Die Version der Staatsanwaltschaft sagt aus, Mumia Abu-Jamal ist über die Locust-Straße auf Daniel Faulkner zugelaufen und hat ihm in den Rücken geschossen. Danach hat sich Daniel Faulkner umgedreht und zurückgeschossen, während er bereits zu Boden ging. Ich halte das für wenig wahrscheinlich. Mumia Abu-Jamal muß beim Schuß von Daniel Faulkner aufgrund des Schußkanals nach vorne gebeugt gewesen sein, war also wahrscheinlich noch in Bewegung. Daniel Faulkner muß noch aufrecht oder annähernd aufrecht gewesen sein. Wenn Daniel Faulkner unmittelbar nach dem Treffer in den Rücken zu Boden ging, ist es darüber hinaus schwerlich zu erklären, wieso sein Körper vollständig auf dem Gehsteig lag, als der tödliche Schuß abgefeuert wurde. Auch der Schußkanal des Treffers in den Rücken verläuft deutlich von unten nach oben und von rechts nach links, und die Mündung der Waffe war zu diesem Zeitpunkt maximal 30-45cm[1] von ihm entfernt. Er müßte nicht hinter, sondern neben William Cook gestanden und zum Gehsteig geblickt haben, als Mumia Abu-Jamal gefeuert hat. Auch müßte Daniel Faulkner deutlich nach vorne gebeugt gewesen sein und seine Jacke war weit nach oben gerutscht. Es ist auch schwer vorstellbar, daß Daniel Faulkner den heranlaufenden Mumia Abu-Jamal nicht bemerkt hat.
Wenn Abu-Jamal der Täter war und Daniel Faulkner beim ersten Schuß Mumia Abu-Jamal tatsächlich noch den Rücken zugekehrt hat, ging dieser Schuß wahrscheinlich daneben und hat das Gebäude getroffen. Eventuell hat sich Daniel Faulkner aber bereits zu ihm hingedreht und die Waffe gezogen bevor der erste Schuß fiel. Entweder wurde Daniel Faulkner in dieser Position nicht getroffen, oder er erhielt lediglich einen Treffer in den hochgehobenen Jackenkragen. Mumia Abu-Jamal erhielt einen Treffer in die rechte Brust. Wer zuerst geschossen hat kann nicht festgestellt werden. Abu-Jamals Waffe war weiter als 30-45cm vom Ziel entfernt, Daniel Faulkners Waffe maximal 30-45cm. Trotzdem geht es hier nur um wenige Zentimeter, so daß eine eindeutige Aussage unmöglich ist. Eventuell hat Mumia Abu-Jamal auch insgesamt zweimal daneben geschossen und dabei das Gebäude hinter Daniel Faulkner getroffen. Die Spuren am Gebäude lassen ein oder zwei Fehlschüsse als Möglichkeit zu. Zumindest einer dieser Fehlschüsse muß ein anderes Hindernis getroffen haben, bevor er das Gebäude erreicht hat. Vielleicht war dies das Parkverbotsschild in der Nähe des hinteren Endes des Volkswagens. Danach schoß Daniel Faulkner auf seinen Angreifer und beendete damit den ersten Abschnitt des Schußwechsels. Nachdem er Mumia Abu-Jamal in die Brust getroffen hat, drehte er sich um und kehrte seinem Angreifer den Rücken zu, wahrscheinlich um hinter einem Auto in Deckung zu gehen. Aufgrund des Schußkanals von rechts nach links könnte er Deckung hinter dem Polizeiauto gesucht haben. Während er versuchte in Deckung zu gehen, hat ihm Mumia Abu-Jamal in den Rücken geschossen. Die relative Lage der Einschußöffnung in der Polizeijacke deutet ebenfalls darauf hin, daß sich Daniel Faulkner bewegt hat, als er zum ersten Mal getroffen wurde.[2] Daniel Faulkner verlor die Waffe und fiel zu Boden. Laut Aussage von Robert Harkins könnten beide auch noch kurz miteinander gerungen haben, bevor der Polizist zu Boden fiel. Schließlich hat Mumia Abu-Jamal die Tat zu Ende gebracht, in dem er neben dem am Boden liegenden Daniel Faulkner stand und ihm ins Gesicht geschossen hat. Zu diesem Zeitpunkt waren in Abu-Jamals Waffe wahrscheinlich nur noch zwei, maximal drei Patronen. Das bedeutet, er hat höchstens zwei Mal, wahrscheinlich aber nur einmal daneben geschossen. Einer dieser Fehlschüsse könnte Daniel Faulkners Jackenkragen getroffen haben. Die Mündung der Waffe war knapp 60 Zentimeter (23 Zoll) vom Gesicht Daniel Faulkners entfernt. Mumia Abu-Jamal muß daher aufrecht oder annähernd aufrecht gestanden sein, um aus dieser Entfernung schießen zu können. Er war sicher nicht weit genug nach vorne gebeugt, um den Schußkanal durch seine Brust möglich zu machen. Aus dem Liegen heraus hat Daniel Faulkner sicherlich nicht geschossen. Nach der Tat ging Mumia Abu-Jamal noch ein paar Schritte, ließ die Waffe fallen und setzte sich auf den Randstein des Gehsteigs.
Die von Stewart Taylor jr. angedeutete Möglichkeit, Daniel Faulkner hätte vielleicht sogar geschossen bevor Mumia Abu-Jamal seine Waffe gezogen hat, ist jedoch unlogisch.[3] Dann ließe sich der Schuß in Daniel Faulkners Rücken nur damit erklären, daß er nach dem ersten Schuß Deckung gesucht hat. Vor einem unbewaffneten Mann würde er aber nicht in Deckung gehen. Wenn aber Abu-Jamal erst danach seine Waffe gezogen hätte, wäre ein erneuter Schuß Daniel Faulkners die wahrscheinlichste Reaktion gewesen. Schließlich hatte er seine Waffe schon in der Hand und wäre daher im Vorteil gewesen.
Die Version der Verteidigung geht davon aus, daß ein dritter Mann geschossen hat. Eventuell war dies Kenneth Freeman. Laut William Cook saß dieser neben ihm im Volkswagen. Arnold Howard hat Kenneth Freeman seinen Führerschein geborgt, der später bei Daniel Faulkner gefunden wurde. Als Mumia Abu-Jamal auf Daniel Faulkner zulief, muß sich dieser zu ihm umgedreht haben. Irgendwann in diesem Zeitraum verlies Kenneth Freeman den Volkswagen und schoß Daniel Faulkner in den Rücken, als dieser zu Mumia Abu-Jamal blickte. Dessie Hightower sah jemanden auf der Beifahrerseite des Volkswagens sitzen und hielt diese Person später für den Fahrer des Volkswagens. Robert Chobert hat beim Fahrer keine Kopfbedeckung bemerkt, während William Cook sogar bei seiner Befragung im Polizeirevier eine Kopfbedeckung trug. Später hat dieser Umstand Robert Chobert zu einer Verwechslung der beteiligten Personen verleitet. Daniel Faulkner hat entweder schon zuvor auf Abu-Jamal geschossen oder er hat, nachdem er in den Rücken getroffen wurde, reflexartig geschossen. Danach verlor er die Waffe, ging zum Gehsteig und fiel zu Boden. Als er am Boden lag führte der Täter den Mord zu Ende und lief anschließend in Richtung 12. Straße davon. Gleichzeitig ging Mumia Abu-Jamal weiter in Richtung Gehsteig und setzte sich schließlich auf den Randstein. Vielleicht hat er zu seinem Schutz seine Waffe gezogen, obwohl diese nicht geladen war. Bevor er sich hinsetzte lies er sie neben sich zu Boden fallen. Robert Chobert sah den Täter noch davonlaufen bevor er aus seinem Taxi stieg. Als er außerhalb des Wagens war und wieder hinsah, sah er Mumia Abu-Jamal neben dem Volkswagen sitzen und hielt ihn für den Täter. Dessie Hightower sah ebenfalls einen Mann in Richtung 12. Straße davonlaufen und er sah auch Mumia Abu-Jamal am Randstein sitzen.
Das Schwierige bei der Erstellung eines Szenarios, in dem Mumia Abu-Jamal unschuldig ist, besteht darin, daß die Verteidigung niemals ein solches Szenario geschildert hat, William Cook gerade nicht hingesehen hat und Mumia Abu-Jamal sich an nichts erinnern kann. Die hier geschilderte Version ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Allerdings können sich diese möglichen Versionen in einigen grundlegenden Dingen nicht stark unterscheiden. Die Fakten lassen nur wenig Spielraum für Interpretationen, und die Widersprüche lassen sich nicht vernünftig aufklären. Dabei gehe ich aber erneut ausdrücklich nicht von den Schilderungen William Singletarys, William Harmons und Arnold Beverlys aus. Deren phantasievolle Geschichten lassen sich einfach nicht einpassen.
Beide geschilderten Versionen sollen nur als Möglichkeiten angesehen werden. Für die Version, in der Mumia Abu-Jamal der Täter ist, sprechen beinahe alle Beweise. Es gibt nur wenige Ungereimtheiten. Robert Chobert lieferte eine falsche Beschreibung ab. Allerdings war es Nacht und seine Position ermöglichte keine einwandfreie Sicht. Die Waffe Mumia Abu-Jamals konnte nicht einwandfrei als Tatwaffe identifiziert werden. Sie hatte aber das richtige Kaliber, der Lauf hatte die richtige Drehrichtung und die richtige Anzahl an Riefen, und vier der fünf Patronen stammten vom gleichen Hersteller und von der gleichen Type wie das tödliche Projektil. Außerdem enthielt sie fünf leere Patronenhülsen und sie lag am Tatort unmittelbar neben Abu-Jamal. Es stimmt, daß auch unzählige andere Waffen das gleiche Kaliber und die gleiche Drehrichtung haben. Diese Waffen wurden aber nicht mit abgefeuerten Patronenhülsen am Tatort gefunden. Tests an seinen Händen und der Waffe wurden nicht durchgeführt. Dies kann aber auch nicht als entlastend gewertet werden. Die Arbeit der Polizei war nicht optimal, und Abu-Jamals Verletzung hat die Tests an seine Händen verhindert.
Für die Version des dritten Mannes spricht nur wenig, aber sehr viel spricht dagegen. Robert Harkins und Michael Scanlan müßten sich in ihren Beschreibungen gründlich geirrt haben. Auch Albert Magilton müßte diese Person übersehen haben, obwohl er sich an einer günstigeren Position befand als Dessie Hightower und seine Beobachtung schon etwas früher machen konnte als dieser. Mumia Abu-Jamal hätte entweder eine leergeschossene Waffe in seinem Schulterhalfter gehabt oder er hat seine Waffe dem Täter (scheinbar Kenneth Freeman) geborgt und daher ein leeres Schulterhalfter getragen. In seiner eidesstattlichen Erklärung verliert Abu-Jamal kein Wort über seine Waffe. Nachdem er angeschossen worden war, müßte er, ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein, zum Gehsteig gegangen sein, und, falls er seine Waffe bei sich gehabt hat, müßte er diese dabei gezogen haben obwohl sie leer war. Als Daniel Faulkner von hinten angeschossen wurde, hat dieser nicht nur auf den vor ihm stehenden Mumia Abu-Jamal geschossen, sondern er müßte anschließend zum Gehsteig, also in Richtung des Täters gegangen sein. Der Täter hat daraufhin nicht nur aus nächster Nähe auf Daniel Faulkners Kopf geschossen, sondern aus einem undefinierbaren Grund auch noch Schüsse auf den Hauseingang von Locust-Straße 1234 abgegeben. William Cook sah seinen verletzten Bruder am Gehsteigrand sitzen und konnte deshalb nicht davonlaufen, sondern hat mit ihm gesprochen und ihm gesagt, er sei für ihn da. Statt aber bei ihm zu bleiben und zu versuchen ihm zu helfen, ist er zur Hauswand gegangen und hat auf die Polizei gewartet. Später haben beide dichtgehalten um Kenneth Freeman nicht zu belasten. Scheinbar war Mumia Abu-Jamals Leben weder für ihn selbst noch für seinen Bruder wertvoll genug, um deshalb einen alten Freund zu verraten. Wenn man auch das angebliche Mordkomplott gegen Daniel Faulkner heranzieht, müßte William Cook darüber hinaus am Mordplan mitgewirkt haben, um Kenneth Freeman die Tat zu ermöglichen. Dieser Erklärungsversuch enthält von Anfang bis Ende zu viele widersprüchliche Annahmen um glaubwürdig zu sein.
Die Widersprüche in der Theorie des Staatsanwaltes lassen sich hingegen relativ leicht erklären. Robert Chobert sah keine Haube auf dem Kopf des Täters, hatte aber eine sehr ungünstige Position. Er sagte in seiner ersten Stellungnahme gegenüber Inspektor Giordano, der Täter sei davongelaufen. Dies war aber nur die Interpretation seiner ersten Aussage durch Alphonso Giordano. Robert Chobert hat in diesem Augenblick nicht gesagt wie weit der Täter gelaufen ist und hat ihn unmittelbar danach identifiziert. Auch Dessie Hightower sah eine Person davonlaufen und er sagte, jemand sei auf der Beifahrerseite des Volkswagen gesessen. Vielleicht ist tatsächlich so wie von William Cook behauptet Kenneth Freeman im Volkswagen gewesen. Als er die Schüsse hörte, war es für ihn nur natürlich die Flucht zu ergreifen. Aber es war nicht seine leergeschossene Waffe die am Tatort gefunden wurde. Da er auf der Beifahrerseite ausgestiegen sein müßte, wäre Daniel Faulkner zwischen ihm und Mumia Abu-Jamal gewesen. Weshalb sollte Daniel Faulkner also auf Abu-Jamal schießen, wenn er aus einer anderen Richtung angeschossen wurde? Und warum sollte William Cook schweigen und damit seinen Bruder der Gefahr einer Hinrichtung aussetzen? Auch der Führerschein Arnold Howards als Verbindungsglied zwischen Kenneth Freeman und dem Mord gibt nichts her. Freeman wird diesen Führerschein dem toten Polizisten wohl kaum in die Hand gedrückt haben. Daniel Faulkner kann diesen nur vor der Schießerei, also von William Cook erhalten haben. Selbst wenn noch ein weiterer Mann am Tatort war, gibt es keinen Grund anzunehmen, dieser wäre auch der Täter gewesen.
Der einzige echte Schwachpunkt in der Theorie der Staatsanwaltschaft ist die mangelhafte Beschreibung der entscheidenden Sekunden zwischen dem ersten Schuß und dem tödlichen Schuß auf den am Boden liegenden Polizisten. Die gefundenen Spuren (Blut und Projektile) belegen, daß sich Täter und Opfer auf dem Gehsteig mehrere Meter bewegt haben und Daniel Faulkner nicht sofort zu Boden ging.[4] Keiner der Zeugen konnte die Bewegungen Mumia Abu-Jamals und Daniel Faulkners genau beschreiben. Nur Robert Harkins behauptete, beide hätten sich umeinander gedreht als würden sie miteinander kämpfen.[5] Allerdings stellt dies nur eine Ungenauigkeit dar, und die Verteidigung konnte bislang kein plausibles Alternativszenario erstellen, mit dem sich diese Spuren zugunsten Mumia Abu-Jamals erklären lassen. Es stimmt zwar, daß die vom Staatsanwalt während der Verhandlung präsentierte Darstellung, laut der Daniel Faulkner in den Rücken getroffen wurde und sich danach umdrehte und zurückschoß, im Detail unwahrscheinlich ist. Es ist aber durchaus nicht unwahrscheinlich, daß er das Feuer erwidert hat, nachdem auf ihn geschossen wurde, egal ob er zu diesem Zeitpunkt bereits verletzt war oder nicht. Mit Sicherheit ist dieses Detail nicht geeignet, die grundsätzliche Theorie der Staatsanwaltschaft zu widerlegen.
Auch die angeblich fehlenden Einschußkerben im Gehsteig neben Daniel Faulkner sind nur ein schwaches Indiz. Häufig wird argumentiert, die drei Fehlschüsse müßten deutliche Spuren im Beton hinterlassen haben. Gleichzeitig zeigen die Tatortfotos keinerlei Kerben. Als Beleg für die Anzahl der Schüsse wird die Aussage Cynthia Whites herangezogen, obwohl sie andererseits als so unglaubwürdig gilt, daß sogar ihre Anwesenheit am Tatort bezweifelt wird. Tatsächlich gab es in dieser Situation wahrscheinlich nur einen einzigen Fehlschuß. Ob dieser eine Schuß (oder maximal zwei Schüsse) eine Kerbe verursacht hat, läßt sich aufgrund der Tatortfotos nicht genau feststellen. Die Fotos zeigen einen generell unebenen und abgenutzten Betonboden mit einigen kleinen, hellen Flecken. Speziell das größte Bild des Blutflecks weist einen hellen Fleck neben der Blutlache auf. Für eine Bestimmung der Natur dieser Flecken wäre eine Detailaufnahme erforderlich. Eine solche Aufnahme scheint aber nicht zu existieren. Dazu kommt noch, daß der Blutfleck eine beträchtliche Größe aufweist und naturgemäß den Bereich unmittelbar neben Daniel Faulkners Kopf abdeckt. Eine Einschußkerbe unterhalb des Blutflecks kann aber keinesfalls sichtbar sein.[6] Deshalb ist die Behauptung, es würden keine Einschußkerben existieren, nichts weiter als eine Vermutung. Die vorhandenen Tatortfotos sind für eine Klärung dieser Frage nicht geeignet.