Versuch
einer Annäherung an einen Konflikt
Die deutsche Linke segelt zwischen Skylla und Charybdis
in Nahost
Von der Redaktion Initial
Zu Ostern dieses Jahres erlebte die Welt die Eskalation im Nahost-Konflikt.
Nach der Invasion mehrerer palästinensischer Flüchtlingslager
mit Hunderten von Toten – allein am so genannten Roten Freitag, dem 8. März
waren es 50 – antworteten bewaffnete palästinensische Organisationen
mit Anschlägen, denen Dutzende Israelis zum Opfer fielen. Die israelische
Antwort auf die Antwort war der Einmarsch seiner Armee in die Städte
des Westjordanlandes, die unter Kontrolle der Palästinensischen Nationalbehörde
(PNA) standen. Dabei kam es vielerorts zu mehrtägigen Kämpfen,
in deren Verlauf mehrere Hundert Palästinenser getötet wurden,
im Flüchtlingslager bei Jenin kam es zudem aller Wahrscheinlichkeit
nach zu einem Massaker an der Bevölkerung, dessen genaue Opferzahl bis
heute nicht bekannt ist. In Europa kam es daraufhin zu unzähligen Demonstrationen,
eine der größten war dabei die Demonstration in Berlin mit circa
20 000 Teilnehmenden. Im Vorfeld dieser Demonstration spitzte sich innerhalb
der deutschen Linken die Situation derart zu, dass Teile der antifaschistischen
Szene als so genannte Antideutsche offen zur Unterstützung der israelischen
Politik aufriefen und den unterstützenden Gruppen auf palästinensischer
Seite Antisemitismus vorwarfen. Am auffälligsten war hierbei sicherlich
die "Interim"-Ausgabe mit der israelischen Fahne als Titelblatt. Allerdings
kam es neben dieser spektakulären Geste auch zu einem Angriff auf eine
Veranstaltung dieser Antideutschen ebenso wie Antideutsche begannen, Fotos
von deutschen Unterstützern des palästinensischen Befreiungskampfes
anzulegen.
Nachdem wir in unserer letzten Ausgabe die Internationale Leninistische
Strömung mit einer propalästinensischen Position zu Wort kommen
ließen und zudem eine Veranstaltung im Anschluss an die Großdemonstration
für Palästina im Mehringhof mit einem palästinensischen Genossen
und der Antiimperialistischen Koordination aus Wien durchführten, mussten
auch wir den Vorwurf einstecken, antisemitische Positionen einzunehmen.
Dies, obwohl wir noch gar nicht unsere Position im Einzelnen benannt hatten.
Dies holen wir nun an dieser Stelle nach.
Geschichtlicher Hintergrund
Es bedarf keiner großen intellektuellen Anstrengung, um festzustellen,
dass der Staat Israel nunmehr seit über 56 Jahren existiert. Ebenso
ist es ein allgemeines Gut menschlichen Bewusstseins, den Beweggrund für
die Gründung Israels in der 2000-jährigen Geschichte des Antisemitismus
zu suchen, die neben Exzessen wie Pogromen vor allem eine permanent vorhandene
Unsicherheit, den latenten Ausnahmezustand, im Gedächtnis jeder jüdischen
Gemeinde in Europa hinterließ. Es sind diese kollektivierten Ängste,
die nicht nur Herzl dazu bewogen zu schreiben: "Wir ziehen natürlich
dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die
Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall, selbst in hoch
entwickelten Ländern – Beweis Frankreich –, solange die Judenfrage
nicht politisch gelöst ist." (Herzl: Der Judenstaat) Dies zeigt deutlich,
dass die zionistische Idee geboren wurde aus dem Wunsch, endlich – nach fast
zwei Jahrtausenden der Unterdrückung – einen jüdischen Staat zu
schaffen, der die Existenz der jüdischen Bevölkerung garantiert.
Herzl versprach sich von diesem Staat aber nicht nur eine bloße Existenzsicherung
für seine jüdischen Einwohner, er hoffte ebenso, dem Antisemitismus
in Europa die Grundlage zu entziehen und den verbleibenden Jüdinnen
und Juden eine bessere Ausgangslage zu schaffen. Außerdem verband er
mit einem eigenen jüdischen Staat die Hoffnung der Wiederaneignung der
Arbeit sowohl in Fabriken als auch mit dem Boden, von dem die jüdische
Bevölkerung in Europa bekanntlich jahrhundertelang ausgeschlossen war.
Es kann also mit Recht behauptet werden, dass der Zionismus zunächst
einmal bloß die Idee eines jüdischen Staates zum Schutze der jüdischen
Bevölkerung vor Ort wie auch in der Diaspora ist – damit ein Aspekt
also, der von der Linken sicher nicht negativ betrachtet werden kann.
Herzl nannte zwei Länder, in denen eine Staatsgründung erfolgen
könnte: Argentinien und Palästina. In Argentinien gab es genügend
nur dünn besiedeltes Land, das wie geschaffen schien zur Gründung
eines eigenen Staates. Palästina konnte hingegen für sich beanspruchen,
die historische Heimat gewesen zu sein, die auch nach 2000 Jahren immer
noch so weit präsent war, dass sich Jüdinnen und Juden verabschieden
mit den Worten: "Nächstes Jahr in Jerusalem". Wer den "Judenstaat"
liest, wird feststellen, dass Herzl Palästina viel mehr Platz einräumt
als Argentinien, auch fallen in diesem Zusammenhang die bekannten Worte
von Israel als einem "Wall gegen Asien", dem "Vorposten der Kultur gegen
die Barbarei". Zweifelsohne kann diese Passage nur als rassistisch motiviert
angesehen werden. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die Benennung
nur christlicher Stätten als von Juden zu schützende religiöse
Orte.
Die geschichtliche Entwicklung entschied für Palästina als zu
bevorzugendes Einreiseland, die Gründe für diese Entscheidung können
hier zweitrangig sein. Wichtig ist allein zu sehen, dass ein Land ausgesucht
wurde, in dem eine Bevölkerung seit Jahrhunderten lebte und das über
mehrere der wichtigsten religiösen Kultstätten verfügte, sowohl
für den christlichen als auch den jüdischen und den moslemischen
Glauben. Die sich entwickelnde zionistische Idee fächerte sich in eine
sozialistische (Syrkin, Katznelson, Borochov), in eine liberale (Herzl, Goldmann,
Weizmann), eine religiöse und eine revisionistische Strömung (Jabotinsky)
auf. Gerade die Revisionisten um Jabotinsky lehnten eine Verständigung
und vor allem eine Zusammenarbeit mit der palästinensischen Bevölkerung
ab und spalteten sich von der zionistischen Bewegung, nachdem die Weltkongresse
von 1921, 1925 und 1929 Resolutionen zur Zusammenarbeit mit der arabischen
Bevölkerung annahmen. Da die Orthodoxen die Gründung Israels nur
von Gott durchgeführt verstanden, lehnte ein Großteil dieser
Strömung die zionistische Idee ab. Anders jedoch der sozialistische
Flügel vor allem in Osteuropa, der mit der Poalei Zion (Arbeiter Zions)
sogar eine organisierte Kraft darstellte und mit der zweiten Einwanderungswelle
1905 aus Russland zur bestimmenden jüdischen Position in Palästina
wurde. Diese Strömung lehnte zwar die Zusammenarbeit mit jüdischen
Kapitalisten aus der Diaspora ab, da sie das Land den arabischen Großgrundbesitzern
abkauften, die es ohne Rücksicht auf die Interessen der angestammten
– vor allem "eigenen" – Bevölkerung verschacherten. Da jedoch ihr Gegenentwurf
des Kibbuzim die Wiederaneignung der Arbeit durch die jüdische Bevölkerung
beinhaltete, verwarfen auch sie den Gedanken der Zusammenarbeit vor Ort
mit der arabischen Bevölkerung. Allerdings gingen sie zu Beginn der
Einwanderung noch von einem gemeinsam zu führenden Klassenkampf der
jüdischen und arabischen Bevölkerung aus. Eine klare internationalistische
Position nahm hingegen der Flügel um Martin Buber ein, der mit seinem
"Haus des Friedens" ein Zusammenleben beider Bevölkerungen propagierte.
Sein Weggenosse Arthur Ruppin, der in Israel als Vater der Siedlungsbewegung
gilt, schrieb 1931 in seiner "Soziologie der Juden" von dem "Wunsch nach
Zusammenarbeit mit den Arabern", der von den Weltkongressen anerkannt wurde
ebenso wie die Tatsache, "dass in Palästina keine Nationalität
über die andere herrschen darf". Ihr Ziel war ein Staat, "in dem Juden
und Araber als zwei gleichberechtigte Nationalitäten nebeneinander
leben sollten". Allerdings wurde dieser "binationale Charakter Palästinas"
sowohl von den arabischen Feudalherren als auch von den zionistischen Revisionisten
verworfen. Da sich deren Positionen jedoch durchsetzten, ist eine Konfrontation
entstanden, bei der aufklärende Stimmen wie die Bubers kaum noch Gehör
fanden. Wie Herzl im "Judenstaat" darstellte, wuchsen bei der arabischen
Bevölkerung die antijüdischen Positionen aufgrund der massiven
Einwanderung. Gleichzeitig wandelte sich der emanzipatorische Gehalt der
zionistischen Idee in einen chauvinistischen, der nur noch die jüdische
Bevölkerung zum Inhalt hatte und über die Bedürfnisse der
anderen hinwegging. Die Beispiele der Aneignung des Wassers und die Annahme,
ähnlich wie in Argentinien auf ein "Land ohne Volk für ein Volk
ohne Land" zu treffen, mögen hierfür genügen. Dieser jüngere
zionistische Charakter kann von der Linken sicher nicht mehr unterstützt
werden.
Gerechtigkeit und Rechtfertigung der Staatsgründung
Nachdem 1945 die gesamte Welt das Ausmaß der Vernichtung erkannte,
stand die Gründung eines jüdischen Staates auf der Tagesordnung.
Sie war – und sie ist – gerechtfertigt, wobei Auschwitz nur der Endpunkt
ist, die Realität von über zwei Jahrtausenden Ausgrenzung, Benachteiligung,
Verfolgung und Mord darf nicht außer Acht gelassen werden. Allerdings
sind an dieser Geschichte der Verfolgung keine Moslems beteiligt gewesen,
im Gegenteil hat ihre Anwesenheit bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die
jüdische Bevölkerung oft geschützt, so in Spanien bis zum
Fall Granadas 1492, nach dessen Eroberung durch die "katholischen Könige"
sich bald die Inquisition zur Ausrottung des jüdischen Glaubens anschloss;
während der verschiedenen Kreuzzüge wie in Worms 1096, als ein
Kreuzrittermob den ersten belegten antijüdischen Pogrom in Deutschland
durchführte; und eben in Jerusalem selbst, wo das christliche Heer nach
der ersten Eroberung 1099 die moslemische und die jüdische Bevölkerung
hinmetzelte. Nicht vergessen werden sollten die osmanischen Sultane, die
den aus Spanien flüchtenden sephardischen Juden eine Existenzgarantie
boten, so dass diese nach Bosnien zogen, wo sie erst 1992 von serbischen
Granaten vertrieben wurden.
Die Gründung Israels war also gerechtfertigt, gerecht war sie aber
nicht im Bezug auf das Gebiet dieses Staates. Es ist mühselig, dabei
von dem Starrsinn der arabischen Bevölkerung zu sprechen, denn das Recht,
eine Siedlerbewegung abzulehnen, die zudem in nicht unermesslicher Zahl auch
chauvinistische Positionen vertritt, kann der arabischen Bevölkerung
nicht abgesprochen werden. Die einzige Bevölkerung, die nach 1945 kein
Recht besessen hätte, einer jüdischen Einwanderung ablehnend gegenüberzustehen,
wäre die deutsche gewesen. Doch anders als in Tschechien, auf dem Balkan,
im heutigen Polen und der Sowjetunion kam es im übrigen Deutschland nicht
zu einer jüdischen Besiedelung bei gleichzeitiger Vertreibung der deutschen
Bevölkerung. Die vier Besatzungszonen wurden ihr belassen. Wenn also
von Gerechtigkeit gesprochen wird, sollte es grade auch den so genannten
Antideutschen leicht fallen, einzugestehen, dass die Gründung Israels
in Palästina nicht gerecht war, in Deutschland aber mit aller Gerechtigkeit
ausgestattet gewesen wäre.
Es kam nun mal aber anders, Israel ist, wie zu Beginn erwähnt, seit
56 Jahren existent. Seine Geschichte ist von Ungerechtigkeit geprägt.
Wenn jetzt aber wieder die jüdische Bevölkerung vertrieben würde,
bedeutete dies nur neues Unrecht, denn auch hier leben nun Menschen, die
in Tel Aviv oder Beerscheba ihre Heimat sehen und nicht vertrieben werden
wollen. Es ist daher zwar richtig, von einem historischen Fehler der Staatsgründung
zu sprechen, nützen tut dies jedoch nichts, denn die Realität
ist nun mal so.
Israelische Realität
Die israelische Gesellschaft nennt sich stolz "die einzige Demokratie in
Nahost". Sicher kann sie das auch mit Recht behaupten, denn anders als in
den arabischen Nachbarstaaten wurde hier noch jede Regierung von der Bevölkerung
gewählt. Trotzdem aber ist Israel weit von einer Gesellschaft entfernt,
die von bürgerlicher Seite gerne als Zivilgesellschaft bezeichnet wird.
Die Entwicklung des Zionismus hin zu einer chauvinistischen, die palästinensische
Bevölkerung ausgrenzenden Ideologie hat dazu geführt, dass der
auch nach 56 Jahren alles bestimmende Konflikt mit der palästinensischen
Bevölkerung noch immer mit Gewalt gelöst wird, ein Mittel, das
in einer Zivilgesellschaft in der Theorie nicht vorkommen sollte. Dabei wird
das gesamte Arsenal angewandt, von Massakern in einzelnen Dörfern zur
Vertreibung der Bevölkerung im gesamten Gebiet während des Ersten
Israelisch-Arabischen Krieges (Deir Jassin), über Folter, die auch gesetzlich
in bestimmten Grenzen legitimiert ist, oder Wasserentzug für palästinensisch
besiedelte Gebiete in einem Ausmaß, dass selbst der Wasserspiegel im
Toten Meer um über 15 Meter seit 1967 gesunken ist, bis zu Kollektivstrafen
für ganze Familien, denen die Häuser zerstört werden und die
nun sogar von der Deportation bedroht sind, oder eine umfassende Entrechtung
der palästinensischen Bevölkerung, denen aufgrund ihrer Herkunft
selbst die Benutzung des Straßenlandes verwehrt wird. Erst neulich
wurde ein Gesetzentwurf zurückgezogen, der es moslemischen Israelis
untersagte, staatliches Land zu erwerben. All dies lässt Überlebende
der deutschen Vernichtungslager von Parallelen zur Nazi-Barbarei sprechen,
als palästinensischen Gefangenen 2001 sogar Nummern auf die Arme geschrieben
wurden, kam es in Israel deshalb zu tagelangen Protesten gerade dieser Überlebenden.
Da Israel sich gegen den Willen der angestammten Bevölkerung durchsetzen
musste, lag ein besonderes Gewicht dieses Staates im Militärischen.
Ein Beispiel dafür ist die enorme Dauer des Wehrdienstes von zwei Jahren
für Frauen und drei Jahren für Männer. Den Wehrdienst hat
so ziemlich jeder zu leisten, die einzige Ausnahme bilden hier orthodoxe
Juden. Aufgrund des permanenten Kriegszustandes ist eine Entwicklung eingetreten,
die eine extreme Militarisierung der gesamten Gesellschaft provozierte,
die sich nicht nur auf den Staat und seine Armee beschränkte, sondern
auch im Zivilbereich, so zum Beispiel innerhalb der Siedlungen und deren
Gemeinschaften, ihren Ausdruck fand. Selbst Teenager werden einer paramilitärischen
Ausbildung unterzogen, uniformiert und bewaffnet. Außerdem werden regelmäßig
höchste Offiziere der Armee in die wichtigsten Regierungsämter
gewählt (Dajan, Begin, Peres, Scharon, um nur einige zu nennen), die
Trennung zwischen Legislative und Exekutive ist hier zumindest gefährdet.
Ohne Zweifel kann von Israel als einem Siedlerstaat gesprochen werden, dessen
Kennzeichen wie eine gewisse Volksbewaffnung, die Existenz von Wehrdörfern
und die Entrechtung der unter Besatzung lebenden Bevölkerung auch hier
zu finden sind. Hier liegen Ähnlichkeiten zu den Ureinwohnern in Nordamerika,
den Aborigines in Australien und der schwarzen Bevölkerung in Südafrika
auf der Hand.
Ein weiteres Kennzeichen ist eine hohe Gewaltbereitschaft auch untereinander.
Wer einen Blick in die israelische Tageszeitung "Ha'aretz" wirft, wird häufig
auf Berichte stoßen, in denen von bewaffneten Auseinandersetzungen
in Kneipen zwischen israelischen Einwohnern die Rede ist. Des Öfteren
kommt es wegen Nichtigkeiten zu bewaffneten Auseinandersetzungen, Wild West
in Nahost. Vor kurzem berichtete die Berliner Tageszeitung "Die Welt" von
einer Zunahme der psychischen Erkrankungen, die Praxen erleben einen enormen
Zulauf. 1916 schrieb Lenin in seinen "Ergebnissen der Diskussion über
die Selbstbestimmung": "Ein Volk kann nicht frei sein, das andre Völker
unterdrückt." Diese Aussage beweist sich in der Verrohung der israelischen
Gesellschaft jeden Tag. Wie unfrei eigentlich die israelische Bevölkerung
selbst ist, wird aber auch an den Wirtschaftsdaten deutlich: Kaum eine Familie
in Israel ist nicht enorm verschuldet, die meisten Einwohner gehen zwei Jobs
nach, einfach um die enormen Lebenshaltungskosten wenigstens halbwegs abdecken
zu können. Die meisten werden sich sicherlich noch an die letzte israelische
Regierungskrise erinnern, als der Likud zusammen mit der Arbeitspartei aufgrund
der durch die neuerliche Besetzung des Westjordanlandes anfallenden Kosten
die Sozialausgaben kürzen und dabei auch an den Pfründen der religiösen
Schas-Partei nicht vorbeigehen wollte. Der Krieg fordert eben seinen Preis.
Israel wendet über 20 Prozent seines Haushalts für die Armee auf,
die Wachstumsrate der Industrie sank von prognostizierten sechs Prozent
auf zwei bis drei Prozent. Gleichzeitig erlebt das Land eine hohe Arbeitslosenquote
von 300 000 bei etwa fünf Millionen Einwohnern, auf Deutschland bezogen
wären das 4,8 Millionen. Der extreme Kriegsdruck und die wirtschaftlich
desolate Lage führten schließlich auch zu einer hohen Auswanderungsquote
vorwiegend in die USA. Ende der achtziger Jahre wurden deshalb schon Stimmen
laut, die von einem Auszehrungsprozess in Israel sprachen, der erst mit
der neuen Einwanderungswelle der jüdischen Bevölkerung aus der
ehemaligen Sowjetunion gestoppt werden konnte.
Die Bilanz dieser hohen Kriegsfähigkeit ist dafür auf der anderen
Seite ziemlich beeindruckend. Die ersten drei Israelisch-Arabischen Kriege
konnte Israel klar für sich entscheiden. Im vierten (Jom-Kippur-Krieg)
stand es 1973 schon am Rand einer Niederlage, fast das gesamte Kriegsgerät
war schon zerschossen, als Schimon Peres als Mitglied des Generalstabs bei
den USA Druck machte, sofort neue Waffensysteme zu liefern, anderenfalls
ein Atomwaffeneinsatz nicht mehr abzuwenden sei. Daraufhin zogen sich die
arabischen Armeen zurück, und ein Waffenstillstand stellte den alten
Frontverlauf des Status quo ante wieder her. Im Libanonfeldzug 1982 schließlich
eroberte Israel den gesamten Süden des Libanon, konnte aber die in Beirut
verschanzten palästinensischen Organisationen nicht zerschlagen.
An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Israel bis auf
den Vierten Israelisch-Arabischen Krieg alle Kriege begonnen hat, den zweiten
sogar als Handlanger der westlichen Industriestaaten, die nach der Verstaatlichung
des Suezkanals durch die ägyptische Regierung unter Nasser befürchteten,
diesen lebenswichtigen Verkehrsweg zu verlieren. Israel schickte sich sofort
an, den Kanal zu erobern, und wurde dabei militärisch von den USA und
von Großbritannien unterstützt und verwies zur Rechtfertigung
auf Herzls Wall gegen die Barbarei.
Mit der Gründung Israels in Palästina zementierte sich die zionistische
Idee eines jüdischen Staates in einer Form, die der palästinensischen
Bevölkerung der Existenz in ihrer Heimat beraubte. Die Vertriebenen
von 1948 sind dafür der deutlichste Ausdruck. Allerdings hat sich innerhalb
der zionistischen Bewegung mit der Formulierung von Eretz Israel (Großisrael)
eine Strömung in erheblichem Ausmaß etabliert, die der palästinensischen
Bevölkerung insgesamt ein Heimatrecht absprechen will. Diese Strömung
bezieht ihre Position aus der jüdischen Existenz von vor 2000 Jahren,
die Westbank ist demzufolge als Samaria und Judäa Teil Israels. Nicht
nur innerhalb des Likud ist diese Strömung mehrheitsfähig, auch
innerhalb der so genannten Arbeitspartei stößt diese Position
auf Zustimmung, und selbst der jetzige israelische Ministerpräsident
Ariel Scharon unterstützt diese Haltung, was zuletzt im Fernsehinterview
mit Michel Friedmann deutlich wurde. Eine weitere, nicht zu unterschätzende
Strömung stellen die Siedler dar, deren Führung sich hauptsächlich
aus Eingewanderten aus den USA zusammensetzt. So sind die Führer der
Siedlung in Hebron wie der gesamten Kach-Bewegung um Kahane in New York
aufgewachsen. Letztere kopiert sogar die Losungen der NSDAP, wenn sie zu
Kampagnen zum Boykott palästinensischer Produkte und ihrer Anbieter
aufruft. Wir können also mit Recht bei Israel von einem Siedlerstaat
sprechen, dessen extremste Ausformungen bis ins Faschistische reichen.
Allerdings hat sich in Israel neben einem liberalen Bürgertum, für
das beispielsweise die kürzlich zurückgetretene Tochter des ermordeten
Ministerpräsidenten Jitzack Rabin, Dalia Rabin-Pelossof, steht, auch
eine Linke entwickelt, zumeist um die alte KP, das Alternative Information
Center und die Friedensbewegung Gusch Schalom (Peace Now). Letztere veröffentlichte
nun eine Studie über die Siedler, der zufolge 68 Prozent mit einem
Abbau der Siedlungen einverstanden wären. Nur 26 Prozent der Siedler
würden einen legalen Widerstand leisten wollen, ganze sechs Prozent
würden auch zu den Waffen greifen. Weiter belegt die Studie, dass mittlerweile
die Religiösen, deren Zielsetzung die Besiedelung des historischen jüdischen
Staates ist, unter den Siedlern in die Minderheit geraten sind, ein Großteil
der Siedler stammt nun aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, die
in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Israel kamen und sich in den
Siedlungen niederließen, wobei sie meist erst mit dem Einzug bemerkten,
in welche Umstände sie geraten sind. Schon jetzt sind diese zu einem
Umzug bereit, steckten aber mit Hypothek und unverkäuflichen Wohnungen
in den Siedlungen fest. Diese am 25. Juli in der "Ha'aretz" veröffentlichten
Zahlen zeigen deutlich, dass die Siedler kein Hindernis mehr für einen
Friedensschluss sind.
Ein weiterer Aspekt berührt die Grundlage Israels: Sprach Herzl noch
von einem jüdischen Staat, so müssen wir heute feststellen, dass
der jüdische Bevölkerungsanteil nicht mehr als 80,5 Prozent beträgt,
neben der ethnischen Minderheit der Drusen (1,7 Prozent) besteht aber die
Bevölkerung in Israel mindestens zu 14,6 Prozent aus moslemischen Israelis,
vorwiegend aus Palästinensern, die 1948 nicht geflohen sind. Diese
leben vor allem im nördlichen Galiläa, so zum Beispiel in Nazareth.
Obwohl sie die israelische Staatsbürgerschaft besitzen und zumindest
in einigen paramilitärischen Einheiten ihren Wehrdienst ableisten,
sind sie vielfach rechtlich benachteiligt. So ist ihnen der Landkauf zwar
nicht verwehrt, dafür aber ziemlich erschwert. Auch kommt es öfters
zu polizeilichen Übergriffen, zurzeit wird zum Beispiel der Polizeieinsatz
nach tagelangen Unruhen im Anschluss an Scharons Besuch auf dem Tempelberg
untersucht, bei dem 17 palästinensische Israelis erschossen wurden.
Am stärksten sind die palästinensischen Israelis im Bildungssektor
benachteiligt. Da das Niveau der Schulen sich nicht mit denen der jüdischen
Kinder messen kann, sind nur fünf Prozent der Studierenden palästinensischer
Herkunft. Der Mediensektor steht hier stellvertretend für den gesamten
qualifizierten Bereich. Als Redakteure arbeiten in Israel gerade einmal fünf
Palästinenser, zwölf im staatlichen Rundfunk. Diese Situation entspricht
in keiner Weise mehr den Bestrebungen, die in der Unabhängigkeitserklärung
niedergeschrieben wurden. Dort heißt es: "Der Staat . . . wird all
seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht,
soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens-
und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten,
die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen
der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben. (. . .) Wir wenden uns –
selbst inmitten mörderischer Angriffe, denen wir seit Monaten ausgesetzt
sind – an die in Israel lebenden Araber mit dem Aufrufe, den Frieden zu wahren
und sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung und entsprechender
Vertretung in allen provisorischen und permanenten Organen des Staates an
seinem Aufbau zu beteiligen." Die Tageszeitung "Ha'aretz" hat nun vor kurzem
mit der gezielten Ausbildung palästinensisch-israelischer Journalisten
begonnen.
Palästinensische Realität
Mit der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung vor allem
um Haifa, Tel Aviv und Jerusalem begann 1948 das palästinensische Flüchtlingselend.
Aufgenommen wurden die meisten von den arabischen Nachbarstaaten, wobei
Jordanien damals noch die Kontrolle über das Westjordanland besaß
und Ägypten den Gazastreifen kontrollierte, mithin also Gebiete, die
1967 während des Dritten Israelisch-Arabischen Krieges (Sechstagekrieg)
auch unter israelische Kontrolle gerieten. Nach der Eroberung des Gazastreifen
und der Westbank kam es kaum zu einer Flüchtlingsbewegung. Wenn heute
von palästinensischen Flüchtlingen gesprochen wird, bezieht sich
dies auf die 1948 Geflüchteten und ihre Nachkommen. In diesen Lagern
außerhalb Palästinas bildete sich der palästinensische Widerstand,
hier, vor allem westlich des Jordanufers, formierten sich ab 1958 die Fatah
und nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg die PFLP. Ein israelischer
Versuch, die bewaffneten palästinensischen Organisationen im jordanischen
Al Karamah anzugreifen, endete für Israel in einem Fiasko, der Nimbus
der Unbesiegbarkeit war damit zerbrochen, und die Organisationen erlebten
mit diesem Sieg einen enormen Zulauf aus den Lagern. Im Gazastreifen und
auf der Westbank verhielt sich die Bevölkerung jedoch relativ passiv,
hier konnte keine der bekannten palästinensischen Organisationen bis
in die achtziger Jahre eine starke Basis aufbauen.
Die 1948 eingerichteten Flüchtlingslager gleichen heute normalen Stadtteilen,
die provisorischen Zelte sind Häusern gewichen – ein untrügliches
Zeichen für das Einrichten auf eine lange Zeit. Allerdings ist der
Hausbau so ziemlich das einzige Zugeständnis der palästinensischen
Flüchtlinge sowie der arabischen Regierungen, die den Hausbau tolerierten.
Ansonsten ist das Leben in diesen Lagern auch nach 56 Jahren immer noch als
Provisorium ausgelegt. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch, eine Ausbildung
fast ausgeschlossen. Obwohl die arabischen Regierungen gern vom palästinensischen
"Brudervolk" reden, haben sie fast keine Erleichterung geschaffen, im Gegenteil
sind es meist die eigenen Gesetze wie beispielsweise ein Arbeitsverbot,
die ein halbwegs normales Leben verhindern. Eine mögliche Integration
wird somit erschwert. Dieses unsolidarische Verhalten vor Ort hat seine
Entsprechung auf dem internationalen, dem diplomatischen Parkett. Die von
den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien eingesetzten
Monarchien haben noch immer die Politik des Westens unterstützt. Beide
Seiten gehen dabei sehr opportunistisch vor: Der Westen hebt zwar demokratische
Errungenschaften auf seine Fahnen, dass Frauen in Saudi-Arabien beispielsweise
nicht einmal einen Wagen fahren dürfen geschweige denn wählen,
interessiert ihn jedoch überhaupt nicht. Gleiches gilt für die
als religiöser Erneuerer auftretende wahhabitische Saud-Dynastie, die
einerseits eine Reislamisierung anstrebt, zum anderen jedoch der absoluten
Selbstbereicherung frönt und sich dabei auch nicht scheut, mit dem
so genannten gottlosen Westen zu kungeln. Die Spitze dieses "brüderlichen"
Verhaltens ist jedoch ungemein blutig. So ließ der jordanische König
Hussein im September 1970 kurzerhand seine Armee gegen die Flüchtlingslager
aufmarschieren, um die PLO zu zerschlagen, deren Existenz zunehmend seine
eigene Regentschaft infrage stellte. Um deren Einfluss auch auf Jordanien
zu beschneiden, schreckte die jordanische Armee nicht einmal vor einem Massaker
zurück, das an die 20 000 Opfer kostete. Dieses als Schwarzer September
in die palästinensische Geschichte eingegangene Massaker ist der größte
Verlust, den die palästinensische Bevölkerung in so kurzer Zeit
zu beklagen hatte, ein Massaker nicht unter der Regie Israels, sondern im
Auftrag einer befreundeten Regierung.
Nach dem Schwarzen September reorganisierten sich die palästinensischen
Organisationen im Libanon, dessen Bevölkerung in Christen und meist
schiitischen Moslems geteilt ist. Der von der christlichen Bevölkerung
1975 begonnene Bürgerkrieg richtete sich vor allem gegen den wachsenden
palästinensischen Einfluss, um einem sozialistischen Umsturz in dem
"Schweiz des Nahen Ostens" genannten Land vorzubeugen. Die palästinensischen
Organisationen bildeten daraufhin die aus der schiitischen Bevölkerung
hervorgegangene Amal aus. Trotzdem gelang es Israel bei seinem Einmarsch
in den Libanon 1982 relativ schnell, den gesamten Süden des Landes bis
nach Beirut zu erobern und die libanesischen und palästinensischen Einheiten
zu schlagen. Nach israelischen Geheimdienstangaben wurden bei dem Vormarsch
auch Guerilleros aus 90 Ländern gefangen oder getötet, ein Beleg
für die internationalistische Haltung der PLO. Da die israelischen Truppen
jedoch Beirut nicht einnehmen konnten, bekam die PLO die Möglichkeit,
ihre bewaffneten Kräfte nach Algerien abzuziehen. Damit war aber die
militärische Kraft der palästinensischen Organisationen in der
unmittelbaren Nähe zu Israel gebrochen, eine Befreiung durch den palästinensischen
Widerstand von außen unmöglich. Kurz nach dem Abzug kam es in
den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in Beirut
zu den von der christlichen Falange begangenen Massakern, die von den israelischen
Truppen gedeckt wurden. Der für den Feldzug verantwortliche Kommandeur
war der heutige Ministerpräsident Ariel Scharon, der wegen der Massaker
von einem israelischen Gericht verurteilt wurde und auf Lebenszeit kein Ministeramt
mehr bekleiden darf. Die Massaker veranlassten die PLO, wieder bewaffnete
Kräfte in den Flüchtlingslagern aufzubauen, die aber nun auch von
den eigentlich verbündeten schiitischen Organisationen der Amal und
der Hisbollah in den so genannten Lagerkriegen 1985/86 angegriffen wurden.
Ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren alle Hoffnungen, die
die palästinensische Bevölkerung sowohl in den besetzten Gebieten
als auch in den Flüchtlingslagern außerhalb Palästinas je
in die PLO setzen konnte, verflogen. Keine der in der PLO organisierten
Gruppen schien eine Befreiung bewerkstelligen zu können, sie waren
schlicht und einfach geschlagen durch die militärische Übermacht
Israels und den Verrat der arabischen Nachbarn. Für die Bevölkerung
in den besetzten Gebieten kam zudem noch hinzu, dass sie in den 20 Jahren
der israelischen Besatzung sowieso kaum Kontakte zur PLO hatte, weshalb hier
ein Vakuum entstand, dass religiöse Gruppen wie Hamas und Dschihad für
sich nutzen konnten. Israel unterstützte zudem in den achtziger Jahren
die Hamas, um mit ihr ein Gegenpol zur PLO aufzubauen. Als schließlich
1987 die erste Intifada begann, konnten die verschiedenen Organisationen
innerhalb der PLO zwar wieder Fuß fassen in Palästina, gleichzeitig
verstärkte sich aber auch der Einfluss der religiösen Organisationen.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der verschiedentlich als Ursache für
den Einflussverlust der PLO-Organisationen angeführt wird, bestimmte
erst einige Jahre später die politischen Entwicklungen, die Verschiebungen
hin zur religiösen Rechten kann er somit nicht rechtfertigen, allerdings
hat er sicherlich zur Verfestigung der schon vorhandenen Entwicklung beigetragen.
Als im Rahmen des Osloer Friedensprozesses die PLO in Form der Palästinensischen
Nationalbehörde (PNA) schließlich in den Gazastreifen und die
Westbank zurückkehrte, stießen zwei Lebenswelten innerhalb der
palästinensischen Bevölkerung aufeinander: hier die Funktionäre
aus den weit entfernten Flüchtlingslagern, die die Administration übernahmen,
dort die Bevölkerung, die nicht nur 25 Jahre unter Besatzung lebte,
sondern vor allem den Widerstand vor Ort und somit auch den Aufstand während
der ersten Intifada getragen hatte, also der Bevormundung und der Repression
ausgesetzt war. Die Funktionäre führten schon in den Flüchtlingslagern
ein relativ gutes Leben, als neue Mandatsträger in Palästina gerierten
viele sich nun wie neue Feudalherren, die ihren Luxus zur Schau stellten,
an der desolaten Lebenssituation der Bevölkerung wenn überhaupt
aber nur marginal etwas änderten. Mitte der neunziger Jahre war es
allenfalls über den Bau der palästinensischen Infrastruktur wie
der Behördengebäude und des Flughafens möglich, eine Beschäftigung
zu finden, die meisten waren aber nach wie vor darauf angewiesen, in Israel
als Hilfsarbeiter einen Job zu finden oder eben von Almosen zu leben. Investitionen
zum Aufbau einer eigenen Wirtschaft leistete die PNA kaum, ein Großteil
der international zur Verfügung gestellten Gelder verschwand in die
Taschen der Funktionäre. Folgerichtig ist die Erwerbslosenquote extrem
hoch, im Gazastreifen beträgt sie momentan 80 Prozent. Viele versuchen
deswegen, in Israel auch illegal Arbeit zu finden, auch wenn die Strafen
hierfür hoch sind. So wurde das Gefängnis Damon im Karmelgebirge,
das zuvor geschlossen wurde, weil es nach Meinung des damaligen Polizeiministers
Schlomo Ben-Ami "ungeeignet für menschliches Gewahrsam" ist, Ende 2001
für Palästinenser wieder in Betrieb genommen, die ohne Erlaubnis
in Israel Arbeit suchten, dort aber auch aus Sicht der Justiz sich nur aus
Arbeitsgründen aufhielten. Für den Diebstahl einer Videokamera
bekommt ein palästinensischer Gefangener fünf Jahre, ein israelischer
den Bruchteil davon.
Da Israel zudem schon unter der Netanjahu-Regierung nicht bereit war, die
in Oslo zugesicherten Schritte der Gebietsrückgabe konsequent umzusetzen,
und allenfalls einen Teil der besetzten Gebiete zurückgeben wollte,
konnte für die palästinensische Bevölkerung keine wesentliche
Verbesserung der Lebensverhältnisse erreicht werden. Nach den Vorstellungen
des Likud sollte die palästinensische Autonomie über meist voneinander
getrennte Gebieten um die größeren Städte existieren, abgeschnitten
vom Jordanwasser, dessen Kontrolle Israel behalten würde. Auch die
im Juli 1980 durchgeführte Annexion des Ostteils von Jerusalem sollte
Bestand haben, womit die islamische Welt nicht mehr über die Vollzugsgewalt
über eines ihrer drei wichtigsten Heiligtümer verfügen würde.
Dass diese Autonomie kaum lebensfähig wäre, war nicht nur den palästinensischen
Organisationen klar, selbst breite Teile der israelischen Gesellschaft sahen
in dieser begrenzten Autonomie ein lebensunfähiges Homeland, in das
die palästinensische Bevölkerung gesperrt werden sollte. Der Sieg
der israelischen Arbeitspartei unter Barak war daher auch ein Ausdruck der
Hoffnung in Israel, endlich mit der PLO einen beiderseits akzeptablen Frieden
zu finden. Barak bot auch folgerichtig etwa 80 Prozent der besetzten Gebiete
für einen zu gründenden palästinensischen Staat an, außerdem
das armenische und das moslemische Viertel der Altstadt von Jerusalem, die
Kontrolle über den Tempelberg wäre aber weiterhin in israelischer
Hand geblieben.
Dieses weitreichendste Angebot einer israelischen Regierung hätte
die Lage der palästinensischen Bevölkerung jedoch auch nicht wesentlich
verbessern können, denn noch immer wären die meisten abhängig
geblieben von Hilfen von außen, der Aufbau einer eigenständigen
Wirtschaft nur begrenzt möglich gewesen. Darüber hinaus sollte
der PNA wesentliche Funktionen eines Staates vorenthalten bleiben wie das
Recht auf Verteidigung inklusive der Sicherung der Grenzen, was zur Folge
gehabt hätte, dass die israelische Armee weiterhin als erste Ordnungsmacht
aufgetreten wäre. Der unter einer alltäglichen extremen Repression
stehenden Bevölkerung war dieser Aspekt sicher nicht vermittelbar. Insgesamt
beinhaltete der Vorschlag gerade einmal die Ausübung der Kontrolle über
80 Prozent der besetzten Gebiete. Die Benutzung vieler Straßen wäre
der palästinensischen Bevölkerung nach wie vor verweigert gewesen,
beispielsweise hätten die Bewohner des nur etwa 100 Meter vom Mittelmeer
entfernt gelegenen Flüchtlingslagers Rafah auch mit diesem Vorschlag
nicht das Recht bekommen, an die vor Augen liegende Küste zu gehen,
da die israelische Siedlung den Küstenstreifen für sich beansprucht.
Außerdem sah der Vorschlag vor, die Flüchtlinge nicht in ihre
ehemalige Heimat zurückzulassen, was bedeutet hätte, sie entweder
in den Aufnahmeländern zu integrieren oder aber in
den Autonomiegebieten anzusiedeln, was den wirtschaftlichen Druck ins Unermessliche
verstärkt hätte. Es mag sein, dass die Regierung Barak bei der
Weigerung der Rückführung der Flüchtlinge keine bösen
Absichten hatte, denn immerhin wären damit die Bevölkerungsanteile
erheblich verschoben worden und damit die Idee eines jüdischen Staates
endgültig zu Grabe getragen worden. Andererseits bauten nicht nur die
vom Likud geführten Regierungen Netanjahu und Scharon die Siedlungen
im Westjordanland aus, auch die Regierung Barak verzeichnete einen Zuwachs
an Siedlungen, was selbst die USA dazu bewog, einen Stopp des Siedlungsausbaus
zu fordern. Schließlich war es Scharon selbst, der mit seinem vom Militär
erzwungenen Besuch des Tempelbergs nicht nur einen möglichen Friedensschluss
sabotierte, sondern auch die zweite Intifada auslöste und damit vorerst
alle Hoffnungen auf eine Lösung begrub.
Konsequenzen des Scheiterns von Oslo
Die zweite Intifada brachte bisher keiner Seite einen Erfolg, im Gegenteil
scheint sie sowohl die israelische als auch die palästinensische Bevölkerung
in den vorhandenen Gräben zu zementieren, mit dem einzigen “Erfolg”
steigender Opferzahlen. Bis zum 18. Juni starben 562 Menschen auf israelischer
Seite, 1827 starben auf palästinensischer Seite. Sowohl die israelische
Armee als auch die religiösen palästinensischen Organisationen
nehmen auf Unbewaffnete keine Rücksicht, Kinder werden oft zu Opfern
der Angriffe beider Seiten. Obwohl sowohl die israelische Armee als auch
Scheich Jassin als Militärchef der Hamas beispielsweise stets betonen,
Unbewaffnete nicht angreifen zu wollen, hat es fast den Anschein, als würden
die Konfliktparteien gerade die Zivilbevölkerung suchen. Stets argumentieren
sie mit der Legitimierung vorheriger Angriffe der Gegenseite. Nach dem biblischen
Motto "Auge um Auge, Zahn um Zahn" wird so zumindest die eigene Stellung
unter seinesgleichen aufrechterhalten und damit der nächste Anschlag,
das nächste Bombardement gerechtfertigt. Obwohl Scharon nicht von einer
Mehrheit der israelischen Gesellschaft gewählt wurde und zum Ende des
Jahres 2001 aufgrund fehlender Erfolge im Kampf gegen die Intifada bei gleichzeitig
desolater Wirtschaftslage kaum noch über genügend Rückhalt
in der israelischen Bevölkerung verfügte, kann er heute wegen
der jüngsten Kriegsentwicklung auf über 70 Prozent Zustimmung
verweisen. Auch die religiösen palästinensischen Organisationen
Hamas und Dschihad sowie die Al-Aksa-Brigaden genießen unter der palästinensischen
Bevölkerung eine weitaus höhere Zustimmung als vor dem Beginn
der Intifada. Sowohl die israelische als auch die palästinensische
Linke haben stark an Einfluss verloren. Heute stehen nationalistische und
religiöse Einstellungen im Vordergrund, ein internationalistisches
Bewusstsein ist nur noch selten gefragt, von einem Miteinander brauch gar
nicht erst gesprochen werden. Die Schlagwörter der politischen Debatte
sind heute Deportation, Vertreibung, Vergeltung. Es ist daher auch kein
Wunder, dass für "Gewissensfragen", wie die "Welt" einmal formulierte,
"immer weniger Raum" bleibt. Übergriffe der Armee oder Angriffe gar
auf Schulbusse sind in dieser aufgeheizten Situation die natürliche
Folge. Die Folgen der Deformierungen der Kämpfenden werden aber erst
dann sichtbar, wenn sie in die Gesellschaft entlassen werden. Der Druck
innerhalb der jeweiligen Wagenburg nimmt schon totalitäre Züge an,
mittlerweile müssen regierungs-, aber vor allem kriegskritische Journalisten
selbst bei der liberalen Tageszeitung "Ha'aretz" mit der Einstellung ihrer
Kolumnen rechnen, da große Teile der Bevölkerung regelmäßig
sich in den Redaktionen erbost zu Wort melden und Unternehmen ihre Anzeigen
zurückziehen. Die israelische Friedensbewegung Gusch Schalom wird wegen
ihrer Ankündigung, Material über israelische Armeeangehörige
zu sammeln, die sich im Dienst Verbrechen schuldig machen, bis hinauf zu
Scharon als "Verräter" bezeichnet. Mittlerweile sprengen sich 18-Jährige
in die Luft und reißen Gleichaltrige mit in den Tod. Mehr braucht
wohl nicht über die Perspektivlosigkeit gesagt zu werden.
Positionen deutscher Linker
Die verhärteten Fronten vor Ort scheinen ihre Entsprechung auch in
Deutschland zu finden. Hier hat sich mit den so genannten Antideutschen eine
Position entwickelt, die die vormals von der Radikalen Linken getragene Solidarität
mit Palästina nicht nur infrage stellt, sondern zudem als antisemitischen
Reflex denunziert. Im Vorfeld der Palästina-Demonstration im April
in Berlin kam es von dieser aus dem antifaschistischen Spektrum hervorgegangenen
Strömung zu ersten klaren Zeichen, eine solidarische Position mit Palästina
nicht länger zu tolerieren. Mehrfach wurden in Berlin Menschen aus
dem Solidaritätsspektrum namentlich benannt, Plakate werden regelmäßig
abgerissen, teilweise sogar unter Polizeischutz. Gleichzeitig werden Zentren
und Einzelne bei der Polizei für vermeintliche Angriffe denunziert.
Ein qualitativer Sprung wurde zudem mit dem Abfotografieren von und dem Anlegen
eines Archivs über Aktive getan, die auf Demonstrationen beispielsweise
während der Anti-Bush-Mobilisierung im Palästinablock mitliefen.
Ein Großteil der Antideutschen behauptet für sich eine kommunistische
Position, woraus oft das Argument abgeleitet wird, vehement gegen den Antisemitismus
zu sein. Dieser Antisemitismus wird in allem gesehen, was solidarisch mit
Palästina und kritisch mit Israel erscheint. Selbst israelische und
jüdische Kritik an der israelischen Politik wird dabei als antisemitisch
abgetan oder einfach als nicht existent verworfen. So wurde beispielsweise
die Teilnahme einiger Überlebender der faschistischen Vernichtungslager
im Internationalistischen Block auf der Palästina-Demonstration im April
einfach nicht erwähnt. Dafür aber verwiesen die Antideutschen ständig
auf eine Hand voll Demonstrierender, die sogar ihre Kinder mit Sprenggürtelattrappen
ausstaffierten und dabei fotografiert wurden, auf einer Demonstration mit
20 000 Teilnehmenden jedoch gar keine Rolle spielten ebenso wie ein Einzelner,
der einen Hitler-Gruß in Richtung der Antideutschen machte. Diese Verengung
der Realität geschieht aus einem einzigen Grund: der Ablehnung jeder
propalästinensischen Position. Der palästinensische Widerstand
ist hier nur noch als Terrorismus vorhanden, gegen den so ziemlich jedes
Mittel recht ist. Folgerichtig laufen Antideutsche mittlerweile sogar mit
T-Shirts mit dem Aufdruck Israel Defense Force – der israelischen Armee –
herum. In ihrer Argumentation gegen den palästinensischen Widerstand
fallen die Antideutschen sogar auf Verkürzungen zurück, die schon
Goebbels zur Rechtfertigung der eigenen Handlungen anführte: dort die
bösen, unzivilisierten Horden, barbarisch und extrem unterentwickelt,
die nichts anderes können, außer Kinder zu ermorden, und die
nur die Sprache der Gewalt kennen; hier die heldenhaften Kämpfer gegen
das Unrecht, die die gesamte Menschheit vor dem Bösen retten. In der
"Jungle World" sind nun auch Artikel zu finden, die von der Notwendigkeit
eines antiislamischen Kampfes sprechen. An diesem Punkt angelangt, können
dann Antideutsche hervorragend mit volksdeutschen Rassisten kooperieren.
Gegen Moslems und für ein christliches Abendland sind ja schließlich
alle. Ebenso folgerichtig sind dann auch die USA in dem jetzigen Krieg vorbehaltlos
zu unterstützen, bei einem Anschlag auf die US-amerikanische Handelskette
Wal-Mart im Vorfeld des Bush-Besuchs war daher von einer "linken Reaktion"
die Rede, vor der gewarnt werden müsse.
Natürlich existiert dann auch keine antagonistische Kraft innerhalb
der palästinensischen Bevölkerung, egal wie viel internationalistisches
Bewusstsein in den palästinensischen Lagern im Libanon tagtäglich
demonstriert wurde oder wie erfahren und dementsprechend tiefgründig
die palästinensische Linke auch nach ihrer Niederlage heute noch ist.
Spiegelverkehrt existiert innerhalb der israelischen Bevölkerung kaum
eine reaktionäre Kraft, zumindest ist eine vorbehaltlose Unterstützung
der Gesamtheit dieser Kräfte vorgesehen. Für eine kommunistische
Linke, für die sich ein Großteil der Antideutschen hält,
ist dies ein wahrhaft monolithisches Weltbild, das jeden dialektischen Ansatz
vermissen lässt. So wundert es nicht, dass Thesen der Klassenlosigkeit
der palästinensischen Bevölkerung zum Repertoire dieser Strömung
gehören, deren vorgeführte Intellektualität jedoch bei einem
wirklich wissenschaftlichen Herangehen nur Kopfschütteln hinterlassen
kann ob so viel zur Schau gestellter Schlichtheit. Die Basis dieser These
ist eine absolute Moral, die mehr über die Nichtbewältigung der
Täterschaft der eigenen Familie aussagt als über die wirklichen
Verhältnisse in diesem Konflikt. Das Fatale dabei ist, dass die Enkel
in ihrem wenn auch gut gemeinten Prosemitismus "den Juden" schon wieder
nicht als normalen Menschen wie dich und mich sehen, sondern als ein besonderes
Wesen, dessen Anderssein allein schon ausreicht, in der Zukunft wieder für
Aussonderungen herzuhalten. Nicht nur Derrida würde hier die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen.
Doch ist diese Position nicht schon simpel genug und jedem kommunistischen
Ansatz Hohn sprechend, so sehen wir in der genau gegenüberliegenden
antiimperialistischen Position das bestätigende Spiegelbild. Auch hier
wird die unkommunistische These der Klassenlosigkeit beschworen, diesmal
nur gegenüber der israelischen Bevölkerung, obwohl allein die Existenz
der religiös-sozialen Schas-Partei diese These schon erschüttern
müsste, von der existierenden Kommunistischen Partei ganz zu schweigen.
Wie fatal diese These ist, wird an den Demonstrationen der israelischen Friedensbewegung
deutlich, die – auch wenn sie in vielem sozialdemokratisch ausgerichtet ist
– es zuletzt schaffte, 100 000 Menschen zu mobilisieren. Auf Deutschland
hochgerechnet wären dies immerhin 1,6 Millionen Menschen bei einer einzigen
Demonstration. Zur Erinnerung: Zur Heuschlershow der Regierenden 1992 im
Berliner Lustgarten kamen gerade mal 300 000 zusammen. Doch wird hier nicht
nur das reine Zahlenmaterial nicht verwendet, diese These müsste aufgrund
des Verweises auf den Charakter des Siedlerstaates, also auf den Nutzen der
Unterdrückung für die israelische Bevölkerung, für Europa
und die USA ebenso gelten, denn auch wir profitieren von der weltweiten Ausbeutung.
Trotzdem würde keine linke Kraft behaupten, dass hier eine Klassenlosigkeit
gegeben ist, ansonsten müsste nämlich sofort der Kampf in den Metropolen
für eine freie Gesellschaft eingestellt werden.
Allerdings wendet sich diese Position ins Tragische in Anbetracht des Vorschlags
einer Einheitsfront mit den religiösen islamischen Kräften, dem
so genannten politischen Islam. Hier wird das für eine kommunistische
Linke obligatorische historische Bewusstsein vollends verworfen, ist doch
diese Einheitsfront nichts weiter als ein Aufguss der Strategie der Volksfront
der dreißiger Jahre, die schon damals zu nichts führte außer
einem Anwachsen der Rechten wie in Frankreich, oder später, in einer
modernisierten Form, im Rahmen der "demokratischen Allianzen" im antifaschistischen
Befreiungskampf zu der Selbstaufgabe der Linken. In allen Ländern,
in denen die kommunistische Linke sich nicht nur zu einem taktischen, gemeinsam
zu führenden Kampf gegen die deutschen Faschisten bereit fand, sondern
zudem einen organisatorischen Zusammenschluss mit den bürgerlichen
Kräften durchführte wie in Italien und in Frankreich, wurde die
KP zum Erfüllungsgehilfen des Bürgertums einschließlich
der Tolerierung von Niederschlagungen antikolonialer Bewegungen wie in Algerien
und Vietnam oder der Zustimmung zu Amnestiegesetzen für Faschisten
wie in Italien. Doch trotz dieser "Zugeständnisse" waren schon 1946
diese Volksfrontregierungen gescheitert und die Kommunistischen Parteien
in der Opposition. In Jugoslawien, Griechenland und Albanien hingegen, aber
auch in China, Korea und Vietnam blieben die Kommunistischen Parteien organisatorisch
unabhängig, folglich gaben sie nach dem Sieg 1945 auch nicht ihre Waffen
ab. Ein Krieg zwischen den Kräften im Land war die Folge, den die Bürgerlichen
nur durch eine Intervention der Westmächte, so in Griechenland und in
Südkorea, gewinnen konnten. In Vietnam siegte jedoch selbst bei einer
massiven US-amerikanischen Einmischung letztendlich die Linke, wenn auch
nach 30 Jahren. China, Jugoslawien und Albanien konnten sich jedoch relativ
schnell von ihren bürgerlichen Kräften befreien. Auf dem Balkan
kam es auch nicht zu antisemitischen Pogromen wie im volksdemokratischen
Polen im Winter 1945/46.
In neuerer Zeit trat die iranische Tudeh-Partei den Weg in die Einheitsfront
an, verbunden mit dem Erfolg, dass der Schah zwar gestürzt wurde, doch
wenige Jahre nach der Islamischen Revolution, in dem Moment ihrer Konsolidierung,
entschieden sich die islamischen Kräfte unter Khomeini, die Tudeh zu
liquidieren. Auch die Fraktion der Guerilla-Partei innerhalb der Roten Brigaden
sah 1984 in den islamistischen Organisationen im Libanon aufgrund ihrer
– auch erfolgreichen – Angriffe auf die westliche Interventionsarmee eine
neue "revolutionäre Kraft" (Text: "Krieg dem Krieg"), mit der ein Bündnis
einzugehen sei. Aber schon wenige Monate später belehrte sie der Lagerkrieg
der Amal und der Hisbollah gegen die palästinensischen Kräfte
eines Besseren.
Da wir heute in dem israelisch-palästinensischen Konflikt damit konfrontiert
sind, dass die Kriegführung des palästinensischen Widerstands
hauptsächlich von den rechten, den islamistischen Kräften bestimmt
wird und eben auch Unschuldige zu Angriffszielen werden, macht es für
eine Linke keinen Sinn, mit diesen Kräften ein weit gefasstes Bündnis
einzugehen. Besser wäre es, wenn die Linke analog zu den Partisanen
in Jugoslawien – auch die serbischen Tschetniks metzelten kroatische Einwohner
nieder – und in China in Konkurrenz zu diesen Kräften eintritt und aufgrund
ihrer Erfolge die Bevölkerung überzeugt. Es sei angemerkt, dass
in China die maoistische Volksbefreiungsarmee sogar einen zehn Punkte umfassenden
Kanon für alle Soldaten erließ, der bestimmte, wie sie sich der
Bevölkerung eines befreiten Dorfes gegenüber zu verhalten haben,
und damit einen Gegenpol zu den Truppen Tschiang Kai-scheks schuf.
Es ist deshalb absurd, wenn heute Linke in Deutschland wieder Kräfte
unterstützen, die jeden linken Ansatz mit den Füßen treten
– ein Umstand, der für beide Seiten gilt, von ihnen aber nur zur Vorhaltung
der gegenüberliegenden Position benutzt wird und nicht zur Selbstkritik.
Denn beide sehen in ihrem Bündnispartner eine Homogenität, die
so nicht gegeben ist, und gesellen sich dabei in ein Bündnis der reaktionärsten
Kräfte, egal ob sie nun israelische Armee und Scharon, oder eben Hamas
und Dschihad heißen.
Eigene Positionen
Fassen wir also zusammen: Die Entwicklung der Idee des Zionismus ist aufgrund
jahrhundertelanger massivster Unterdrückung gerechtfertigt und sollte
auch von der kommunistischen Linken unterstützt werden. Dies bedeutet
auch, dass die Gründung des jüdischen Staates gerechtfertigt ist.
Allerdings ist die Gründung Israels in Palästina alles andere
als gerecht, im Gegenteil führte diese Gründung zu Elend und Vertreibung
der unschuldigen palästinensischen Bevölkerung. Diese Ungerechtigkeit
bestimmt aber entscheidend den hohen Grad der Militarisierung des israelischen
Staates, der ohne Zweifel als Siedlerstaat bezeichnet werden kann. Er ist
der Aggressor in diesem Konflikt, der nicht willens ist, eine beidseits
akzeptable Lösung anzustreben. Der palästinensische Widerstand
gehört deshalb unterstützt.
Allerdings kann diese Unterstützung nur die linke Strömung dieses
Widerstands beinhalten, ebenso wie die israelische Linke unterstützt
gehört. Eine bedingungslose linke Position auch der solidarischen Gruppen
außerhalb Palästinas und Israels ist ein Muss, selbst um den
Preis einer vorübergehenden Isolation. Dies beinhaltet auch die Ablehnung
aller reaktionären Kräfte, auf welcher Seite auch immer sie seien.
Wichtig ist die Etablierung einer Konkurrenz zu diesen reaktionären
Kräften, die linken Kräfte vor Ort gehören dabei unterstützt,
für sie müssen wir Position beziehen. Ansonsten wird dieser Konflikt
alle linken Kräfte aufreiben.
Wichtig ist dabei auch, die im Moment vorherrschende Grenzziehung infrage
zu stellen. Stereotypen wie Juden, Moslems, Israelis, Palästinenser
und Araber kennzeichnen nur unzureichend den Konflikt. Es gibt arabische
Juden, die Israelis sind, es gibt aber auch jüdische Palästinenser,
die Araber sind. Auch gibt es palästinensische Israelis, die für
Israel kämpfen, und jüdische Israelis, die für ein freies
Palästina kämpfen. (Beide kommen im Übrigen in diesem Konflikt
um und werden jeweils der scheinbar “eigenen” Seite zugerechnet.) Ist dies
nicht schon verwirrend genug, bringen vor allem die Antideutschen nun auch
noch das Stereotyp der Deutschen mit ein, deren Familien zu einem Großteil
den Tätern angehören, zum anderen aber auch den Opfern, sowohl
den jüdischen als auch nun den palästinensischen.
Eine konkrete umfassende Lösung können jedoch nur die Kräfte
vor Ort finden. Sämtliche Erklärungen deutscher Linker sind in
Anbetracht von Demonstrationen, die am 1. Mai bestenfalls 15 000 Menschen
umfassen, allenfalls selbstherrlich. Ob nun ein Staat für beide Bevölkerungen,
wie ihn Buber wollte, oder eben eine Lösung von zwei Staaten, wie sie
sich im Moment durchzusetzen scheint, sollten nicht wir entscheiden. So
stark sind wir nicht. Belassen wir es dabei, was wir
gut können: die linken Kräfte vor Ort zu unterstützen. Dazu
gehört aber im Wesentlichen, die deutsche Regierungspolitik zu kritisieren,
so zum Beispiel für ihre Waffenlieferungen, die eingestellt gehören.
Auf einer Nahost-Konferenz in Berlin vor einem Jahr benannte Uri Avneri
den deutschen Außenminister Josef Fischer als einen der Hauptverantwortlichen
für die Blockade jedes möglichen Friedensansatzes. Diesen Leuten
Grenzen aufzuzeigen ist eine ausreichende Aufgabe für die deutsche
Linke.