keine Hinweise aufgetaucht, die dieses Programm mit seinem Verfahren in Verbindung bringen konnte. Leonard Weinglass hat zwar versucht das FBI in seine Ermittlungen einzubinden, konnte aber keine Hinweise auf dessen Beteiligung am Verfahren vorweisen. Rachel Wolkenstein, eine andere Anwältin Abu-Jamals, hat sogar einen 700 Seiten umfassenden Bericht des FBI erwähnt, ohne in weiterer Folge in der Lage zu sein, entlastendes Material daraus vorzulegen.[12] Bis zum heutigen Tag existiert keine Grundlage, um das FBI und COINTELPRO der Mitwirkung an einer Intrige gegen Mumia Abu-Jamal zu bezichtigen.
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