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Die Natur von Zeugenaussagen

Wie jeder Beobachter von Gerichtsverhandlungen bestätigen kann, sind Zeugenaussagen stets mit Vorsicht zu betrachten. Zeugen berichten nicht nur das, was sie gesehen haben, weil es innerhalb ihres Gesichtsfeldes war, sondern oft auch Dinge die für sie verdeckt waren. Das Auge sieht die eine Hälfte, und das Gehirn ergänzt den Rest. Dieser Umstand ist auch der Grund für den Erfolg von Bühnenmagiern. Der Zuseher sieht den Kopf und die Beine der Assistentin und folgert daraus, daß sich ihr Körper in der Kiste dazwischen befinden muß. Erst wenn sie zersägt wurde und trotzdem noch friedlich lächelt wird der Schwindel offensichtlich.
Etwas Ähnliches trifft auch auf die vorliegenden Zeugenaussagen zu. Hier jedoch kommen weitere Komponenten erschwerend hinzu. Der Beobachtungszeitraum war kurz, die Aufmerksamkeit anfangs abgelenkt und die Sicht durch die Entfernung und die Lichtverhältnisse erschwert. Die Situation von Zeugen unterscheidet sich stark von der eines Besuchers einer Bühnendarbietung. Dort sitzt besagter Beobachter erwartungsvoll vor der Bühne, konzentriert sich auf das Geschehen und versucht herauszufinden, wie der Trick funktioniert. Am Tatort weiß der Zeuge noch nicht einmal, daß etwas geschehen wird. Wenn er schließlich begriffen hat, daß etwas geschehen ist, ist die ganze Sache auch schon vorbei.
Was ein Zeuge gesehen hat, läßt sich oft aus den Dingen folgern, die er nicht beschreibt. Um dem Gehirn die Möglichkeit zu bieten, ein Geschehen zu rekonstruieren, muß der Beobachter zunächst Teile dieses Geschehens tatsächlich beobachten können. Wenn er nichts sieht, bleiben diese Teile im Dunkeln. Wenn ein Zeuge eine Person in eine bestimmte Richtung hinter einem Hindernis verschwinden sieht und diese Person Sekunden später am anderen Ende wieder auftaucht, wird das Gehirn des Zeugen die dazwischenliegende Bewegung ergänzen. Sollte die beobachtete Person auf dem verdeckten Weg gestolpert sein, kann der Zeuge diesen Vorfall jedoch nicht einmal erahnen.

Details von Zeugenaussagen sind aber nicht nur aus diesem Grund stets problematisch. Man benötigt Zeit zur Erfassung von Details. Je kürzer die Zeit, desto geringer ist die Zahl der erfaßten Details. Zunächst registriert der Beobachter nur eine Person, danach vielleicht deren Geschlecht oder Statur. Erst später, wenn überhaupt, werden Einzelheiten wie Frisur oder Kleidung erkannt. Die Tiefe der erkannten Einzelheiten hängt nicht nur von der zur Verfügung stehenden Zeit, sondern ganz besonders von konkurrierenden Ereignissen ab. Wenn das Auge auf ein anderes Geschehnis konzentriert ist, bleiben daneben ablaufende Ereignisse unbeobachtet, sogar wenn diese unmittelbar daneben ablaufen und die Zeit zu deren Erkennung ausreichen würde.

Dem steht jedoch eine fundamentale Eigenschaft von Zeugenaussagen entgegen. Sie mögen im Detail ungenau oder sogar falsch sein, repräsentieren aber immer die Essenz des beobachteten Geschehens. Die Interpretation dieses Geschehens ist nicht frei von Vorurteilen. Ein Zeuge kann sich bei der Verarbeitung des Gesehenen täuschen. Im Zweifelsfall kann man auch untersuchen ob die Interpretation richtig sein kann. Michael Scanlan sah einen Mann auf den Polizisten zulaufen, sah wie dieser Mann seine Hand ausstreckte und hörte einen Schuß aus dieser Richtung. Er folgerte daraus, daß dieser Mann geschossen hat, obwohl er weder die Waffe noch den Rückstoß oder Mündungsfeuer gesehen hat. Seine Schlußfolgerung erscheint berechtigt, stellt aber nicht die einzige Möglichkeit dar. Es könnte auch eine für ihn verdeckte Person geschossen haben. Wenn sich mit Hilfe anderer Beweismittel zeigen läßt, daß tatsächlich ein Schuß aus dieser Richtung abgefeuert wurde, wird die anfängliche Vermutung zur Gewißheit. Zeigt der ballistische Befund, daß dies nicht möglich ist, muß nach einer anderen Erklärung gesucht werden. Zeugenaussagen gleichen einer zumeist brauchbaren Zusammenfassung mit fehleranfälligen Fußnoten und unsicherer Interpretation. Ein fehlerhaftes Detail läßt noch nicht auf eine Lüge schließen. Aber jedes fehlerhafte Detail sollte dahingehend untersucht werden, ob es eine Lüge oder doch nur eine falsche Erinnerung ist. Häufig ist diese Entscheidung keine Frage von entweder/oder, sondern nur die strittige Bewertung einer Wahrscheinlichkeit. Man kann eine Aussage für ungenau oder erlogen halten, und niemand kann die eine oder andere Sichtweise beweisen. Es gibt aber auch im Mordfall Daniel Faulkner Zeugenaussagen, bei denen die Frage nach dem Wahrheitsgehalt „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ bewertet werden kann. Dabei ist der geschätzte Leser nicht an meine Schlußfolgerungen gebunden. Im Besonderen stehen die Prozeßmitschriften zur Verfügung und können von jedem eingesehen werden.
Als Beispiel für den Wahrheitsgehalt von Einzelheiten möchte ich je eine Aussage von Michael Scanlan und William Singletary heranziehen.
Michael Scanlan beschrieb die Auseinandersetzung zwischen Daniel Faulkner und William Cook. Als William Cook von Daniel Faulkner geschlagen wurde, soll dieser in die Knie gegangen sein. Scanlan sagte aber auch, dies wäre vor dem Polizeiauto geschehen. (An einer Stelle sagte er, sie wären auf der Straße gewesen, was auch immer damit gemeint war.) Aufgrund von Scanlans Position konnte er William Cooks Knie nicht gesehen haben. Für ihn waren nur die Oberkörper der beiden Männer sichtbar. Er sagte auch, daß sich William Cook in Folge des Schlages nach unten auf die Kühlerhaube bewegt hat. Dies konnte er beobachten, nicht aber die Knie. Diese Unstimmigkeit halte ich aber keinesfalls für eine Lüge. Es war eine Schlußfolgerung, welche durch seine Beobachtung gerechtfertigt wurde, und sie wird auch nicht durch den Umstand geschmälert, daß er sich seiner Sache sicher war. Das hauptsächliche Geschehen bestand aus dem Schlag Daniel Faulkners und der Bewegung William Cooks nach unten. Dies konnte er beobachten. Die Details waren die Behauptungen, er wäre in die Knie gegangen und er wäre danach mit dem Oberkörper auf der Kühlerhaube gelegen. Diese Einzelheiten hat er nicht gesehen, sondern ergänzt und stellten somit seine Interpretation dar.
William Singletary beschrieb die Ereignisse vom 9.12.1981 im Jahr 1995 während einer PCRA-Anhörung. Unter anderem sagte er aus, Daniel Faulkner hätte mit ihm über Maureen oder die Kinder gesprochen, nachdem der Polizist bereits tödlich getroffen mit dem Rücken zum Gebäude am Gehsteig saß. Beides ist gleichermaßen unmöglich. Unmittelbar nach dem Treffer in den Kopf war Daniel Faulkner bereits tot und konnte daher keinesfalls etwas gesagt haben. Außerdem lehnte er nie mit dem Rücken an der Gebäudewand, sondern lag ein gutes Stück davon entfernt auf dem Boden. Hier haben wir es nicht mit nebensächlichen Details zu tun. Das hauptsächliche Geschehen besteht aus der Behauptung, Daniel Faulkner hätte nach dem tödlichen Treffer noch gesprochen. Man kann mit Sicherheit sagen, daß es danach war, da der gesamte von Singletary beschriebene Tatablauf keine Möglichkeit eines weiteren Schusses auf den Polizisten zuläßt. Die Details waren der Inhalt von Faulkners Aussage und seine genaue Lage. Während solche Details diskutierbar sind, läßt sich die zentrale Beobachtung auf keine anderen Geschehnisse zurückführen. Ein Gespräch mit dem tödlich getroffenen Polizisten welches sich niemals ereignet hat kann keine falsche Erinnerung sein. Dies wäre zu abwegig und würde Zweifel am Geisteszustand des Zeugen wecken. Daher ist es gerechtfertigt, diese Aussage als Lüge zu werten. Da dies aber nicht die einzige grobe Unstimmigkeit in Singletarys Aussage ist, wird dadurch seine Aussage in ihrer Gesamtheit entwertet. So hat er den ihm persönlich bekannten Autobahnpolizisten Vernon Jones am Tatort gefragt, was los ist. Trotzdem behauptete er später alles gesehen zu haben.



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