Schwerpunkt
Der Krieg und
seine Folgen
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Fragen
und Mutmaßun-
gen zum Krieg
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Repressions-
karussel dreht sich schneller
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Meinungsma-
che, Manipu-
lation, Mobil-
machung
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Revolutio-
näre Vereinigung der Frauen Afghanistans
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Seit 18.30 Uhr wird
zurückgeschossen
Fragen und Mutmaßungen zu den
Anschlägen von New York und
Washington
Von Achim Guduan
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Am 52. Jahrestag der Gründung der DDR begann ein
neuer, wahrscheinlich erdumfassender Krieg. Für viele scheinen die Hintergründe
dieses Krieges klar zu sein, die Medien sind voll mit Meldungen über
die angeblichen Hintermänner der Attentate vom 11.September, ein "Netzwerk
des Terrors" namens Al Qaida mit seinem Chef Osama Bin Ladin soll verantwortlich
sein für die Anschläge auf Washington und New York, durchgeführt
von "fanatisierten Kämpfern des Islam" im Namen eines geschundenen Palästina
wie aller unterdrückten islamischen Völker. Es lohnt sich sicherlich
nicht, die reißerische Aufmachung von "Bild" oder Sat 1 näherzu
betrachten. Wichtig jedoch ist, die Argumente genau anzuschauen, die zur
Rechtfertigungdieses Krieges benutzt werden. Ebenso ist es notwendig, sich
Gedanken zu machenüber die möglichen Folgen, die dieser Krieg mit
sich bringen kann.
Schon um 15.35 Uhr, zu einer Zeit als die Anschläge in den USA nicht
einmal sechs Stunden vergangen waren, wurde Osama Bin Ladin als möglicher
Drahtzieher der Angriffe benannt. Es waren keine zwölf Stunden vergangen,
da tauchte der Name Mohammed Atta in ersten Pressemitteilungen auf. Im Laufe
der nächsten Stunden wurde der Verdacht gegen den Ägypter durch
neue aufgefundene Erkenntnisse des FBI weiter verstärkt, bis schließlich
eine Gruppe arabischer Personen der Öffentlichkeit präsentiert
wurde, diebinnen weniger Tage zum allseits bekannten "islamistischen Terrornetzwerk"
mutierte mit Kontakten auf jedem Kontinent dieser Welt.
Einen ersten Hinweis auf Atta gab ein am Bostoner Flughafen geparkter, von
ihm gemieteter Wagen, in dem sich in einem Koffer neben einem Koran ein Video
in arabischer Sprache befunden haben soll, das zum Erlernen des Fliegens
von Großraumflugzeugendiene. Diese Meldung wurde an diesem Abend teils
vermischt mit der Nachricht,das Video sei bei der anschließen den Durchsuchung
der Hotelzimmer vonAtta und anderen arabischen Fluggästen gefunden worden.
Nach den Durchsuchungenund der ersten Festnahme eines Verdächtigen wurde
zudem mitgeteilt, dasFBI habe einen Abschiedsbrief Attas gefunden, der damit
nun als Täterso gut wie feststand. Nicht eine Stimme war zu hören,die
fragte, wiees möglich sein könnte, dass bei einem so langeund so
perfekt geplantenVerbrechen ausgerechnet ein Abschiedsbrief in die Hände
der Ermittlerfallen konnte, als würde die dahinter stehende Organisation
trotz allerPerfektion keinen Kurier zulassen, der diese Art Brief persönlich
überbringenkönnte. Völlig fragwürdig wurde die Geschichte
mit dem Autoallerdings nach etwa zwei Wochen, als bekannt wurde, dass sich
mindestenssieben der nun ermittelten "Attentäter" gemeldet haben sollen
und einerzudem eine Klage gegen das FBI angestrengt hat. Nun hieß es,
nicht alleErmittelten seien für die Tat verantwortlich, Atta sei aber
sicher einerder Täter, was nun mit demselben Koffer begründet wurde,
nur dassdieser nun nicht im geparkten Auto gefunden wurde, sondern in der
Gepäckabfertigungdes Flughafens von Boston. Diese auch im "Spiegel"
vom 1.Oktober kolportierteMeldung besagt, dass Atta bei seinem Flug von Maine
nach Boston Verspätunghatte und deswegen sein Koffer nicht mehr umgeladen
werden konnte. Diese Geschichteklingt sicherlich plausibler, was aber ein
Abschiedsbrief und das späterveröffentlichte Testament in einem
in Brand und Rauch aufgehenden Kofferfür Sinn macht, wurde nicht hinterfragt.
Bestehen blieb nach wie vor Attaund sein Maestro Diaboli Bin Ladin.
Da die erste eruierte Gruppe überwiegend in Hamburg lebte, wurde nun
Deutschland zu einem Zentrum der Ermittlungen. Sofort stimmte der Chor der
Zeitungsmacher und Fernsehkommentatoren in das Lied der Bin-Ladin-Connection
in Deutschland ein. Dies änderte sich auch nicht, als Kai Nehm, seines
Zeichens Generalbundesanwalt und also oberster Ermittler in diesem Land,am15.September
unter anderem über Reuters mitteilte, Atta und die übrigen Hamburger
hätten keinerlei Kontakt zu Bin Ladin. Erst mit einer Pressemitteilung
der Bundesanwaltschaft vom 22. September wurde das Gegenteil wieder behauptet,
wobei mit keinem Wort auf den Widerspruch eingegangen wurde, geschweige denn
auf die Gründe für die erste Verlautbarung. Gleiches passiert in
Amerika: Schon am 14. September veröffentlichte das FBI eine Liste mit
18 Personen, die die vier Flugzeuge entführt hätten und in die
Gebäudestürzen ließen. Obwohl FBI-Chef Robert Mueller zehn
Tage nach den Angriffenzugab, dass die Namensliste des FBI nicht in Ordnung
sei und möglicherweise Unschuldigeenthalte, veröffentlichte das
FBI am 27. September eine fast identischeListe, nur diesmal um eine Person
erweitert und angereichert mit Fotos derVerdächtigen.
Mittlerweile sitzen mindestens 350 Personen in US-Gefängnissen, denen
zumeist nur vorgeworfen wird, unter falschen Angaben in die USA eingereist
zu sein. Da außer der illegalen Einreise keine weiteren Anklagen zu
Stande kamen, wird der Haftgrund mit Fluchtgefahr angegeben. Die US-Medien
berichteten bis zum Ausbruch des Krieges relativ ausführlich über
die Verhafteten und verschwiegen auch nicht, dass auf Grund fehlender Beweise
keine Anklagen erhoben wurden. Gleichzeitig aber rechtfertigten sie mit dem
Verweis auf eine Ausnahmesituation diese Herangehensweise nach dem Motto:
Fehler in der Prävention müssen unbedingt vermieden werden. Dass
diese Fehler geschehen sind, wurde ab und an zugegeben. So meldete die "Washington
Post", dass dem FBI seit Jahren bekannt war, dass Personen im Umkreis Bin
Ladins in den USA eine Pilotenausbildung absolvierten ("Die Welt" vom 29.September).
Kurz nach den Anschlägen berichtete das französischeFernsehen,
der französische Geheimdienst habe die verantwortlichen US-Stellenzwei
Wochen vor dem 11. September über die geplanten Angriffe informiert.
Die vorgeführte Pilotenausbildung ist jedoch ein verwirrender Punkt
für sich.Wurde in Deutschland noch im August über die extrem langwierige
und kostspieligeAusbildung der Piloten diskutiert, die einen Lohn von etwa
einer halben MillionMark jährlich rechtfertige, kam ausgerechnet der
Vorsitzende der PilotenvereinigungCockpit, Georg Fongern, nun mit der Erkenntnis
an die Öffentlichkeit,dass Fliegen eigentlich einfach und von jedermann
zu bewältigen sei.Er meinte nachdrücklich Jumbojets und keine Cessna.
Noch bevor die Spurzu den Flugschulen in Florida führte, widersprach
ihm Niki Lauda, Chefder Lauda Air und selbst Pilot von Großraumflugzeugen.
In der Sendung"Stern TV" vom 12. September berichtete er, dass nur sehr gut
geschulte Personeneinen Jumbo fliegen könnten, zumal die zweite ins
WTC gestürzte Maschineaus einer Kurve heraus in den Südturm raste.
Hier müsse ein absoluterProfi am Werk gewesen sein, so Lauda. Nachdem
die Spur nach Florida führte,nahmen jedoch alle bereitwillig zur Kenntnis,
dass es ausreiche, ein paarMonate den Flug - ohne Starts und Landungen -
mit einer Cessna zu üben,und mit wenigen zusätzlichen Übungen
am Simulator und dem Studiumeines Videos - den fand man ja - ist die Fähigkeit
erworben, eine Boeing767 in ein Hochhaus zu steuern.
Es mag sein, dass die verdächtigen 19 tatsächlich das World Trade
Center und das Pentagon angriffen. Wir wissen es nicht. Da sich die US-Administration
bis heute unter Verweis auf den Quellenschutz weigert, die Beweise über
die Täterschaft der 19 Verdächtigen und ihre Verbindungen zur Al
Qaida Bin Ladins zu veröffentlichen, müssen jedoch auch unbequeme
Fragen gestellt werden, zumal diese Ereignisse einen neuen Krieg heraufbeschworen
haben. Da die radikale Linke nicht über die Möglichkeit verfügt,
an Geheiminformationen heranzukommen, sind wir gezwungen, zuweilen mit Mutmaßungen
und Spekulationen zu arbeiten. Fakt ist, dass kaum das Führungspersonal
der Unternehmen bei den Anschlägen umgekommen ist. Es waren überwiegend
Sekretärinnen, Fremdsprachensekretärinnen, Putzfrauen, Wachmänner,
Köche, Kellner und Angestellte, die vor neun Uhr in den Büros ihre
Arbeit aufnahmen. Etwa ein Viertel der Vermissten soll zudem aus islamischen
Ländern sein, so werden allein 700 Pakistaner und Bangladescher unter
den Trümmern vermutet. Fakt ist auch, dass die führende Wirtschaftsnation
USA vor den Anschlägen vor einer extremen Rezession stand. Die letzten
zwölf Monate waren von einem Nachlassen der Konjunktur gekennzeichnet,
die nur mithilfe der Ankurbelung der Binnennachfrage stabil gehalten werden
konnte. Dafür ließ der Chef der US-amerikanischen Notenbank, Alan
Greenspan, fast monatlich die Zinsen senken, was zum einen die Kaufkraft
im Inlandstärkte, zum anderen im Ausland die anderen Währungen
verbilligte unddamit außerhalb des Dollar-Raums die Inflation wachsen
ließ. DieserProzess war nach gut zwölf Monaten ausgereizt, den
USA drohte eine Wirtschaftskrise,die nur von der Großen Depressioninden
dreißiger Jahren übertroffenwerden würde.
Nach den Anschlägen sieht es freilich anders aus. Die New Yorker Börse
scheint sich nach einer ersten turbulenten Woche erholt zu haben, der Dax
nimmt am Ende der fünften Woche nach den Anschlägen erstmals seit
langer Zeit wieder die 5000er-Marke ins Visier. Die betroffenen Wirtschaftszweige,
allen voran die Fluggesellschaften, bekommen staatliche Unterstützungen
nie gekannten Ausmaßes. Dem Verlust von sehr hoch geschätzten
100Milliarden Dollar stehen neue Aufträge von niedrig geschätzten
1000 MilliardenDollar gegenüber. Ein lohnendes Geschäft. Gleichzeitig
sind politischeVerhältnisse etabliert worden, wie sie sich allenfalls
gedopt-paranoideHollywood-Hirne ausdenken können. Der freiheitliche,
auf seine Bürgersrechteso stolze Westen findet im nicht erklärten
Ausnahmezustand seine Grenzen.Mit diesem Ausnahmezustand lässt sich
nicht nur jeder beliebige Menschweg- oder aussperren, auch jede unliebsame
Maßnahme in Wirtschaft undSozialbereich lässt sich damit exzellent
durchsetzen. Beängstigendist, dass gerade der mit seiner These vom "Kampf
der Kulturen" berühmtgewordene Samuel Huntington in dem Bericht "Die
Krise der Demokratie" schon1975 das Szenario der Aushebelung so genannter
demokratischer Mechanismenbei einer extremen Wirtschaftskrise beschrieb.
Doch auch in der US-Administrationselbst findet sich in Justizminister John
Ashcroft ein Verfechter des Notstandsregimes.An dessen Seite wirkt ergänzend
der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs,William Rehnquist, der wegen der
Proteste gegen den Vietnamkrieg schon inden siebziger Jahren für ein
"qualifiziertes Kriegsrecht" plädierte.Die Anschläge vom 11. September
gaben diesen Herren zumindest die Möglichkeit,ihre alten Pläne
eines Notstandsregimes wieder aus den Schublädenzu holen.
Ein weiterer Fakt ist, dass der "bad guy" Bin Ladin früher Geschäfte
überwiegend in Öl mit dem "good guy" George W. Bush machte. Fakt
ist auch, dass die Taliban bis 1998 von den USA finanziell unterstützt
wurden. Ähnlich wie Saddam wandelten sich beide anscheinend vom guten
Freund zum bösen Feind. Doch trotz dieser Metamorphose scheinen siedem
Westen einen letzten Gefallen zu erweisen: Mit den Angriffen in New Yorkund
Washington erhält der Westen die Möglichkeit, global seine Truppen
zu stationieren oder wenigstens auf den Transportwegen unterstützt zu
werden. Selbst Staaten wie China, Indien und die zentralasiatischen GUS-Staaten
sowie Russland sind heute bereit, entweder Truppenstationierungen direkt
zuzulassen oderaber Überflugrechte und Einblicke in Geheiminformationen
zu gewähren.Wasöstlich vom Kaukasus liegt, sind die letzten Ölquellen
auf der Erde,die für die nächsten 60 Jahre mindestens reichen sollen.
Umso sinnigerist es, bevor die arabischen Ölquellen versiegen, dort
Truppen zu stationierenund die Transportwege zu kontrollieren. Die Möglichkeit
einer Pipelinedurch Afghanistan wurde auch schon öffentlich diskutiert.
Wie in derInnenpolitik wird auch im geopolitischen Rahmen mit Verweis auf
die Anschlägeumgesetzt, was seit Jahren geplant und ein strategisches
Ziel ist. FürDeutschland liegt dabei das Ziel im endgültigen Abschütteln
derseit 1945 bestehenden Begrenzung militärischer Aktionen, was Schröder
in seiner Regierungserklärung vom 11. Oktober auch unumwunden zugibt.
Es scheint möglich, dass der Westen und allen voran die USA ihre strategischen
Ziele erreichen werden. Möglich ist aber auch, dass sie scheitern werden.
In Pakistan kommt es seit Beginn der Bombardierungen täglich zu Demonstrationen
Zehntausender, die sich auch von einem generellen Demonstrationsverbot nicht
abschrecken lassen. In der Gegend der alten CIA-Ausbildungszentren für
die Mudschahedin, in Quetta und Peshawar, kam es zu Auseinandersetzungen,
bei denen erste Polizeistationen und zusätzlich Banken, UN-Einrichtungen
und Theater angezündet wurden. In Quetta gab es mindestens vier Tote.
Ähnlich sieht das Bild in Palästina aus. Im Gazastreifen braucht
es nun keine israelische Armee, Arafats eigene Polizei schießt auf
die Demonstrierenden,die ihrerseits mehrere Polizeiwachen anzündeten.
Selbst im PolizeistaatÄgypten kam es zu ersten Demonstrationen auf dem
Campus der Universitäten.In Indonesien griff die Menge die US-Botschaft
an und versuchte, das Parlamentzu stürmen.
Doch von all diesen Ländern scheint vor allem Pakistan am unstabilsten
zu sein. Nicht nur gibt es hier Bergketten, die 6000 Meter hoch sind, selbst
offiziell wird zugegeben, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung
Pakistans mit den Taliban sympathisieren. Das wären dann aber schon
zwölf Millionen,die nicht nur die Militärschläge ablehnen,
sondern BushsWorte vom"Kreuzzug" und dem "Kampf Gut gegen Böse" Glauben
schenken und bereitsind, gegen die modernen "Kreuzritter" zu kämpfen,
wie Bin Ladin in einemAufruf sagte. Wenn allein eine halbe Million als Guerilla
in die Berge geht,ist das Land schon nicht mehr zu kontrollieren. Da in den
Ebenen eine extremeBevölkerungsdichte existiert, dürfte es für
eine Guerilla einLeichtes sein, die Musharraf-Regierung auch in den Zentren
anzugreifen. DenUSA bliebe dann nur noch, Truppen in Pakistanzu stationieren,
um den drohendenKollaps aufzuhalten. Dies aber würde zu einem Abnutzungskrieg
führen,wie ihn die USA in Vietnam schon verloren haben. Doch andersals
Vietnam besitztPakistan die Atombombe. Die USA müssen daher unter jedem
Preis verhindern,dass Pakistan in die Hände von islamischen Fundamentalisten
fällt,zumindest Israel, die andere Atommacht im Nahen beziehungsweise
MittlerenOsten, wird diese Entwicklung sicher nicht hinnehmen. Für die
Amerikanerheißt dies, dass sie notfalls im letzten Augenblick die Bomben
zündenund die Anlagen vernichten müssen, bevor sie in die Hände
der Taliban-Sympathisantenfallen. In Pakistan würden wahrscheinlich
40 Millionen Menschen sofortsterben.
Dieses Szenario würde aber einen Aufstand in der gesamten islamischen
Welt nach sich ziehen, der auch nicht mit der Unterstellung aufzuhalten wäre,
die Guerilla hätte selbst an den Bomben rumgefingert. Es ist dann ziemlich
wahrscheinlich, dass neben Pakistan auch Saudi-Arabien fallen würde,
dessen Saud-Regime jetzt schon US-Truppen zur eigenen Absicherung benötigt.
Sicher würde der Irak die Situation nutzen und in Kuwait einmarschieren.
Auch Ägypten wäre dann einer der ersten Umbruchskandidaten. Dies
hieße aber, dass dem Westen neben den arabischen Ölquellen auch
der Suezkanal abhanden käme. Selbst wenn der Westen dann aufgeben würde,
wäre eine Wirtschaftskrise die Folge, deren Ausmaße selbst die
Krise der dreißiger Jahre übertreffen würde. Vielleicht hatte
der russische Präsident Wladimir Putin genau dieses Szenario vor Augen,
als er bei seinem letzten Deutschlandbesuch nicht nur den Wunsch äußerte,
Russland in die Nato eintreten zu lassen, sondern zudem der EU eine Garantie
zur Lieferung russischen Erdöls anbot – ein Angebot, das zumindest
Frankreich und Deutschland in diesem Fall auch um den Preis der Spaltung
der Natosicherlich annehmen würden.
Dieses gesamte Szenario ist sicher noch nicht ausgereift. Abzuwarten ist,
wie die Situation sich im jetzt beginnenden Ramadan entwickelt. Außerdem
wird zu sehen sein, was die USA genau unternehmen in Afghanistan. Die jetzigen
Bombardierungen helfen jedenfalls nicht, Bin Ladin auszuschalten. Auch der
Einsatz von Bodentruppen erscheint eher gefährlich als Erfolg versprechend
zu werden. Kleinere, so genannte taktische Atombomben aber führen sicherlich
zu einer weiteren Eskalation, ebenso der Einsatz von Chemie- und Biowaffen,
die allein die Möglichkeit bieten, die Verstecke im Hindukusch ohne
größereeigene Verluste auszuräuchern.
Doch egal wie weit dieses Szenario umgesetzt wird, sicher ist jetzt schon,
dass die ganzen Gesetzesverschärfungen in den USA wie in Europa der
Präventiondienen,sich gegen innere Aufstände abzusichern. Schon
Ronald Reagan plante, beieinem Einmarsch in Mittelamerika die Verfassung
außer Kraft zu setzenund an die 250000 Menschen in 25 Konzentrationslager
einzusperren. Dies berichtenehemalige Black Panther. Die Bilder von Genua
sind jedenfalls seit dem 11.September aus dem Bewusstsein verschwunden. Die
in Genua nach der Wende von1989 erstmals wieder angeschlagene Legitimation
der Herrschenden scheint fürden Moment wiederhergestellt. Heute wird
es kaum noch einmal zu einem derartbreiten und radikalen Protest gegen die
Ausplünderung der Welt kommen. Im Gegenteil wird heute sogar jede
Unterstützung für Befreiungsbewegungenstark eingeschränkt
und mit einer Bedrohungsoption versehen, bei der einzig vom Wohlwollen
der jetzt Herrschenden abhängt, ob sie umgesetztwird. Nach dem 11. September
reicht es aus, das Recht der baskischen Bevölkerungzu unterstützen,
ihre Muttersprache in den Schulen offiziell lernen zukönnen, um ins
Fadenkreuz des BKA und anderer Dienste zu geraten, diedas Geschäft der
so genannten Terrorismusbekämpfung betreiben. Obdieser Zustand von Dauer
bleibt, hängt von der Stärke der Linkenab und ihrer Fantasie, auch
unter einem Quasi-Notstandsregime aktiv zu werden.Sicher aber wird die Linke
einen langen Atem brauchen, um dieser Entwicklungwirkungsvoll entgegenzutreten.
Ansätze dazu sind gemacht .In Europa gehenHunderttausende auf die Straße,
und selbst in New York schätzt diePolizei, dass 10 000 sich täglich
am Times Square treffen, um gegen denKrieg zu protestieren. Das ermutigendste
Beispiel aber geben die Jugendlichenin den verschiedenen Schulen ab, die
nun schon mehrmals den Unterricht bestreiktenund währenddessen Demonstrationen
in der Innenstadt durchführten,bei denen offiziell immerhin 3000
Schülerinnen und Schüler teilnahmen.Wie sehr dies den Herrschenden
ein Dorn im Auge ist, wird an zwei Beispielenklar: Zum einen soll nun das
Verteilen von Flugblättern an den Schulenverboten werden. Zum anderen
wird nun jede Ablehnung des Krieges mit Antiamerikanismusgleichgesetzt, eine
aus dem Golfkrieg bekannte Reaktion, die damals leiderErfolg hatte. Heute
hoffentlich nicht.
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Meinungsmache, Manipulation,
Mobilmachung
Von Emily Davis
Der 11. September hat nicht nur für die afghanische Zivilbevölkerung
weit reichende Folgen; wir können uns auch in Europa auf weitere Einschränkungen
unserer Rechte, auf zunehmenden staatlichen und allgemeinen Rassismus und
auf wirtschaftliche Folgeerscheinungen wie Rezession und Stellenabbau freuen.
Diejenigen innerhalb der Linken, die sich heimlich oder auch öffentlich
über die Bilder der Zerstörung gefreut haben, hatten Unrecht, nicht
nur vom rein menschlichen Standpunkt: Wir sind mit Opfer dieser Angriffe
undwerden den 11.September lange als tatsächlichen Wendepunkt in der
Geschichtebetrachten, wenn auch aus anderen Gründen als es Schröder
&Co tun.
Politik und Medien Hand in Hand
Wie schon zu Zeiten des Golfkrieges oder der Kosovo-"Intervention" arbeiten
Politik und Medien Hand in Hand, um ihre Propaganda zu machen. Die Angriffe
auf das WTC waren einmalig in der Geschichte, da sie vor laufender Kamera
geschahen. Die Medien waren von Anfang an in der Lage, uns mit Sensationsbildern
zu beliefern, und wir schauten gebannt zu. Am 11. September hatte CNN inden
USA allein 7,4 Millionen Zuschauer, die Deutschen sahen statt durchschnittlich
190 Minuten am Tag etwa dreieinhalb Stunden fern, am 16. September sogar
übervier Stunden.
Von Anfang an wurden Feindbilder aufgebaut und Ängste geschürt,
um die Mobilmachung für den Krieg zu unterstützen, zunächst
sogar ohne konkreten Verdächtigen. So zeigte CNN schon kurz nach dem
Angriff Bilder von jubelnden Palästinensern, die angeblich auf den Straßen
von Nablus eine "Freudenfeier" abhielten. Inzwischen musste der Sender zugeben,
dass die Bilder aus dem Archiv von 1991 stammen. Unkritisch übernahmen
auch deutsche Medien die Vermutung, die Palästinenser seien die Hintermänner
der Angriffe. Etwa der dumpfe "Berliner Kurier", der seiner Leserschaft am
12. September erklärte, "Terrorgruppen attackieren Amerika, weil es
Israelhilft". Der folgende Artikel greift mit unbegründeten Vorwürfen
regelrecht um sich, nennt als Verdächtige Bin Laden, die DFLP, PFLP,
Syrien, den Iran, Hamas und Hisbollah.
An diesem ersten Tag fing die Politik schon an, von Krieg zu sprechen. Präsident
Bush bezeichnete die Angriffe als "Kriegsakte", Schröder als "Kriegserklärung
gegen die gesamte zivilisierte Welt", Stoiber als "Kriegshandlung". Und schon
übernahmen die internationalen Medien die gleiche Rhetorik. Ein gewisser
Charles Krauhammer schreibt in der "Washington Post": "Das ist kein Verbrechen.
Das ist Krieg", und verlangt von der amerikanischen Regierung, sie solle
nicht "einpaar nutzlose Cruise-Missiles auf leere Zelte in der Wüste"
abschießen,sondern "Zerstörung auf die Gegner hageln lassen".
Europäische Zeitungen wiedie französische "Le Monde" und die "Süddeutsche
Zeitung" verbreiteten dieParole "Wir sind alle Amerikaner" simultan mitder
Nato-Erklärung desBündnisfalles.
Die Behauptung, der Angriff sei eine Handlung "gegen die zivilisierte Welt",
dient eindeutig der Mobilmachung außerhalb der USA. Ein klares "Gut/Böse"-Schema
wird aufgebaut; die "Zivilisierten" stünden gegen die "Barbaren". So
spricht Nato-Generalsekretär Robertson von "barbarischen Taten", der
außenpolitische Vertreter der EU, Solana, von "barbarischen Akten"
und einesichtlich überforderte Angela Merkel von einfachen "Barbaren".
Es fragtsich, seit wann Barbaren Flugzeuge steuern können, aber in der
rassistischenRhetorik sind kleine Ungenauigkeiten wohl erlaubt. Wir sollen
uns ebenso angegriffenfühlen, wir sind ja schließlich auch "zivilisiert".
Vor allen Dingensollen wir uns nicht fragen, warum die Terroristen einenso
großen Hassauf die USA spüren. Wenn der britische Premierminister
Blair uns erklärt,der Terrorismus sei das "neue Böse in der heutigen
Welt", sollen wiruns nicht fragen, ob die USA und ihre Verbündeten nicht
auch ab und zumal Zivilisten abgeschlachtet haben.
Was sie uns nicht erzählen
Genau diese Hintergründe der Angriffe auf die USA werden in den Medien
weitestgehend verschwiegen. Ohne die Angriffe legitimieren zu wollen, muss
man sich jedoch bewusst machen, was die USA für einen Dreck am Stecken
haben, besonders im Nahen Osten. Angefangen mit dem Golfkrieg, als die USA
mit deutscher Unterstützung den Irak bombardierten und über 100
000 Menschen töteten, geht die Supermacht mit einer erstaunlichen Verachtung
für menschliches Leben immer weiter im Nahen Osten vor. 1998 bombardierten
sie schon einmal Afghanistan, als Antwort auf die Attentate auf ihre Botschaften
in Kenia und Tansania. Damals galt Bin Ladin auch als Hauptverdächtiger.
Und bis kurz vor dem Terrorangriff warfen britische und amerikanische Flugzeuge
regelmäßig Bomben über den Irak ab, größtenteils
ungeachtet durch die Medien. Das internationale Embargo gegen den Irak hat
ebenfalls Tausende von Opfern zur Folge. Und führt nicht letztendlich
Bushs Unwillen, eine vermittelnde Rolle im Konflikt zwischen Israel und Palästina
zu übernehmen, indirekt jeden Tag zu weiteren Todesfällen?
Die Beziehung der USA zu Afghanistan wird ebenfalls selten in den Medien
ausgeführt, undkein Wunder. Denn im Kalten Krieg waren islamistische
Krieger in Afghanistan willkommeneVerbündete der Vereinigten Staatenim
Kampf gegen die bösen Roten.Die Vorgänger der Taliban erhielten
während des Krieges gegen dieSowjetunion von 1979 bis 1989 2,8 Milliarden
Dollar allein für Waffen ausden USA, von der logistischen Unterstützung
und Trainingsprogrammen ganzzu schweigen.
Es ist keine Überraschung, dass die Medien sich auch in Schweigen hüllen,
wenn es um die geschäftlichen Verbindungen zwischen den beiden bekannten
Familien Bush und Bin Ladin geht. Ironischerweise wurde der Bruder von Osama
Bin Ladin, der eine gemeinsame Ölfirma mit einem gewissen George Bush
Junior gründete, vor 20 Jahren bei einem Flugzeugabsturz getötet.
Von seinem damaligen Geschäftspartner werden wir wohl kaum die ganze
Wahrheit erfahren.
Ängste schüren . . .
Eine Amerikanerin steht im Waffenladen, sie sieht verängstigt aus. Sie
kauft sich eine Gasmaske, weil sie Angst hat, sagt sie, dass demnächst
chemische und biologische Waffen über Amerika eingesetzt werden. Von
der Taliban. Diese Szene wurde am 30. September unkommentiert im notorisch
rechten "Focus-TV" gezeigt. Fernsehen, Zeitschriften und Zeitungen freuen
sich über die Gelegenheit, schaurige Meldungen machen zu können,
denn solche Schlagzeilen machen Geld. Genau wie wir im Frühsommer 1999
alle Angst vor Kampfhunden vermittelt bekamen, machen die Medien uns jetzt
vor Sprühflugzeugen und Biowaffen Angst. In diesem Fall übertreffen
Zeitungen und Fernsehen oft sogar die Politiker. Während zum Beispiel
die Zeitung "Die Welt" am 12. September noch Schily zitiert mit den Worten:
"Es gibt keine Erkenntnisse, die die Sorge rechtfertigen, dass Deutschland
in den Kreis der Anschläge einbezogen wird", wirkt sie am nächsten
Tag geradezu schizophren. Unter der Schlagzeile "Terror bedroht auch Europa"
beschreibt sie, wie vier Männer im Dezember 2000 im Raum Frankfurt/Main
als verdächtige Terroristen festgenommen wurden und zieht damit denRückschluss,wir
wären auch direkt bedroht.
Ebenso wurden vor dem Golfkrieg Falschmeldungen über Gräueltaten
irakischer Soldaten von einer US-regierungsnahen PR-Agentur in Umlauf gesetzt.
Die Behauptung, die Soldaten hätten Babys aus Brutkästen genommen
und sterben lassen, ließ viele Herzen für einen Krieg höher
schlagen. Das so genannte Massaker von Racak, das als Legitimierung für
den Kosovo-Krieg diente, wurde auch als Unwahrheit enttarnt - leider zu spät
für die über 2000 bei den Nato-Angriffen getöteten Zivilisten
in Jugoslawien. Die bürgerlichen Medien sind anscheinend nicht darauf
angewiesen, die Wahrheit zu verbreiten, sondern nur, hohe Auflagen beziehungsweise
Einschaltquoten zu erreichen. Da wird schon mal die "journalistische Pflicht",
Meldungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, beiseite gelassen.
. . . und diese ausnutzen
In diesem Fall haben Regierungen um die ganze Welt etwas davon: Sie können
neue Gesetze zur inneren Sicherheit auf einmal problemlos durchsetzen. Wir
sind doch alle bedroht, oder? So errangen die Republikaner in den USA zusätzliche
Gelder für ihr umstrittenes Raketenabwehrprogramm, die Briten denken
laut über die Einführung von Personalausweisen nach, und Putinerlebt
auf einmal internationale Unterstützung für seinen "Kampf gegen
Terrorismus" in Tschetschenien. In Deutschland machen die wiederholten Verweise
auf den "RAF-Terror" klar, worum es bei den neuen Maßnahmen zur inneren
Sicherheit auch geht (siehe oben stehenden Artikel).
Die so genannte öffentliche Meinung wird dabei durch eine regelrechte
Bombardierung mit Sicherheitspropaganda geprägt. So folgte der Meldung
über den gepflegten Gasmaskeneinkauf in "Focus-TV" ein Beitrag über
die angeblich schlechte Ausstattung der Bundeswehr. Sogar der sonst anspruchsvolle
Sender "Arte" zeigt auf einmal Dokumentarfilme über amerikanische Flugzeugträger
statt deprimierende Liebesfilme aus Frankreich. Da darf es nicht wundern,
dass Politiker wie der Hamburger Richter Schill enormen Zulauf erfahren.SeinImage
als "harter Durchgreifer" passt gerade in den aktuellen Zeitgeist,undes ist
fast schon wunderlich, dass seine Wählerschaft bei einemsolchengesellschaftlichen
Klima lediglich 19,3 Prozent der Hamburger ausmacht.
Eine hohe Kunst
Schon immer gehörten Krieg und Propaganda zusammen. Selbst die mittelalterlichen
Kreuzzüge der Christen gegen "Heiden", also Juden und Muslime, wurden
von Dichtern besungen. Goebbels' Reichsministerium für Volksaufklärung
und Propaganda spielte während des Zweiten Weltkrieges eine noch zentralere
Rolle für die Nazis als zu Friedenszeiten. Heutzutage existieren meist
keine Propagandaministerien mehr, aber man kann sicher sein, dass sich Politiker
über die Macht der Medien bewusst sind und diese zu manipulieren wissen.
Der "Spiegel" zitierte zum Beispiel im Jahr 2000 eine Rede von Nato-Sprecher
Jamie Shea vor Soldaten zum Thema Kosovo-Krieg: "Die Journalisten waren gleichsam
Soldaten in dem Sinne, dass sie der Öffentlichkeit erklären mussten,
warum dieser Krieg wichtig war. Es gehörte zu meinen Aufgaben, sie zu
munitionieren, die Lauterkeit unserer Kriegsmotive und unserer Aktionen zu
zeigen." Die Truppe für Operative Information der Bundeswehr stellteineähnliche
Sicht der Dinge dar: "Massenkommunikationsmittel könnenVerlauf und Ausgang
von Konflikten entscheidend beeinflussen. Wer übersolche Mittel verfügt,
wird sie zu seinem Nutzen und zum Schaden desGegners einsetzen. Propaganda,
Desinformation und Manipulation sind TeildesKampfes um und mit Information."
Es ist also kein Zufall, dass wir rund um die Uhr mit bestimmten Informationen
versorgt werden. Wir sollen die Geschehnisse an und nach dem 11.September
vor allen Dingen emotional miterleben; neben Mitleid sollen wir Angst und
Wut spüren, wenn wir Zeitung lesen oder fernsehen. Wir sollen nach harten
Maßnahmen schreien, nach Krieg und Vergeltung und nach dem starkenStaat.Der
Vorteil der Informationsgesellschaft ist aber, man kann sie durchschauenund
für die eigenen Zwecke ausnutzen. Genau wie während des Kosovo-Krieges
kritische Stimmen innerhalb der Linken laut wurden, sollten wir uns diesmal
auch eindeutig gegen den Krieg positionieren. Wir hätten diesen Krieg
nicht verhindern können. Es ist aber unsere Aufgabe, Aufklärung
und Gegeninformation zu leisten, den Krieg am Arbeitsplatz, in der Kneipe,
in der Schule, beim Fußball zu thematisieren. Wir müssen öffentlich
Fragen aufwerfen, wem der Krieg nützt, und wie er das politische System
aufrechterhält. Eine Kritik am Krieg muss auch eine Kritik am System
und seine Herrschaftsmechanismen sein.
An dieser Stelle veröffentlichen wir eine Erklärung
der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (Rawa), die 1978
gegründet wurde. Rawa scheint eher sozialdemokratisch ausgerichtet zu
sein, da sie zum Beispiel schon die 1977 an die Macht gelangte revolutionäre
Regierung als sowjetischen Vasall ablehnte. Ihr Kampf richtet sich aber auch
entschieden gegen den fundamentalistischen Staat, nicht nur der Taliban,so
dass die Mitgliederinnen ständig mit dem Tod bedroht sind. Obwohlnicht
monarchistisch, tritt Rawa für den Moment für eine Übergangsregierung
unter dem 1973 entmachteten König Zahir Schah ein, da sie keine andere
Alternative sieht. Obwohl Rawa nicht unbedingt auf unserer Linie liegen muss,
denken wir, dass dieses Dokument es wert ist, veröffentlicht zu werden,
nicht nur wegen dem Inhalt, sondern gerade auch weil dies ein authentischer
Text aus der Region ist.
Das afghanische Volk hat
nichts mit Osama und seinen Komplizen zu
tun
Am 11. September 2001 erlebte die Welt durch die grauenvollen terroristischen
Angriffe auf die Vereinigten Staaten einen Schock. Rawa schließt sich
mit dem Rest der Welt in unserem Kummer und der Verdammung dieses barbarischen
Akts der Gewalt und des Terrors zusammen. Rawa hatte die Vereinigten Staaten
bereits davor gewarnt, den verräterrischsten, kriminellsten, antidemokratischsten
und frauenfeindlichsten islamischen fundamentalistischen Parteien Unterstützung
zu gewähren, denn die Dschihadi und die Taliban würden, nachdem
sie jedes nur erdenkliche Verbrechen gegen unser Volk verübt haben,keine
Scham davor empfinden, gleichartige Verbrechen gegen das amerikanischeVolk
zu verüben, welches sie als "abtrünnig" ansehen. Um Machtzu erlangen
und zu behalten sind diese barbarischen Verbrecher nur allzuleicht bereit,
sich jedwelcher verbrecherischen Kraft zuzuwenden.
Unglücklicherweise müssen wir jedoch feststellen, dass es die Regierung
der Vereinigten Staaten war, die den pakistanischen Diktator General Zia-ul-Haq
dabei unterstützt hat, Tausende religiöser Schulen zu gründen,
aus welchen die Taliban hervorgingen. In ähnlicher Weise, und das ist
auch allen klar, war Osama Bin Ladin der Goldjunge der CIA. Noch schmerzhafter
ist jedoch die Tatsache, dass die amerikanischen Politiker nichts aus ihrer
profundamentalistischen Politik in unserem Lande gelernt haben und dass sie
immer noch diese oder jene fundamentalistische Bande oder deren Anführer
unterstützen. Wir sind überzeugt, dass jegliche Art der Unterstützung
für die fundamentalistischen Taliban und Dschihadis ein Herumtrampeln
auf den demokratischen Frauenrechten und Grundlagen der Menschenrechte darstellt.
Wenn festgestellt wird, dass sich die der Terroranschläge Verdächtigten
außerhalb der USA aufhalten, dann hat sich unsere oft wiederholte Behauptung,
dass die fundamentalistischen Terroristen ihre Schöpfer vernichten würden,
wieder einmal bewahrheitet.
Die Regierung der USA sollte die Wurzel des Übels dieser schrecklichen
Ereignisse betrachten; dieses war nicht das erste schreckliche Ereignis,und
es wird auch nicht das letzte sein. Die USA sollten endgültig undein
für alle Mal damit aufhören, afghanischen Terroristen und ihren
Helfern Unterstützung zukommen zu lassen.
Werden die USA nun, da für sie nach den verbrecherischen Angriffen die
Taliban und Osama die Hauptverdächtigen sind, Afghanistan zum Ziel eines
Militärangriffs wie dem im Jahr 1998 machen und Tausende unschuldiger
afghanischer Menschen für Verbrechen töten, welche von den Taliban
und Osama verübt wurden? Glauben die USA, dass durch derartige Angriffe,
deren Opfer Tausende armer und unschuldiger Menschen sind, das Grundübel
des Terrorismus ausgelöscht wird, oder wird dadurch der Terrorismusin
noch viel stärkerem Maße zunehmen?
Von unserem Standpunkt aus wäre ein groß angelegter und umfassender
Militärangriff auf unser Land, das seit mehr als zwei Jahrzehnten endlose
Katastrophen durchmachen musste, kein Grund, stolz zu sein. Wir glauben nicht,
dass ein solcher Angriff die Überzeugung und den Willen des amerikanischen
Volkes widerspiegelt.
Die US-Regierung und das amerikanische Volk sollten wissen, dass zwischen
den armen, verzweifelten Menschen Afghanistans und den terroristischen Dschihadi-
und Taliban-Kriminellen ein großer Unterschied besteht.
Während wir zum wiederholten Male unsere Solidarität mit dem amerikanischen
Volk ausdrücken und unsere Trauer um die Opfer und ihre Hinterbliebenen,
glauben wir jedoch nicht, dass die Trauer des amerikanischen Volkes durch
einen Angriff auf Afghanistan und die Tötung der ruinierten und verzweifelten
afghanischen Bevölkerung vermindert werden kann. Wir hoffen aufrichtig,
dass das großartige amerikanische Volk zwischen dem afghanischen Volk
und einer Handvoll fundamentalistischer Terroristen differenzieren kann.Die
Menschen Amerikas sind in unseren Herzen.
Nieder mit Terrorismus!
Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans (Rawa)
14. September 2001
Der angebliche Skandal um Ulrich
Wickert, dem Nachrichtensprecher der ARD-„Tagesthemen“, der Bush
mit Bin Ladin gleichgesetzt haben soll, kreiste einige Zeit durch die Öffentlichkeit
und wird auch bei vielen Linken bekannt sein. Nicht bekannt sein dürfte
allerdings der eigentliche Stein des Anstoßes, der Beitrag der indischen
Schriftstellerin Arundhati Roy, der in der „FAZ“; nachgedruckt
wurde. Wir veröffentlichen an dieser Stelle diesen doch sehr harmlosen
Text, dessen Handhabung in der Öffentlichkeit vieles über den Zustand
der Diskussionskultur in unserem Land preisgibt.
Wut ist der Schlüssel
Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur
ein Symptom ist
Von Arundhati Roy
Nach den skrupellosen Selbstmordanschlägen auf das Pentagon und das
World Trade Center erklärte ein amerikanischer Nachrichtensprecher:
"Selten zeigen sich Gut und Böse so deutlich wie am letzten Dienstag.
Leute, die wir nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und
sie haben es voller Verachtung und Schadenfreude getan." Dann brach der Mann
in Tränen aus.
Hier haben wir das Problem: Amerika führt einen Krieg gegen Leute, die
es nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor
die amerikanische Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn
angefangen hat, sein Denken zu verstehen, hat sie, mit großem Tamtam
und peinlicher Rhetorik, eine "internationale Allianz gegen den Terror" zusammengeschustert,
die Streitkräfte und die Medien mobilisiert und auf den Kampf eingeschworen.
Allerdings wird Amerika, sobald es in den Krieg gezogen ist, kaum zurückkehren
können, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben. Wenn es den Feind nicht
findet, wird es, der aufgebrachten Bevölkerung daheim zuliebe, einen
Feind konstruieren müssen. Kriege entwickeln ihre eigene Dynamik, Logik
und Begründung, und wir werden auch diesmal aus dem Blick verlieren,
warum er überhaupt geführt wird.
Wir erleben hier, wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig
nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu führen.
Nun, da Amerika sich selbst verteidigen muss, sehen die schnittigen Kriegsschiffe,
die Cruise-Missiles und F-16-Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfällig
aus. Amerikas nukleares Arsenal taugt nicht zur Abschreckung. Teppichklingen,
Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die Kriege des neuen
Jahrhunderts geführt werden. Wut ist der Schlüssel. Ihn bekommt
man unbemerkt durch den Zoll, durch jede Gepäckkontrolle.
Gegen wen kämpft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongress bezeichnete
Präsident Bush die Feinde Amerikas als "Feinde der Freiheit". "Die Bürger
Amerikas fragen, warum sie uns hassen", sagte er. "Sie hassen unsere Freiheiten
- unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreeiheit, unsere Freiheit zu wählen,
uns zu versammeln und nicht immer einer Meinung zu sein." Zweierlei wird
uns abverlangt. Zum einen sollen wir glauben, dass der Feind der ist, der
von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten
Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, dass die
Motive des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt
werden, obwohl es auch dafür keine Beweise gibt.
Aus strategischen, militärischen und ökonomischen Gründen
muss die amerikanische Öffentlichkeit unbedingt davon überzeugt
werden, dass Freiheit und Demokratie und der American Way of Life bedroht
sind. In der gegenwärtigen Atmosphäre von Trauer, Empörung
und Wut ist derlei leicht zu vermitteln. Wenn das tatsächlich stimmt,
stellt sich jedoch die Frage, warum die Anschläge den Symbolen der wirtschaftlichen
und militärischen Macht Amerikas galten. Warum nicht der Freiheitsstatue?
Könnte es sein, dass die finstere Wut, die zu den Anschlägen führte,
nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern damit, dass amerikanische
Regierungen genau das Gegenteil unterstützt haben - militärischen
und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution, Militärdiktaturen,
religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid (außerhalb Amerikas)?
Für die trauernden Amerikaner ist es gewiss schwer, mit Tränen
in den Augen auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen
vielleicht als Gleichgültigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht
um Gleichgültigkeit. Es ist eine Ahnung, ein Nicht-überrascht-Sein.
Es ist eine alte Erkenntnis, dass jede Saat irgendwann auch aufgeht. Die
Amerikaner sollten wissen, dass der Hass nicht ihnen gilt, sondern der Politik
ihrer Regierung. Ihnen kann unmöglich entgangen sein, dass ihre außergewöhnlichen
Musiker, ihre Schriftsteller, Schauspieler, ihre phänomenalen Sportler
und ihre Filme überall auf der Welt beliebt sind. Wir alle waren bewegt
von dem Mut und der Würde der Feuerwehrleute, der Rettungskräfte
und der gewöhnlichen Büroangestellten in den Tagen und Wochen nach
den Anschlägen.
Amerikas Trauer ist immens und immens öffentlich. Es wäre grotesk,
von den Amerikanern zu erwarten, dass sie ihren Schmerz relativieren oder
mäßigen. Aber es wäre schade, wenn sie, statt zu versuchen,
die Ereignisse des 11.September zu begreifen, das Mitgefühl der gesamten
Welt beanspruchten und nur die eigenen Toten rächen wollten. Denn dann
wäre es an uns, unangenehme Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen.
Und weil wir zu einem unpassenden Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen,
wird man uns tadeln, ignorieren und am Ende vielleicht zum Schweigen bringen.
Doch die Zeichen stehen auf Krieg. Was gesagt werden muss, sollte rasch gesagt
werden.
Bevor Amerika das Steuer der "internationalen Allianz gegen den Terror" übernimmt,
bevor es andere Länder auffordert (und zwingt), sich an seiner nachgerade
göttlichen Mission - der ursprüngliche Name der Operation lautete
"Grenzenlose Gerechtigkeit" - aktiv zu beteiligen, sollten vielleicht ein
paar Dinge geklärt werden. Führt Amerika Krieg gegen den Terror
in Amerika oder gegen den Terror ganz allgemein? Was genau wird gerächt?
Der tragische Verlust von fast 7000 Menschenleben, die Vernichtung von 450000
Quadratmeter Bürofläche in Manhattan, die Zerstörung eines
Flügels des Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen,
der Bankrott einiger Fluggesellschaften und der Absturz der New Yorker Börse?
Oder geht es um mehr?
Als Madeleine Albright, die ehemalige Außenministerin der Vereinigten
Staaten, im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, dass 500000 irakische
Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien, sprach
sie von einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei, alles in allem,
nicht zu hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind übrigens noch
immer in Kraft, und noch immer sterben Kinder. Genau darum geht es: um die
willkürliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen
"Ermordung unschuldiger Menschen" oder "Krieg der Kulturen" und "Kollateralschäden".
Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie
viele tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Wie
viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen
und Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin für
einen toten Investmentbanker?
Eine Koalition der Supermächte der Welt schließt nun einen Ring
um Afghanistan, eines der ärmsten und am stärksten verwüsteten
Länder der Welt, dessen Taliban-Regierung Osama Bin Ladin Unterschlupf
gewährt. Das Einzige, was in Afghanistan überhaupt noch zerstört
werden könnte, sind die Menschen. (Darunter eine halbe Million verkrüppelte
Waisenkinder. Es wird berichtet, dass es zu wildem Gedrängel der Humpelnden
kommt, wenn über entlegenen, unzugänglichen Dörfern Prothesen
abgeworfen werden.) Die afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhöfen
sind Massengräber geworden. Das Land ist übersät mit Landminen
- nach jüngsten Schätzungen zehnn Millionen. Eine Million Menschen
sind aus Furcht vor einem amerikanischen Angriff zur pakistanischen Grenze
geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel mehr, Hilfsorganisationen mussten
das Land verlassen, und nach Berichten der BBC steht eine der schlimmsten
humanitären Katastrophen der jüngsten Zeit bevor.
An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika übrigens in nicht geringem
Maße beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen
Invasion, begannen die CIA und der pakistanische Militärgeheimdienst
ISI die größte verdeckte Operation in der Geschichte der CIA.
Beabsichtigt war, den afghanischen Widerstand zu steuern und das islamische
Element so weit zu stärken, dass sich die muslimischen Sowjetrepubliken
gegen das kommunistische Regime erheben und es am Ende destabilisieren würden.
Diese Operation sollte das Vietnam der Sowjetunion werden. Im Laufe der Jahre
rekrutierte und unterstützte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin
aus 40 islamischen Ländern für den amerikanischen Stellvertreterkrieg.
Diese Leute wussten nicht, dass sie ihren Dschihad für Uncle Sam führten.
(Welche Ironie, dass die Amerikaner ebenso wenig wussten, dass sie ihre späteren
Feinde finanzierten!)
Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurück
und hinterließen ein verwüstetes Land. Der Bürgerkrieg in
Afghanistan tobte weiter. Der Dschihad griff über nach Tschetschenien,
in das Kosovo und schließlich nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin
Geld und Waffen, doch die laufenden Kosten waren so enorm, dass immer mehr
Geld benötigt wurde. Auf Befehl der Mudschahedin mussten die Bauern
Opium (als "Revolutionssteuer") anbauen. Der ISI richtete in Afghanistan
Hunderte von Heroinlabors ein, und zwei Jahre nach dem Eintreffen der CIA
war das pakistanisch-afghanistanische Grenzgebiet der weltweit größte
Heroinproduzent geworden. Die jährlichen Gewinne, zwischen 100 und 200
Milliarden Dollar, flossen zurück in die Ausbildung und Bewaffnung von
Militanten.
Im Jahr 1995 kämpften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte
von gefährlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert
wurden sie vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstützung
vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen
erstes Opfer die eigene Bevölkerung war, vor allem Frauen. Angesichts
der Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafür, dass
sich das Regime durch Kriegsdrohungen einschüchtern ließe oder
einlenken wird, um die Gefahr für die Zivilbevölkerung abzuwenden.
Kann es nach allem, was passiert ist, etwas Ironischeres geben, als dass
Russland und Amerika mit vereinten Kräften darangehen wollen, Afghanistan
abermals zu zerstören?
Auch Pakistan, Amerikas treuer Verbündeter, hat enorm gelitten. Die
amerikanischen Regierungen haben noch stets Militärdiktatoren unterstützt,
die kein Interesse an demokratischen Verhältnissen im Land hatten. Vor
dem Auftauchen der CIA gab es einen kleinen ländlichen Markt für
Opium. Zwischen 1979 und 1985 stieg die Zahl der Heroinsüchtigen von
null auf anderthalb Millionen an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben
drei Millionen afghanische Flüchtlinge. Die pakistanische Wirtschaft
liegt darnieder. Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte Transformationsprozesse
und Drogenbosse zerreißen das Land. Die Medresen und Ausbildungslager
für Terroristen, ursprünglich eingerichtet zum Kampf gegen die
Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan großen Rückhalt
haben. Die Taliban, von der pakistanischen Regierung seit Jahren unterstützt
und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle und strategische
Verbündete. Auf einmal bittet (bittet?) Amerika die pakistanische Regierung,
den Schoßhund, den es in seinem Hinterhof jahrelang groß gezogen
hat, abzustechen. Präsident Musharraf, der den Amerikanern Unterstützung
versprochen hat, könnte sich bald mit einer bürgerkriegsähnlichen
Situation konfrontiert sehen.
Indien kann von Glück reden, dass es, dank seiner geographischen Lage
und der Weitsicht früherer Politiker, bislang nicht in dieses Great
Game hineingezogen wurde. Unsere Demokratie hätte das höchstwahrscheinlich
nicht überlebt. Heute müssen wir entsetzt mit ansehen, wie die
indische Regierung die Amerikaner inständig darum bittet, ihre Operationsbasis
in Indien statt in Pakistan zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit
einer schwachen Wirtschaft und einem unruhigen sozialen Fundament müsste
wissen, dass eine Einladung an eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten
(ganz gleich, ob die Amerikaner für länger bleiben oder nur kurz
vorbeischauen wollen) fast so ist, als würde ein Autofahrer darum bitten,
ihm einen Stein in die Windschutzscheibe zu werfen.
In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der großen
Fernsehsender für nötig, ein Wort über die Geschichte des
amerikanischen Engagements in Afghanistan zu verlieren. Für all jene,
die von diesen Dingen nichts wissen, hätte die Berichterstattung über
die Anschläge informativ und aufrüttelnd sein können, wenn
Zyniker sie vielleicht auch übertrieben gefunden hätten. Für
uns aber, die wir die jüngste Geschichte Afghanistans kennen, sind die
amerikanische Berichterstattung und das Gerede von der "internationalen Allianz
gegen den Terror" einfach eine Beleidigung. Amerikas "freie Presse" ist dafür
genauso verantwortlich wie der "freie Markt".
Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung amerikanischer
Werte durchgeführt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in der ganzen
Welt erzeugen, und am Ende dürften diese Werte völlig diskreditiert
sein. Für die gewöhnlichen Amerikaner bedeutet das, dass sie in
einem Klima schrecklicher Ungewissheit leben werden. Schon warnt CNN vor
der Möglichkeit eines biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand),
der mit harmlosen Sprühflugzeugen geführt werden kann.
Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen überall auf der Welt, wird
die Kriegsatmosphäre als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere
Bürgerrechte einzuschränken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und
religiöse Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen
und viel Geld in die Militärindustrie zu stecken. Und wozu? Präsident
Bush kann die Welt ebenso wenig "von Übeltätern befreien", wie
er sie mit Heiligen bevölkern kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung
auch nur mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch
mehr Gewalt und Unterdrückung ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom,
nicht die Krankheit. Der Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist
ein supranationales, weltweit tätiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi
oder Nike. Beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten brechen Terroristen
die Zelte ab und ziehen, genau wie die Multis, auf der Suche nach besseren
Möglichkeiten mit ihren "Fabriken" von Land zu Land.
Der Terrorismus als Phänomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm
aber Einhalt gebieten, muss Amerika zunächst einmal erkennen, dass es
nicht allein auf der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit
anderen Menschen, die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben
und trauern und Geschichten und Lieder und Kummer haben und weiß Gott
auch Rechte. Doch als der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gefragt wurde,
was er als einen Sieg im neuen amerikanischen Krieg bezeichnen würde,
meinte er, ein Sieg wäre, wenn er die Welt davon überzeugen könne,
dass es den Amerikanern möglich sein müsse, an ihrem Way of Life
festzuhalten.
Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte
einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß,
von Osama Bin Ladin stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden
sein, aber sie könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der
Opfer von Amerikas alten Kriegen.
Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als
Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte,
die 200 000 Iraker, die bei der „Operation Wüstensturm“
starben, die Tausenden Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische
Besetzung des Westjordanlands den Tod fanden. Und die Millionen, die in Jugoslawien,
Somalia, Haiti, Chile, Nicaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen
Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und Massenmördern,
die amerikanische Regierungen unterstützt, ausgebildet, finanziert und
mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzählung ist keineswegs vollständig.
Für ein Land, das an so vielen Kriegen und Konflikten beteiligt war,
hat Amerika außerordentlich viel Glück gehabt. Die Anschläge
vom 11. September waren erst der zweite Angriff auf amerikanischem Territorium
innerhalb eines Jahrhunderts. Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche dafür
endete, nach einem langen Umweg, mit Hiroshima und Nagasaki. Heute wartet
die Welt mit angehaltenem Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.
Unlängst sagte jemand, dass, wenn es Osama Bin Ladin nicht gäbe,
die Amerikaner ihn erfinden müssten. In gewissem Sinne haben sie ihn
tatsächlich erfunden. Er gehörte zu den Kämpfern, die 1979
nach Afghanistan gingen, als die CIA mit den Operationen begann. Osama Bin
Ladin zeichnet sich dadurch aus, dass er von der CIA hervorgebracht wurde
und vom FBI gesucht wird. Binnen zweier Wochen avancierte er vom Verdächtigen
zum Hauptverdächtigen, und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels
an Beweisen, "tot oder lebendig" haben.
Nach allem, was über seinen Aufenthaltsort bekannt ist, könnte
es durchaus möglich sein, dass er die Anschläge nicht persönlich
geplant hat und an der Ausführung auch nicht beteiligt war - dass er
vielmehr der führende Kopf ist, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens.
Die Reaktion der Taliban auf die amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern,
war ungewöhnlich realistisch: Legt Beweise vor, dann händigen wir
ihn euch aus. Präsident Bush erklärte seine Forderung für
nicht verhandelbar. (Da gerade über die Auslieferung von Vorstandsvorsitzenden
gesprochen wird - dürfte Indien ganz nebenbei um die Auslieferung von
Warren Anderson bitten? Der Mann war als Chef von Union Carbide verantwortlich
für die Katastrophe von Bhopal, bei der sechzehntausend Menschen umkamen.
Wir haben die nötigen Beweise zusammengetragen, alle Dokumente liegen
vor. Also gebt ihn uns bitte!)
Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich möchte es anders formulieren:
Was ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist
der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale
Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe
einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet
wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte
Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Missachtung
aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen,
ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regime, ihre
wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm
durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden
Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir
stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken.
Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich
eins und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen
haben sich eine Zeit lang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die
amerikanischen Hubschrauber begrüßen werden, wurden von der CIA
geliefert. Das Heroin, das von amerikanischen Rauschgiftsüchtigen verwendet
wird, stammt aus Afghanistan. Die Regierung Bush ließ der afghanischen
Regierung unlängst 43 Millionen Dollar zur Drogenbekämpfung zukommen.)
Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher.
Jeder bezeichnet den anderen als "Kopf der Schlange". Beide berufen sich
auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse
zurück. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide
sind gefährlich bewaffnet - der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön
Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht
des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispickel. Keule und Axt. Man sollte
nur nicht vergessen, dass der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.
Präsident Bushs Ultimatum an die Völker der Welt - "Entweder ihr
seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen" - offenbart eine
unglaubliche Arroganz. Kein Volk will diese Wahl treffen, kein Volk braucht
diese Wahl zu treffen und keines sollte gezwungen werden, sie zu treffen.
Arundhati Roy wurde 1960 im südindischen Bundesstaat Kerala geboren.
Heute lebt sie in Neu-Delhi. Auf Grund ihrer politischen Aktivitäten
bekam sie mehrmals Probleme mit dem indischen Staat. So wurde eines ihrer
Bücher, der Roman „Der Gott der kleinen Dinge“, in dem sie
die Liebe zu einem Unberührbaren beschreibt, in Indien aus „moralischen“
Gründen verboten. Wie viele indische, aber auch pakistanische Intellektuelle
benennt sie die westliche Politik und die entsprechenden Wirtschaftsinteressen
als die primären Ursachen der sozialen Konflikte.
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