In den späteren Verhandlungen in den Jahren 1995-97 brachte die Verteidigung zahlreiche weitere Zeugen in den Zeugenstand. Zumeist sollten diese Zeugen die Glaubwürdigkeit der Zeugen der Anklage untergraben. Des weiteren wurden Anthony Jackson und Jeremy Gelb befragt, um den Vorwurf des unzureichenden Rechtsbeistandes zu beweisen. (Zeugen die als Experten aussagten, werden in den entsprechenden Kapiteln behandelt.)
Anthony Jackson und Jeremy Gelb wurden befragt, um den unzureichenden Rechtsbeistand während des Verfahrens und der Berufungsverhandlungen vor den staatlichen Gerichten Pennsylvanias bis 1989 zu beweisen. Die Befragung Anthony Jacksons dauerte drei Tage[1] und war an einigen Stellen sehr emotional. Einmal wurde sogar die Befragung unterbrochen, um ihm Gelegenheit zu geben sich zu erholen. Anthony Jackson nahm in großen Teilen der Befragung die Schuld für die mangelhafte Verteidigung auf sich, konnte aber von Staatsanwalt Charles Grant häufig mit Fragen konfrontiert werden, die seiner Darstellung zuwider liefen. Die für den Staatsanwalt wichtigste Frage war, ob wirklich Anthony Jackson die erfolglose Strategie der Verteidigung zu verantworten hatte, oder ob Mumia Abu-Jamal dafür verantwortlich war. Die Tatsache, daß Anwalt Jackson während der Verhandlung von 1982 mehrmals Anträge im Auftrag seines Anwalts stellte, dieser also an den Entscheidungen maßgeblich mitwirkte, ließ Jacksons Aussagen im Zeugenstand zweifelhaft erscheinen.
Jeremy Gelb,[2] der Sohn und Mitarbeiter von Marilyn Gelb welche Abu-Jamals Berufungen bis 1989 leitete, konnte die Fragen nur sehr unzureichend beantworten. Da nicht er, sondern seine Mutter für die Berufungen verantwortlich war, hatte er zu vielen Details keine ausreichenden Informationen. Ob der rechtliche Beistand während der Berufungsverhandlungen ausreichend war, konnte durch diese Befragung nicht geklärt werden. Marilyn Gelb stand wegen ihres gesundheitlichen Zustands für die Befragung nicht zur Verfügung.
Lydia Wallace[3] ist die ältere (und einzige) Schwester Mumia Abu-Jamals. Sie wurde als eine von mehreren Leumundszeugen befragt und sagte sehr viel über das Verhältnis zwischen Abu-Jamal und seinem jüngeren Bruder William Cook aus. Ihre Befragung war ein gutes Beispiel dafür, wie Anthony Jackson schon 1982 Sympathien für seinen Mandanten gewinnen hätte können, und sie erklärte auch, daß sie bereit und in der Lage gewesen wäre für ihren Bruder auszusagen.
Das Familienleben während ihrer Kindheit beschrieb sie als strikt. Ihre Mutter war eine strenge Baptistin. Abu-Jamal war ein idealistischer Jugendlicher, dessen Hauptinteresse das Wohlergehen anderer in ihrer Gemeinde war. Außerdem verhielt er sich gegenüber William Cook, seinem jüngeren Bruder, und noch mehr gegenüber seinem Zwillingsbruder Wayne sehr beschützerisch.
Weitere Leumundszeugen[4] waren David P. Richardson, Jr. (Abgeordneter des Repräsentantenhauses von Pennsylvania), E. Steven Collins (ein früherer Kollege Abu-Jamals mit dem er nur Stunden vor dem Mord zu Abend gegessen hatte), Kenneth Hamilton, Jr. (ein Lehrer Abu-Jamals) und Ruth Dorothea Ballard (eine Nachbarin Abu-Jamals). David P. Richardson sagte bereits in einer Vorverhandlung vor dem Prozeß von 1982 zugunsten von Mumia Abu-Jamal aus, als dieser erfolglos eine Verringerung seiner Kaution beantragte. Alle Leumundszeugen sagten zum guten und friedfertigen Charakter Mumia Abu-Jamals aus. Auch wären alle Zeugen bereits 1982 willens und in der Lage gewesen vor Gericht zu erscheinen, wurden aber von Anthony Jackson nicht kontaktiert.
Robert Greer[5] arbeitet 1982 als Ermittler für Anthony Jackson. Sein größtes Problem während der Ermittlungen war die Bezahlung für seine Tätigkeit. Insgesamt verrechnete er 562,50 Dollar für 22,5 Stunden Arbeit, behauptete aber, zwei- bis dreimal so viele Stunden in den Fall investiert zu haben. Seine Ausbeute war insgesamt gering. Er konnte lediglich das Ergebnis von zwei Zeugenbefragungen liefern (Dessie Hightower und Robert Pickford). Obwohl die Prozeßakten zeigten, daß er auch mit Deborah Kordansky gesprochen hat, konnte er sich 13 Jahre später an diese Frau nicht mehr erinnern. Er berichtete auch davon, daß er mindestens dreimal versucht hat mit Cynthia White zu sprechen. Jedesmal wenn er sie in der Nähe der Locust-Straße sah, stand jedoch ein Auto mit zwei Insassen direkt neben ihr. Er vermutete es handle sich dabei um Polizisten in Zivil und hat es daraufhin unterlassen mit Cynthia White zu sprechen. Er konnte aber außer seiner Vermutung kein Indiz dafür anführen, daß es sich wirklich um Polizisten handelte. Einen weiteren beträchtlichen Anteil der von ihm geleisteten Arbeitszeit verwendete er dafür, nach einer bestimmten Person zu suchen, die in einer Zeugenaussage beschrieben wurde. Er kannte aus persönlicher Erfahrung einen Straßenprediger, der etwa 1,85-1,88m groß und 100kg schwer war. Dieser Mann war vor dem Mord an Daniel Faulkner häufig in der Gegend des späteren Tatorts zu sehen. Robert Greer konnte ihn danach bis 1995 nie wieder entdecken.
Arnold Howard[6] sagte im Jahre 1995 für die Verteidigung aus. Er wurde wenige Stunden nach der Tat von der Polizei befragt, weil sein Führerschein in der Hand von Daniel Faulkner gefunden wurde.[7] Er erklärte, diesen habe er einem Kenneth „Poppy“ Freeman geborgt. Freeman war ein Freund von William Cook und hat gemeinsam mit diesem einen kleinen Verkaufsladen betrieben. Als er im Polizeigebäude in der Abteilung für Tötungsdelikte war, sah er auch Kenneth Freeman. Später stand er gemeinsam mit Freeman und anderen in einer Reihe zwecks Identifizierung, aus der Freeman von Cynthia White als Täter erkannt worden sein soll. Er behauptete auch, daß der Polizeibericht den er unterschrieben hat nicht richtig sei. Er habe zwar einen Bericht unterschrieben, aber jemand hat nachträglich etwas hinzugefügt und seine Unterschrift auf einer Seite nachgemacht.[8] Danach erzählte er, die Polizei habe ihn 72 Stunden lang festgehalten und ihn von einer zur nächsten Abteilung geschleppt. Erst nach drei Tagen durfte er gehen.
Er hatte jedoch große Probleme zu erklären, wie er von einer Abteilung zur nächsten kam. Er konnte auch nicht plausibel erklären, wann er eine Stellungnahme abgab, wo er geschlafen und gegessen hat und erst recht nicht, wie die Polizisten ausgesehen haben. Von Kenneth Freeman abgesehen sah er niemanden den er kannte. Als er zu seiner schriftlichen Aussage vom 9.12.1981 befragt wurde, erklärte er zwar, die Unterschriften auf den ersten Seiten wären seine, aber die Polizisten hätten andere Dinge in den Bericht geschrieben als er gesagt hat und durchgelesen hat er den Bericht nicht bevor er ihn unterschrieb. Laut Polizeibericht hat er den Führerschein verloren und den Verlust erst am 5.12.1981 bemerkt. In weiterer Folge konnte der Staatsanwalt eine Kopie des Logbuchs der Polizei vorlegen, welche zeigte, daß Arnold Howard nur von 12:30 bis 14:30 im Polizeigebäude war. Arnold Howard bestritt, daß die Unterschrift im Logbuch seine Unterschrift war.
Abgesehen davon, daß seine Aussage aus dem Jahre 1981 von geringer Bedeutung war, da er erwiesenermaßen die Tat nicht beobachtet hat, war seine Zeugenaussage voller Unstimmigkeiten. Wieso sollte die Polizei, selbst wenn sie Mumia Abu-Jamal etwas anhängen wollte, ausgerechnet ihn derartig behandeln? Außerdem hat es die Polizei vehement vermieden, Cynthia White eine Identifizierung im Rahmen einer Gegenüberstellung durchführen zu lassen. Die von Arnold Howard beschriebene Gegenüberstellung würde sogar den Verschwörungstheorien jegliche Grundlage entziehen. Zu diesem Zeitpunkt konnte Mumia Abu-Jamal nicht anwesend gewesen sein, und eine Gegenüberstellung ohne ihn würde bedeuten, daß er damals noch nicht verdächtigt wurde. Weiters waren damals die ersten Zeugenaussagen schon längst fertiggestellt worden. Wenn er in diesem Augenblick nicht einmal verdächtigt wurde, kann man dieses Aussagen aber auch nicht als geplante Verschwörung der Polizei hinstellen, da die behauptete Verschwörung der Polizei schon im den ersten 60 Minuten nach der Tat voll im Gange gewesen sein müßte. Die gesamte Geschichte Arnold Howards war widersprüchlich, unzusammenhängend und vollkommen unglaubwürdig. Auch die Verteidigung hat seine Aussage später nicht mehr verwendet.
Sharon Smith[9] sagte im Jahre 1995 lediglich zu den Geschehnissen unmittelbar nach der Tat aus. Nachdem sie die Schüsse gehört hatte, ging sie zum Fenster und sah wie Mumia Abu-Jamal von Polizisten geschlagen wurde. Ihrer Aussage nach waren die Mißhandlungen so extrem, daß sie sich übergeben mußte. Allerdings widerspricht der medizinische Bericht zu Abu-Jamals Verletzungen ihrer Darstellung.[10] Die Staatsanwältin deutete an, Sharon Smith habe sich übergeben weil sie damals gerade schwanger war.
Pamela Jenkins[11] sagte in der PCRA-Anhörung im Jahre 1997 aus. Sie war eine Prostituierte und eine Informantin der Polizei. Der Polizist Tom Ryan, dessen Informantin sie war, war auch ihr Liebhaber.[12] Sie hat ihn laut ihrer Aussage im Jahre 1981 getroffen, als er sie wegen Schulschwänzens festnahm.[13] Sie behauptete auch, am Samstag nach dem Mord an Daniel Faulkner (12.12.1981) habe Tom Ryan und Inspektor Richard Ryan von ihr verlangt, sie solle eine falsche Zeugenaussage gegen Mumia Abu-Jamal abgeben. Sie kannte Cynthia White als Prostituierte und Informantin der Polizei und hat sie mehrmals getroffen. Ihr Eindruck war, daß Cynthia White etwa 10 Tage nach dem Mord an Daniel Faulkner wegen der Polizei um ihr Leben fürchtete.[14] Danach verschwand Cynthia White, und Pamela Jenkins wurde von Tom Ryan bezahlt, um sie ausfindig zu machen. Erst im Frühjahr 1997 sah sie Cynthia White wieder, wobei diese laut Aussage von Pamela Jenkins aussah, als hätte sie einen Geist gesehen und ohne ein Wort mit ihr zu sprechen in ein Auto mit Tom Ryan und Richard Ryan einstieg.[15]
Ein weiteres Detail von dem sie erzählte betraf ihr eigenes Leben. Zum Zeitpunkt der Anhörung war sie im Gefängnis und erwartete ein Verfahren wegen Diebstahls eines Gemäldes. Sie hatte im Mai 1997 das FBI selbst zum Haus gebracht, in dem das Gemälde versteckt wurde.[16] Am 5. Juni 1997 wurde sie wegen dieses Diebstahl anklagt. Sie hatte zuvor den Eindruck, aufgrund ihrer Kooperation mit dem FBI würde ihr nichts geschehen. Die Anklageerhebung erfolgte nur eine Woche nachdem der Oberste Gerichtshof Pennsylvanias angeordnet hat, daß sie für Mumia Abu-Jamal aussagen darf. Deshalb empfand sie die Anklageerhebung als Schikane der Polizei.
Im Jahre 1994 sagte Pamela Jenkins als Zeugin der Anklage gegen mehrere Polizisten aus Philadelphia aus. Tom Ryan war einer dieser Polizisten, und, nachdem er bereit war mit der Anklagebehörde zusammenzuarbeiten, erhielt er 10 Monate Haft. Ein anderer Polizist namens Baird versteckte Pamela Jenkins in einem Motel, während das FBI nach ihr als Zeugin suchte. Baird erhielt später 13 Jahre Haft. Dies nahm Leonard Weinglass zum Anlaß, die Polizei von Philadelphia zu bezichtigen, Cynthia White vor Abu-Jamals Verteidigern zu verstecken.
Die Staatsanwältin konnte einige wesentliche Schwachstellen in Pamela Jenkins Geschichte ausmachen. Die Anklage wegen des Diebstahls eines Gemäldes war zumindest juristisch gesehen keine Schikane, da die Vorwürfe rechtmäßig erhoben wurden. Weiters war sich Pamela Jenkins vollkommen sicher, daß sie zum ersten Mal mit Tom Ryan zusammentraf, als sie noch die Simon-Gratz-Schule besuchte. Laut den Unterlagen des Schulbezirks Philadelphia besuchte sie diese Schule zwischen 19.1.1982 und 6.12.1982.[17] Sie konnte mit Tom Ryan also erst ein Jahr später als angegeben zusammengetroffen sein, und ihre Unterhaltung mit Cynthia White kurz nach dem Mord an Daniel Faulkner war aus diesem Grund nicht möglich. Im Jahre 1981 besuchte sie eine Schule in Beeber. Dort begann sie am 2.4.1981 und wurde ab 6.5.1981 als Ausreißerin geführt. Die Personalakten der Polizei zeigten, daß Thomas Ryan seine Ausbildung an der Polizeiakademie erst am 17.8.1981 begann und am 21.12.1981 abschloß. Erst nach seinem Abschluß wurde er zum uniformierten Polizeibeamten. Weiters konnte Thomas Clarkson, ein Kollege von Thomas Ryan, einen Bericht über eine Festnahme vorlegen. Dieser Bericht besagte, daß Pamela Jenkins von ihm und Thomas Ryan am 10.6.1982 im Pulaski und Hunting Park festgenommen wurde, den auch Pamela Jenkins als Ort der Festnahme beschrieben hatte. Die Suche nach einer Aufzeichnung über eine Festnahme war aber auf Jänner bis Juni 1982 beschränkt. Wenngleich das vorgelegte Material schlüssig erschien, kann trotzdem nicht ausgeschlossen werden, daß Pamela Jenkins schon 1981 von der Polizei aufgegriffen wurde.
Schließlich erklärte auch Thomas Ryan, daß er sie zum ersten Mal am 10.6.1982 getroffen hat. Seine Aussage stand im Widerspruch zu einer früheren Aussage, die er während eines anderen Verfahrens gemacht hatte. Dort sagte er aus, daß er sie vor dem September 1986 bereits seit fünf Jahren, also seit 1981 gekannt hat. Auch erklärte er bei anderer Gelegenheit, er hätte Pamela Jenkins gekannt, seit sie 15 war, das heißt ebenfalls seit 1981. Die Befragung von Thomas Ryan war verwirrend. Die Staatsanwältin und der Richter unterbrachen Leonard Weinglass immer wieder und der Zeuge hatte in vielen Fällen ein schlechtes Gedächtnis.
Die Aussage Pamela Jenkins, sie hätte Cynthia White am 7.3.1997 um etwa 21:30 bis 22:00 in das Auto von Thomas Ryan einsteigen gesehen, konnte dieser sehr glaubwürdig abstreiten. Das von Pamela Jenkins beschriebene Auto hat er bereits 1994 verkauft, und zu dem angegebenen Zeitpunkt befand er sich im offenen Strafvollzug. Dabei mußte er um spätestens 21:00 zurück im Gefängnis sein. Eine Verletzung des Zapfenstreichs hätte unweigerlich rechtliche Folgen gehabt.[18]
Falls man der Staatsanwaltschaft folgt, konnten die Gespräche zwischen Pamela Jenkins und Thomas Ryan beziehungsweise Cynthia White also keinesfalls wie angegeben im Jahre 1981 stattgefunden haben. Die Beweise die dafür sprechen sind ziemlich eindeutig und die verschiedenen Aussagen stimmen auch im Detail überein. Die Verteidigung konnte nur oberflächliche Zweifel erwecken und war nicht in der Lage, die eigene Version in irgendeiner Form zu untermauern.
Andererseits ist dieser Punkt typisch für so viele Streitpunkte in diesem Verfahren. Beide Seiten legen unvollständige Beweise vor. Falls eine Seite gewichtige Beweismittel vorlegen kann (Unterlagen des Schulbezirks und der Festnahmebericht), versucht die andere Seite, deren Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Der beste Weg, die Version der Staatsanwaltschaft eindeutig zu untermauern, wäre eine systematische Untersuchung der Festnahmeberichte aus dem Jahre 1981 gewesen. Eine solche Suche in den archivierten Berichten wäre nicht viel aufwendiger gewesen als die ohnehin schon durchgeführte Untersuchung für das Jahr 1982. Aber dies ist trotzdem nicht geschehen. Die Staatsanwaltschaft sah ihre Behauptungen als bewiesen an und wollte keinen Schritt weiter gehen. Die Verteidigung war mit den vorgebrachten Zweifeln zufrieden und wollte keine endgültige Klarheit schaffen.
Die Staatsanwaltschaft legte auch Unterlagen vor, welche den Tod von Cynthia White im Jahre 1992 belegen sollten. Der Zweck war die Widerlegung der Behauptung Pamela Jenkins’, sie habe Cynthia White 1997 gesehen. Diese Unterlagen wurden bereits im Abschnitt Cynthia White behandelt.