Der Ausgangspunkt der ersten Schüsse
Schiffmann benutzt als Beweis dafür, daß Mumia Abu-Jamal die ersten Schüsse unmöglich abgefeuert haben kann, eine Skizze mit dem ungefähren Weg Abu-Jamals und der Flugbahn eines Geschoßfragments innerhalb des Eingangsbereichs von Locust 1234. Abu-Jamal läuft dabei in gerader Linie von seinem Taxi zum Tatort und schließt mit der eingezeichneten Flugbahn des Fragments einen Winkel von ca. 77 Grad ein, das heißt das Fragment wurde um etwa 103 Grad abgelenkt (im Text beschreibt er ihn als rechten Winkel). Eine Ablenkung in dieser Größenordnung ist tatsächlich sogar für ein Fragment mittlerer Größe höchst ungewöhnlich. Dabei unterstützt der Autor die Idee, daß die Stange des Parkverbotszeichens das einzige Hindernis am Tatort ist und wahrscheinlich für den Querschläger verantwortlich ist. Möglicherweise hat er mit dieser Annahme recht.
Bitte beachten Sie, daß diese Skizze nur in den englischen Versionen (Race Against Death) verwendet wird. Die ebenfalls im Internet verfügbare deutschsprachige Version enthält eine Skizze mit einem Detailausschnitt des Tatorts. Die Schlußfolgerungen im Text sind jedoch dieselben. Warum zwei verschiedene Versionen der Skizze verwendet werden entzieht sich meiner Kenntnis. Die weiter unten abgebildete Skizze stellt die Situation in der englischsprachigen Ausgabe dar.
Das Fragment im Gebäudeinneren könnte auch noch auf anderem Wege dorthin gelangt sein. Wie ich weiter unten beschreiben werde, kann der Schuß in Daniel Faulkners Rücken in Richtung des Gebäudes von oben nach unten erfolgt sein als er in der Nähe des Gehsteigs oder bereits auf dem Gehsteig in Richtung zum Gebäude geblickt hat. Ein Fragment des anschließend vom Boden abprallenden Geschosses könnte daraufhin die Scheibe durchschlagen haben. Für diese Variante wäre die Stange als Hindernis nicht erforderlich. Da dies eine Möglichkeit ist, hat die Flugbahn des Fragments innerhalb des Gebäudes einen grundsätzlich stark eingeschränkten Beweiswert, wenngleich es wahrscheinlicher erscheint, daß tatsächlich die Stange das getroffene Hindernis war.
Das folgende Bild zeigt eine Luftaufnahme der Kreuzung 13. und Locust-Straße (39° 56' 52,5'' N, 75° 09' 44,5'' W). Ein Teil dieser Aufnahme wurde bereits oben zur Bestimmung des Sichtwinkels von Scanlan und Chobert herangezogen.
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Die roten Fahrzeuge stimmen so genau es möglich war mit den Tatortfotos überein. Die Fahrzeuge in Grautönen stammen von der Luftaufnahme. Die Länge der roten Fahrzeuge beträgt mit Ausnahme des Volkswagens ca. 5 Meter (die Vorlage für diese Autos wurde aus dem Originalbild kopiert). Die beiden Fahrzeuge auf dem Parkplatz sind auf einem Tatortfoto zu sehen, wobei die unterschiedliche Lage der Front deutlich erkennbar ist. Mangels eines genauen Meßprotokolls der Polizei oder einer anderen verwertbaren Aufnahme des Tatorts kann man die Lage der Fahrzeuge nur aufgrund von Fotos und den erkennbaren Merkmalen des Luftbildes bestimmen. Die Distanz zwischen dem Heck des Polizeiautos Daniel Faulkners und der Treppe in den Untergrund beträgt laut einem Polizeifoto geschätzte zwei bis drei Meter. Des weiteren kann die Lage des Volkswagens am danebenliegenden Lüftungsgitter im Boden ausgerichtet werden. Die Lage von Polizeiauto und Volkswagen relativ zur Eingangstür in Gebäudemitte ist ebenfalls bekannt. Das Lüftungsgitter auf der gegenüberliegenden Straße dient als vierter Orientierungspunkt. Die Ausrichtung der Fahrzeuge in der folgenden Skizze stimmt mit diesen vier Punkten überein. Die Unsicherheit der Position des Volkswagens ist geringer als ein halber Meter, die des Polizeiautos etwa gleich groß oder geringfügig größer. Die Lage des Taxis von Abu-Jamal entspricht der Zeugenaussage des Polizisten William Thomas, wonach es unmittelbar nördlich der Locust-Straße stand.
Um zu beweisen, daß die ersten Schüsse nicht von der Straße und damit nicht von Mumia Abu-Jamal abgefeuert werden konnten, muß eine mehrteilige Schlußfolgerung plausibel gemacht werden. Es reicht nicht aus, wenn ein solches alternatives Szenario möglich erscheint. Um als Beweis für Abu-Jamals Unschuld gelten zu können, muß es so zwingend sein, daß jede andere Möglichkeit unwahrscheinlich wird.
Eine derartige Beweisführung muß einige Punkte enthalten:
- Der von Mumia Abu-Jamal eingeschlagene Weg muß logisch erscheinen.
- Der Weg muß vom Taxi Abu-Jamals ausgehen, da er dies in seiner eidesstattlichen Erklärung behauptet hat.
- Der Weg muß über den Parkplatz führen, da die Zeugenaussagen in diesem Punkt eindeutig waren.
- Der Weg muß in spitzem Winkel zur Locust-Straße verlaufen. Nur dann ist es unwahrscheinlich, daß Abu-Jamal die ersten Schüsse abgegeben hat. Der Grund dafür ist die daraufhin erforderliche starke Ablenkung der Fragmente von der ursprünglichen Flugbahn, welche unwahrscheinlich ist.
Schiffmanns Skizze (englische Version) zeigt einen solchen scheinbar logischen Weg der alle Forderungen erfüllt. In der folgenden Luftaufnahme habe ich die entsprechenden Symbole aus Schiffmanns Skizze in Grün über die Luftaufnahme gelegt. Die grünen Markierungen wurden so plaziert, daß die Größe des Parkplatzes mit dem Foto übereinstimmt. Die baulichen Gegebenheiten wie die Gehsteigränder und die Lage der Abgänge in den Untergrund stimmen ziemlich gut mit dem Luftbild überein. Offensichtlich basiert die Abbildung auf einer maßstabgetreuen Vorlage. Bei genauerem Hinsehen fällt die stark verzerrte Darstellung der übrigen Teile dieser Skizze auf. Sie erscheint durchaus brauchbar, wenn die Situation am Tatort in Form eines schematischen Überblicks gezeigt werden soll. Es ist jedoch schlicht unmöglich, daraus auf einen Winkel schließen zu wollen. Die Lage der Autos ist so weit verfälscht, daß die gesamte Skizze die Situation am Tatort falsch darstellt und zu falschen Schlußfolgerungen führt.
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Die schräge grüne Linie ist der angeblich von Mumia Abu-Jamal eingeschlagene Weg. Die beiden hellroten Linien geben den dafür möglichen Bereich laut meiner Skizze an. Der Unterschied ist auffällig.
Die grüne Linie erfüllt zwar rein formal alle erforderlichen Kriterien, läßt sich aber nicht mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Anfangs- und Endpunkt hängen von verschiedenen Kriterien ab, für die es jeweils einen begrenzten Spielraum gibt. In dieser Skizze wurden jedoch mehrere dieser Kriterien so weit verzerrt, bis das Endergebnis der Wirklichkeit nicht mehr entsprach. Die offensichtlichen Fehler in dieser verzerrten Skizze sind folgende:
- Laut Aussage des Polizisten William Thomas stand das Taxi Abu-Jamals unmittelbar nördlich der Locust-Straße (hier in Rot knapp nach dem Zebrastreifen). In der verzerrten Skizze (in Grün) ist es mehr als 8 Meter davon entfernt.
- In der verzerrten Skizze beginnt der Weg Mumia Abu-Jamals an der Beifahrertür. Die Richtung des Taxis ist durch die Richtung der Einbahn ausreichend belegt. Darüber hinaus behauptet Abu-Jamal in seiner eidesstattlichen Erklärung, er hätte den Tatort im Rückspiegel gesehen (dazu später mehr). Abu-Jamal mußte daher zunächst um das Auto herumgehen. Nach aller Wahrscheinlichkeit wäre er nach hinten gegangen. Nach vorne hätte er sich zunächst von seinem Ziel entfernt und hätte zusätzlich um die Tür herumgehen müssen. Wenn Abu-Jamal in Bezug auf sein Taxi nach hinten gegangen ist, müßte man das Taxi aber noch weiter von der tatsächlichen Position entfernen (um ca. vier Meter), um die grün eingezeichnete Gehrichtung zu erhalten.
- In der verzerrten Skizze läuft Abu-Jamal schräg über die Ecke des Parkplatzes. Laut Tatortfotos standen dort aber zumindest zwei Fahrzeuge. Wenn der Weg links um diese Autos herumführt, wäre er relativ zur Locust-Straße deutlich steiler geworden (was die Beweisführung behindern würde), oder der Weg hätte am Parkplatz vorbeigeführt (was mir logischer erscheint, aber gleichzeitig die Beweisführung vollständig zerstören würde).
Dieser eine Punkt könnte auch im Sinne Abu-Jamals interpretiert werden, hat daher also nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Das besagte Foto wurde erst aufgenommen, nachdem Daniel Faulkners Fahrzeug nicht mehr am Tatort war. Es war aber noch immer dunkel, der Parkplatz war aus diesem Blickwinkel gesehen ansonsten noch leer und die Gebäude waren noch unbeleuchtet. Die Wahrscheinlichkeit, daß zu irgendeinem so frühen Zeitpunkt am Morgen nach vier Uhr zwei Fahrzeuge in der Ecke des Parkplatzes abgestellt wurden, ist denkbar gering. Außerdem ist der Umriß eines an der Ecke geparkten Fahrzeugs auch am Rand des Fotos erkennbar, welches die angebliche Abwesenheit Robert Choberts beweisen soll. Daher halte ich es für unwahrscheinlich, daß diese beiden Fahrzeuge erst nach der Tat dort abgestellt worden sein sollen.
- In der verzerrten Skizze liegt der Endpunkt des Weges ungefähr in Straßenmitte. Wenn jedoch ein Mensch auf ein Ziel zuläuft, wird er zunächst dieses Ziel ins Auge fassen und möglichst geradlinig darauf zusteuern. Dies ist auch die grundsätzliche Voraussetzung der Skizze, da die Gehrichtung auch die Richtung eines eventuellen Schusses sein soll. In der verzerrten Skizze liegt die Kühlerhaube des Polizeiautos und somit auch Daniel Faulkner und William Cook deutlich rechts von Mumia Abu-Jamals Weg. Es wäre für ihn unsinnig gewesen in diese Richtung zu laufen. Ironischerweise endet der angebliche Weg Abu-Jamals so weit von Daniel Faulkner entfernt, daß er bei einem Schuß aus dieser Position im rechten Winkel zur Gebäudefront geschossen hätte. Damit wäre die Verbindungslinie von Abu-Jamal zur Stange wesentlich steiler gewesen.
- Seltsamerweise plaziert der Autor den Anfang der Schießerei zwischen Polizeiauto und Volkswagen, obwohl William Cook in seiner Erklärung behauptet hat, all dies hätte sich vor dem Volkswagen ereignet. Anscheinend war diese Erklärung für Schiffmann nicht glaubwürdig.
- In der verzerrten Skizze wurden die Fahrzeuge an der Südseite der Locust-Straße zu weit östlich (rechts) plaziert. Wie bereits erwähnt, ist der Fehler in der Positionierung des roten Symbols für den Volkswagen nicht größer als ein halber Meter. Die Fahrzeuge in der verzerrten Skizze befinden sich um mehr als eine halbe Autolänge (drei bis vier Meter) zu weit östlich.
In der verzerrten Skizze wurde Michael Scanlans Auto ungefähr in Straßenmitte eingezeichnet, was durchaus der Wirklichkeit entsprechen kann. Um jedoch Scanlans Zeugenaussage als unmöglich zu beschreiben, wurde behauptet er hätte sich links eingereiht. Offensichtlich hat der Autor diesen Umstand bei der Anfertigung der verzerrten Skizze übersehen.
Die als „bester Weg“ markierte Linie zeigt den Weg den Mumia Abu-Jamal vom Auto aus am wahrscheinlichsten genommen hätte. Dieser Weg führt jedoch am Parkplatz vorbei und kann daher nicht in Frage kommen. Wie läßt sich dieser Widerspruch aufklären? Eigentlich ganz einfach. Mumia Abu-Jamal saß zum fraglichen Zeitpunkt nicht in seinem Taxi! Indirekt bestätigt er dies selbst. In den Absätzen 11 bis 14 seiner eidesstattlichen Erklärung beschreibt er wie er zweimal hintereinander die Gegend im Rückspiegel abgesucht hat. Zunächst hörte er lautes Schreien und sah das Polizeiauto im Rückspiegel. Etwas später hörte er Schüsse und sah durch den Rückspiegel wie Leute auf der Locust-Straße hin- und herliefen. Bei genauerem Hinsehen bemerkt er seinen Bruder. Der genaue Wortlaut läßt Raum für Diskussionen, er will aber eindeutig das Polizeiauto im Rückspiegel gesehen haben, mit ziemlicher Sicherheit auch seinen Bruder. Ein Blick auf die Skizze verrät jedoch, daß der Tatort nicht im Blickfeld seines Rückspiegels war. Der Rückspiegel deckt nur das Heckfenster ab, und es erfordert bereits beträchtliche Verrenkungen um das hintere Seitenfenster zu sehen. Das hätte aber noch immer nicht ausgereicht. Abu-Jamal scheint dies nach beinahe zwanzig Jahren ohne Auto übersehen zu haben. Andererseits konnte er auch nicht zugeben, daß er am Parkplatz stand. Er mußte sich selbst in einer Situation darstellen, in der er behaupten konnte nichts vom Geschehen bemerkt zu haben. Dafür war das Taxi sehr viel besser geeignet als der Parkplatz.
Addendum (September 2007)
Eine kurze Pressemeldung im Philadelphia Inquirer vom 12.12.1981 deutet ebenfalls darauf hin, daß Abu-Jamal nicht in seinem Taxi saß. Unter der Überschrift „Ballistics tests on bullets prove inconclusive“ war folgende Meldung zu finden:
Jamal apparently had been driving a United Cab whose tire had gone flat nearby, according to police.
In diesem Fall hätte es für ihn keinen Grund gegeben in einem nicht fahrbereiten Auto zu sitzen.
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