Was spricht gegen den offiziellen Tatablauf?
Die wichtigsten Argumente gegen die offizielle Beschreibung sind die medizinischen Befunde. Zunächst einmal ist der Verlauf des Schußkanals durch Abu-Jamals Brust, welcher knapp unterhalb der Brustwarze beginnt, deutlich von oben nach unten geneigt. Mangels Austrittswunde wurde er niemals genau vermessen. Die Angaben des behandelnden Arztes lassen auf eine Neigung von 20 - 30 Grad schließen. Der Gerichtsmediziner Dr. Hayes schätzte die Neigung des Oberkörpers etwas größer auf 30 bis 40 Grad.
Die Schußwunde in Daniel Faulkners Rücken begann 28 cm unterhalb des obersten Punktes des Kopfes und verlief unter 33 Grad von unten nach oben. Die dazu gehörende Einschußöffnung in der Jacke befand sich 19 cm unterhalb des Kragensaums. Zwei weitere Schußöffnungen im Schulterbereich des Kragens stammen von einer einzigen Kugel die von vorne kommend die Jacke durchschlug, Daniel Faulkner aber nicht verletzte.
Die beiden Schußkanäle sind geeignet jeweils eine Behauptung gut begründet zu bezweifeln oder zu widerlegen. Der von oben nach unten verlaufende Kanal durch Abu-Jamals Brust zeigt, daß er während des Treffers nach vorne gebeugt war. Gleichzeitig muß Daniel Faulkner aufrecht oder noch annähernd aufrecht gestanden sein. Seine Position muß aber nicht erhöht gewesen sein. Mit Sicherheit ist es nicht möglich, daß er im Liegen geschossen hat. Dieser Winkel wäre aus dem Liegen heraus niemals zustande gekommen. Der nach vorne geneigte Oberkörper deutet an, daß Abu-Jamal zu diesem Zeitpunkt noch gelaufen ist.
Daniel Faulkners Verletzung im Rücken verläuft von unten nach oben und läßt sich mit der offiziellen Darstellung kaum erklären. Wieso sollte er so weit nach vorne gebeugt gewesen sein, als er neben William Cook stand? Er hatte gerade eine Konfrontation mit diesem hinter sich und hätte sich in gebückter Haltung in einer schwierigeren Lage befunden, falls ihn dieser erneut angegriffen hätte. Die Einschußöffnung in der Jacke zeigt, daß der Kragensaum ungefähr bis zur Kopfmitte nach oben gerutscht ist. Er muß den Oberkörper und die Arme heftig bewegt haben um die Jacke soweit nach oben zu schieben. Dieser Treffer kam zustande als er sich bewegte und dabei nach vorne gebeugt war.
Dieser Treffer in den Rücken läßt sich auf zwei Arten erklären. Die erste Erklärung stimmt mit der Auslegung der Staatsanwaltschaft überein. Daniel Faulkner wurde am Beginn des Schußwechsels vom heranlaufenden Abu-Jamal getroffen. Zu diesem Zeitpunkt muß sein Arm noch erhoben gewesen sein, um die Lage des Jackenkragens zu erklären. Gleichzeitig müßte er auch nach vorn gebeugt gewesen sein. Vielleicht war seine Auseinandersetzung mit William Cook noch nicht zu Ende. Nach dem Treffer drehte er sich um, schoß zurück und lief anschließend zum Gehsteig. Irgendwo auf diesem Weg stolperte er (er hatte eine Verletzung am linken Knie) und verlor seine Waffe. Später wurde diese im Bereich des Volkswagens auf der Straße unmittelbar neben der Gehsteigkante gefunden. Abu-Jamal holte ihn ein, und beide bewegten sich noch einige Meter Richtung Gebäudefront, wo Faulkner endgültig zu Boden stürzte. Bevor er von Abu-Jamal eingeholt wurde muß dieser mindestens einen weiteren Schuß abgegeben habe. Abgesehen von der für dieses Szenario erforderlichen ungewöhnlichen Stellung Daniel Faulkners weist dieser Erklärungsversuch ein zeitliches Problem auf. Die Aussagen der Ballistikexperten belegen, daß die Mündung von Faulkners Waffe nur 30 cm vom Ziel entfernt war, während Abu-Jamals Waffe in einer Entfernung von 30 bis 45 cm abgefeuert wurde. Sogar unter Berücksichtigung weiterer Ungenauigkeiten beträgt der Unterschied der Entfernungen nicht mehr als 10 oder 20 cm. Abu-Jamals Verletzung zeigt aber, daß er zu diesem Zeitpunkt noch immer gelaufen ist. Für einen laufenden Mann entspricht diese Entfernung nur einigen hundertstel Sekunden. Daniel Faulkner müßte nach dem Treffer den Arm gesenkt, sich umgedreht, dabei die Waffe gezogen und danach geschossen haben. Dafür hatte er nicht genügend Zeit. Er muß die Waffe bereits gezogen haben, bevor er in den Rücken getroffen wurde.
In der zweiten möglichen Erklärung erhielt er den Treffer erst später. Er schoß auf den heranlaufenden Abu-Jamal und rannte danach Richtung Gehsteig. Die Jacke rutschte durch eine heftige Bewegung mit dem Oberkörper und den Armen nach oben. Zu diesem Zeitpunkt erhielt er den Treffer in den Rücken, stolperte und verlor seine Waffe. Dabei muß der Treffer nicht die Ursache für sein Stolpern gewesen sein. Vor diesem Treffer hat Abu-Jamal mindestens einen weiteren Schuß abgegeben. Anschließend bewegten sich beide zur Gebäudefront. Selbstverständlich könnten die beiden Kontrahenten auch während des von Harkins beschrieben Gerangels in eine Situation gelangt sein, in der Abu-Jamal dem Polizisten in den Rücken geschossen hat.
Mir erscheint die zweite Erklärung wahrscheinlicher. Sie stellt auch das Äußerste dar, was man zugunsten von Mumia Abu-Jamal sagen kann. Deshalb möchte ich für alle weiteren Erklärungen von dieser Variante ausgehen, wenngleich auch dies nur eine von vielen möglichen Erklärungen ist. Niemand weiß was wirklich geschehen ist und keine noch so genaue Untersuchung kann ein eindeutiges Ergebnis liefern.
Auch dieser Erklärungsversuch ist kein Widerspruch zu den Zeugenaussagen. Er beinhaltet mindestens drei Schüsse am Anfang der Schießerei. Magilton berichtete von drei in rascher Folge abgegebenen Schüsse. Cynthia Whites Aussage war bezüglich dieses Details anfangs unklar. Während der Verhandlung erklärte sie, Abu-Jamal hätte zunächst zweimal geschossen. Scanlan hörte zwei Schüsse mit einem kleinen zeitlichen Intervall. Scanlans Position war aber deutlich ungünstiger. Er befand sich im Inneren eines Fahrzeugs und laut seiner Aussage während der Verhandlung gegen William Cook war das Radio an. Auch die gefundenen Projektile belegen für diesen Abschnitt der Tat mindestens zwei Schüsse Abu-Jamals.
Die Bewertung des Verhaltens Daniel Faulkners - Angriff oder Selbstverteidigung - hängt von der Situation ab in der er sich befand. Dazu müssen wir klären, zu welchem Zeitpunkt Abu-Jamal seine Waffe gezogen hat. Lief er mit der Waffe in der Hand über die Straße oder hat er sie erst gezogen nachdem er selbst getroffen wurde? Es gibt überzeugende Argumente dafür, daß er sie schon vorher in der Hand hatte. Scanlan sah die erhobene Hand Abu-Jamals bevor er den ersten Schuß hörte. Cynthia White sagte bereits in ihrer ersten Stellungnahme gegenüber der Polizei, Abu-Jamal hätte eine Waffe in der Hand gehabt als er aus dem Parkplatz herauslief. Wiederum besteht ein zeitliches Problem. Wie auch Schiffmann erklärt, war es eine kalte Dezembernacht und Abu-Jamals Jacke war geschlossen. Die Schußöffnung in seiner Jacke stimmt mit der Lage der Entrittswunde überein, was nur bei geschlossener Jacke der Fall sein kann. Er benötigte eine gewisse Zeit um seine Waffe zu ziehen. Für diesen einen Punkt kann sogar Daniel Faulkner als Zeuge angeführt werden. Sein Verhalten läßt eine klare Schlußfolgerung zu. Hätte Abu-Jamal die Waffe nicht in der Hand gehabt, wäre Daniel Faulkner mit gezogener Waffe einem unbewaffneten Mann gegenüber gestanden. Wenn Abu-Jamal in dieser Situation die Waffe gezogen hätte, wäre Faulkner klar im Vorteil gewesen und hätte sicherlich ein zweites Mal geschossen. Statt dessen hat er sich aber umgedreht und ist zum Gehsteig gelaufen. Er hätte keinen Grund gehabt, vor einem unbewaffneten Mann zu flüchten oder Deckung zu suchen. Außerdem würde jeder vernünftige und unbewaffnete Mann die Arme heben, wenn er in den Lauf einer Polizeiwaffe blickt. Dann hätte es für Daniel Faulkner auch keinen Grund gegeben sich unmittelbar bedroht zu fühlen. Man kann auch nicht sagen, daß Faulkner einfach etwas Abstand zwischen sich und die Brüder bringen wollte. Dann wäre er zwar auch einige Schritte zurück gegangen, hätte die beiden aber nicht aus den Augen gelassen, ihnen also keinesfalls den Rücken zugedreht. Deshalb zeigt das Verhalten des Polizisten klar und deutlich, daß Mumia Abu-Jamal die Waffe bereits in der Hand hatte als Faulkner schoß.
Wer von den beiden hat zuerst geschossen? Mit großer Wahrscheinlichkeit war es Abu-Jamal. Wir wissen nur mit Sicherheit, daß Abu-Jamal von der Straße aus mindestens einmal daneben geschossen hat und zwar bevor er Daniel Faulkner getroffen hat. Sein Schuß in Faulkners Rücken wurde aus nächster Nähe abgegeben. Es erscheint unglaubwürdig, daß er den Fehlschuß der in der Leibung der Eingangstür von Locust 1234 endete danach abgegeben haben soll. Als er selbst getroffen wurde, war er nur 30 bis 45 cm von Daniel Faulkners Mündung entfernt. Hätte er erst danach geschossen, wäre er noch näher an Daniel Faulkner gewesen und hätte wohl kaum daneben geschossen. Deshalb glaube ich, Abu-Jamal hat zuerst aus größerer Entfernung geschossen, Faulkner aber nicht getroffen. Dies ist aber nur eine Vermutung. Auch der Durchschuß durch Daniel Faulkners Jackenkragen bleibt unerklärt. Die fehlenden Bleiverbindungen aus einer Zündkapsel zeigen, daß die Entfernung der Mündung um einen unbestimmten Betrag größer als 30 bis 45 cm war. Er könnte durch das Projektil neben der Tür entstanden sein. Wiederum gibt es unzählige Möglichkeiten für den genauen Ablauf. Wir wissen nur mit Sicherheit, daß Abu-Jamal seine Waffe in der Hand hielt bevor Daniel Faulkner geschossen hat. Vielleicht lief er mit der Waffe in der Hand über die Straße und Daniel Faulkner schoß daraufhin zuerst. Vielleicht eröffnete er das Feuer, verfehlte den Polizisten und dieser schoß zurück. Selbst wenn Daniel Faulkner den ersten Schuß abgegeben hat, kann man ihn nicht als Angreifer bezeichnen. Jeder, der einen Mann mit gezogener Waffe auf sich zulaufen sieht, hat das Recht sich bedroht zu fühlen und entsprechend darauf zu reagieren.
Noch weniger kann man die Tat als etwas anderes als Mord darstellen. Spätestens nachdem sich Faulkner umgedreht und anschließend seine Waffe verloren hat, war er mehr keine Bedrohung. Als er einige Sekunden später wehrlos am Rücken lag, gab es auch mehr keinen Raum für Mißverständnisse. Abu-Jamal konnte den liegenden Polizisten deutlich sehen. Er hatte mehr keinen Grund sich bedroht zu fühlen. Trotzdem schoß er aus nächster Nähe mindestens zweimal auf Daniel Faulkner. Wer so etwas tut möchte töten.
Obwohl also meine eigene Version signifikant von der scheinbaren Auslegung durch die Staatsanwaltschaft abweicht, ist mein Urteil dasselbe. Wiederum kommen die stets zu berücksichtigenden Ungewißheiten ins Spiel. Die Staatsanwaltschaft konnte nachweisen, daß Abu-Jamal mit der Waffe in der Hand über die Straße rannte, schoß und später den am Boden liegenden und unbewaffneten Faulkner erschoß. Dazwischen wurde er selbst angeschossen. Im Grunde halte ich dasselbe für erwiesen. Die Staatsanwaltschaft hat sich auf keine Spekulationen über Details eingelassen. Sie deutete nur mit Cynthia Whites Aussage an, Faulkner hätte nach irgend etwas an seiner Seite gegriffen. Ansonsten hat Joseph McGill nicht versucht ein genaues Szenario zu erstellen, da ein solches Vorgehen riskant war und für eine Verurteilung auch nicht benötigt wurde. Ich weiß nicht, was zwischen dem ersten und dem letzten Schuß vorgefallen ist, wenngleich ich eine fundierte Vermutung habe. Für ein Urteil ist es aber nicht erforderlich die gesamten Ereignisse mit filmischer Genauigkeit zu kennen. Das was wir wissen und was die Staatsanwaltschaft vorgetragen hat reicht für ein Urteil aus.
Hätte sich Daniel Faulkner nicht umgedreht, sondern zweimal geschossen, könnte er noch am Leben sein. Hätte er seine Waffe auf Abu-Jamal entleert, wäre er mit großer Wahrscheinlichkeit noch am Leben. Er starb, weil er nicht versuchte den Angreifer zu töten! Das ist die echte Ironie an seinem Tod. So erfindungsreich Schiffmann beim Manipulieren von Skizzen, beim Ignorieren von Beweisen und beim selektiven Zitieren von Aussagen auch sein mag, kann er dies nicht wegerklären. Statt dessen zieht er es vor einen Polizisten mit einwandfreiem Leumund für seinen eigenen Tod verantwortlich zu machen, da dieser „... nicht in Ausübung seines Dienstes erschossen wurde, sondern während der Ausführung eines gewöhnlichen Aktes von Polizeibrutalität“ (Schiffmann in einem Text über William Cook).
Die Unstimmigkeiten in der Beschreibung des Tathergangs wurde von Schiffmann auch noch zur Behauptung genutzt, in Wirklichkeit hätte Daniel Faulkner angegriffen, und schon deshalb müßte die Mordanklage fallengelassen werden. Selbst dann, wenn entgegen all den von Schiffmann so sorgfältig konstruierten Beweisen tatsächlich Abu-Jamal den tödlichen Schuß abgefeuert hat, wäre es durch diesen Umstand Notwehr gewesen. Nein, ich habe das nicht erfunden um seinen Ruf zu schädigen. Er hat diese Behauptung tatsächlich aufgestellt. Er hat sie in Form eines Zirkelschlusses ausgeführt. Er kam zum Schluß, daß Freeman der Täter war und Abu-Jamal daher unbegründet angeschossen wurde. Sollte doch Abu-Jamal den tödlichen Schuß abgegeben haben, wäre es Notwehr gewesen, da er in diesem anderen Szenario bereits unbegründet angegriffen wurde. Sollten vielleicht die ersten Schüsse von Freeman und die letzten Schüsse von Abu-Jamal stammen? Sogar wenn man Schiffmann bis zu diesem Punkt folgt, läßt sich Notwehr nicht begründen. Daniel Faulkner hat seine Waffe spätestens dann verloren, als er am Gehsteig ankam. Als er mehrere Meter davon entfernt wehrlos am Boden lag, befand sich Abu-Jamal in keiner Notwehrsituation. Der tödliche Schuß ließe sich nur noch als Rache für die vorangegangene Verletzung deuten. Dies erfüllt kaum die Bedingungen für Totschlag und erst recht nicht für Notwehr. Es Notwehr zu nennen ist krank. Der Leser sollte in Wettlauf gegen den Tod nicht nach Logik suchen - er wird keine finden. Der Satz mit dem Begriff Notwehr findet sich nur in der englischen nicht aber der deutschen Version. Wieso es diesen kleinen aber feinen Unterschied gibt ist mir ein Rätsel.
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