|
Nachruf
auf Sean
McGuffin
|
|
Terry Eagleton. Marx. Literaturwissenschaftler, Essayist:
Die Schadenfreude der Geschichte
Die Kapitalisten werden sich vielleicht noch nach
der Rückkehr des Sozialismus sehnen
Übersetzt von Emily Davis
Die Tatsache, dass der Sozialismus sich dort
am wenigsten machbar bewies, wo er am nötigsten war, ist eine der dunkelsten
Ironien des 20. Jahrhunderts. Um den Sozialismus aufzubauen, braucht man materielle
Ressourcen, demokratische Traditionen, kooperative Nachbarn, eine lebhafte
Zivilgesellschaft, eine gebildete Bevölkerung. Gerade diese notwendigen
Zutaten hatte doch der Kolonialismus seinen vormodernen, armutsleidenden Klienten
versagt. Als Folge erzeugte eine bittere Ironie die nächste: Der Versuch,
den Sozialismus unter diesen miserablen Bedingungen aufzubauen, führte
direkt zum Stalinismus, und der Freiheitsdrang wurde unerbittlich in seinen
furchtbaren Gegensatz verwandelt.
Es scheint, als ob das jetzige Jahrhundert von einer etwas anderen Art der
Ironie dominiert würde. Der Kapitalismus hieß das Millennium in
Siegerpose willkommen, das Buch "Der Reichtum der Nationen" in der Hand haltend,
den Fuß auf der Leiche seines sozialistischen Rivalen gesetzt. Kaum
war das Jahrhundert eingeläutet, begann es aber verdächtig nach
einem Pyrrhussieg auszusehen. Wir werden vielleicht sogar noch erleben, wie
die kapitalistische Welt mit Nostalgie auf das sozialistische Projekt zurückschielt,
das sie einst so wirkungsvoll fickte. Letztendlich will der Sozialismus die
besitzenden Klassen enteignen, nicht vernichten. Seine Waffen sind der Generalstreik
und der Kampf der Massen, nicht Milzbrand und dreckige Atombomben. Sein Ziel
für die Menschen ist ein reiches Leben, nicht das verzweifelte Kratzen
nach Essen im kriegszerstörten Ödland der Städte. Der Sozialismus
war unsere letzte Chance, den Terrorismus durch die Verwandlung der Bedingungen
zu besiegen, die ihn ins Leben rufen. Diejenigen, die den Sozialismus ins
Grab geschickt haben - besonders diejenigen, dessen Büros sich in den
besonders hohen Stockwerken befinden -, sollten ihre Lippen nach dem Geschmack
von Asche ablecken.
Könnte es denn sein, dass sich der Kapitalismus durch den Sieg über
den Sozialismus auch sein eigenes Todesurteil unterschrieb? Was ist, wenn
die Strippenzieher der einzigen Sache den Rücken drehten, die ihr Überleben
garantierte; im physischen Sinn, wenn auch nicht im politischen? Marx beschrieb
die Arbeiterklasse als Totengräber des Kapitalismus, aber wenn man diese
nützlichen Funktionäre loswird, muss man zum Schluss das eigene
Grab ausschaufeln.
Insofern wurde das Kommunistische Manifest sowohl infrage gestellt wie auch
bestätigt. Die Voraussage, dass sich Armut und Reichtum im globalen Umfang
polarisieren würden, war richtig. Richtig war auch, dass die Besitzlosen
als Folge gegen ihre Herrscher aufstehen würden. Das Manifest dachte
einfach eher an Fabriken als an das Welthandelszentrum, an Gewerkschaften
als an Typhus. Aber wenn Marx wirklich Unrecht hatte bei der Arbeiterklasse,
dann ist das eine schlechte Nachricht für Korporationen, denn das, was
ihre Rolle möglicherweise übernommen hat, besitzt die Barbarei der
Verzweiflung, nicht das Selbstbewusstsein der kollektiven Kraft.
Vor ein paar Jahren war viel Rummel um "das Ende der Geschichte". Diese
unheilvolle Losung sollte bedeuten, dass, da der Kapitalismus der einzige
Überlebende war, wichtige politische Konflikte so out wie Backenbärte
wären. Das ist sowohl einfältig wie unwahr, aber darum geht's nicht:
So viel wussten wir auch schon vor dem 11. September. Es geht eher darum,
dass wir jetzt dramatische Beweise haben, dass das Ende der Geschichte eventuell
letztendlich im etwas weniger metaphysischen Sinn das Ende der Geschichte
bedeuten könnte. Die Tatsache, dass der Kapitalismus in der offiziellen
politischen Arena keine realen Konkurrenten hat, verursacht gerade die inoffizielle
Verbitterung, die riesige Löcher in ihn hineinsprengen kann, atomar
inklusiv.
Der Sozialismus sah vielleicht für diejenigen, die am meisten davon
zu verlieren hatten, wie eine dunkle Bedrohung aus, aber er ist zumindest
ein sekulärer, historisch geprägter, durch und durch moderner Glaube,
der Bastard der liberalen Aufklärung. Er hat eine tief gehende Abneigung
gegen den politischen Terrorismus, ob er ihn als unmoralisch oder einfach
kleinbürgerlich ablehnt. Im Gegensatz zum Fundamentalismus, ob der texanischen
oder der talibanischen Sorte, lehnt er alternative Lebensführung odersymbolistische
Dichtung oder einen Keller voll Chianti nicht ab; er fragt lediglich, warum
diese Sachen immer irgendwie in einigen wenigen Händen konzentriert sind.
Auch im Gegensatz zum Fundamentalismus ist er bodenständig und bilderstürmerisch,
skeptisch hehren Idealen und dem Absoluten gegenüber.
Wenn man liberale Freiheiten
wirklich als hohl enttarnen will, greift man sie am besten mit Selbstmordattentätern
anstatt mit soziologischen Essays an, da solche Angriffe durch die Provozierung
von autoritären Maßnahmen die Falschheit zum Augenschein bringen,
die die Attentäter beobachten, so sicher wie das Auge eine Konstellation
in den Sternen. Und da die Amerikaner, als der Haufen Individualisten, der
am konformistischsten auf dem ganzen Planeten ist, eine Tradition von Freiheitssicherung
durch autoritäre Mittel haben, ist es sehr leicht, sie in Misskredit
zu bringen.
George Bush glaubt wirklich an die Religion, und glaubt an nichts dergleichen.
Bin Ladins Schlägertypen mögen moralisch obszöne Fanatiker
sein, aber dieses besondere Problem haben sie nicht. Sie wünschen sich
einfach einen brutal finsteren Staat, nicht einen Staat, der andauernd gezwungen
wird, seine aufgeklärten Werte durch brutal finstere Mittel zu verteidigen.
Und es mag sein, dass sie ihren eindeutigsten Sieg erreichen, indem sie diesen
im Westen eingebauten Widerspruch zünden. Es sei denn, natürlich,
die Linke startet ein Comeback. Sie hat das sogar auf eine Art schon getan;
sie hat bloß auch eine Adressenänderung gehabt. Das, was früher
als Sozialismus bekannt war, wird heute Antikapitalismus genannt. Kaum ein
großer Unterschied.
|
|
Sean McGuffin ist tot – ein Nachruf
Von Oskar Wild
Ein großartiger Schriftsteller und Freund ist leider gestorben. John
"Sean" McGuffin starb wenige Tage vor dem 1. Mai, den er eigentlich in Berlin
bei der so genannten 16-Uhr-Demo verbringen wollte. Sein Lebensstil, der sich
besonders in seinen Kurzgeschichten widerspiegelte, hatte ihn in letzter Zeit
viel seiner Gesundheit gekostet.
Ich erinnere mich gern an die Zeit mit ihm, als er voller Leidenschaft neue
Geschichten vortrug und die Abende in den Pubs kein Ende nahmen. Sean wurde
1942 in Belfast geboren und engagierte sich dort Ende der sechziger Jahre
in einer Bürgerrechtsorganisation von Studenten, der Peoples Democracy.
Am 9. August 1971 wurde er von der britischen Armee zusammen mit 341 weiteren
Iren interniert. Als er aus der Haft entlassen wurde, fing er mit dem Schreiben
an, so konnte er seine Erfahrungen mit der britischen Folterpraxis und die
unmenschlichen Zustände der Internierungslager verarbeiten. Ende der
siebziger Jahre gehörte er der Untersuchungskommission an, die die Umstände
des Todes von Ulrike Meinhof untersuchte.
In den achtziger Jahren emigrierte Sean in die Vereinigten Staaten und arbeitete
dort als Rechtsanwalt. Auch diese Zeit floss in einige Geschichten ein, denn
mitetwas Beobachtungsgabe, abgeschmeckt mit einer Prise Fantasie, konnte er
dem alltäglichen Wahnsinn noch so einiges abgewinnen. Seit Mitte der
neunziger Jahre lebte er in Derry im Norden Irlands – oder wie es auch in
den Büchern immer heißt: "Mordirland".
Um denjenigen, die seine Bücher nicht kennen, ein wenig Geschmack zu
machen, zitiere ich hier aus dem Anfang einer seiner Kurzgeschichten:
"Der Raum war so kalt und nass wie eine weggeworfene Windel. Brian Artur
versuchte sich vage des abendlichen Höhepunktes zu erinnern, scheiterte,
schüttelte sich und entledigte sich, wie es Brauch ist, seiner Schuhe
und Socken. Die Vorbereitung zur Nachtruhe: Ja nicht die holde Gattin aufwecken!
Er konnte bis zum Morgen ohne ihre Vorhaltungen und Verwünschungen auskommen.
Gedanken an das Frauchen flackerten durch die wenigen ihm verbliebenen grauen
Zellen. Er zog Hemd und Weste aus, kletterte aus der Hose, schlich sich auf
Zehenspitzen die Treppe hinauf, warf seine Unterhose von sich und klammerte
sich wankend ans Treppengeländer.
Iiiiiiiiik! Die Stimme hörte sich ganz und gar nicht wie das wohlklingende
Organ seiner Gattin an.
,Schaffner! Hier oben is ein Verrückter!'
Brian Artur äugte aus einem blutunterlaufenen Augapfel. Herrgott, Sakrament!
Er befand sich im Oberdeck eines Doppeldeckerbusses der Linie 76.
,Ich hab ja geahnt, dass es einer dieser Abende werden würde', brabbelte
er, als er nach seiner Buxe suchte. ,Ein bisschen zugig hier.'
Während er diese Worte ausstieß, wehte der Wind lethargisch seine
Hose von der Plattform, und der Bus legte sich auf die Seite und bog in die
Sandown Road ein. Es würde gewiss einer dieser Abende werden. Der Prophet
sollte Recht behalten."
Die meisten Bücher von Sean sind im Nautilus-Verlag erschienen, im
Jahr 2000 wurde endlich die britische Zensur durchbrochen, und eine erste
Sammlung seiner Kurzgeschichten konnte im englischen Original erscheinen.
Weitere Werke folgen hoffentlich.
|
|
Stadt und Land
(Vorsicht! Moralinsaures, bierschwangeres Propagandagesülz!)
Saschas Kolumne
In der Lunte gibt es eigentlich keine Sommerferien. Das hindert jedoch nicht
die meisten AktivistInnen und BesucherInnen daran, einfach dreist Urlaubsreisen
anzutreten. Natürlich nicht ohne ihren "Wohlstand" weltweit herumzuzeigen
oder zumindest irgendwelche Abenteuertrips durch diverse, ihrer mehr oder
weniger revolutionären Bewegungen wegen besonders attraktiven Staaten
der Äquatorialgegend anzutreten. Auch Staaten in Europa sind dabei, die
ihrerseits bekannt für ihre teilweise militärisch ausgetragenen
ethnisch geprägten Klassenkonflikte sind. Auffallend finde ich, dass
in diesen Ländern die Konflikte insbesondere auf dem Land, durch die
Landbevölkerung ausgetragen werden.
Zugleich sind die meisten Leute, die ich kenne und ein besonderes politisch
motiviertes Interesse an diesen Ländern haben, selbst Menschen, die irgendwann
einmal vom Land nach Berlin geeiert sind und sich über die Rückständigkeit
und reaktionäre Haltung der deutschen Landbevölkerung beschweren.
Es sind dieselben Leute, die mit dem Bumsbomber zum Kultur- und Badetrip
nach Bali oder zum Sonnen an den Strand von Mexiko jetten. Von wegen Indios
beim Glasperlenverkauf "unterstützen" und sich dabei über die unpolitischen
feisten Amis lustigmachen.
Ich war dieses Jahr auch im Urlaub. Deutschland. Zwei Wochen. Auf dem Land.
Was seit längerem mein erster Urlaub war.
Ich will ja nicht als Nationalist daherkommen, aber ich finde es ziemlich
schräg, wenn Leute dir jeden coolen Gasthof in der Toskana oder die schönsten
Badebuchten der Karibik herbeten können, aber Schwierigkeiten haben,
den Schwarzwald, die Uckermark oder Lichterfelde zu lokalisieren (gilt natürlich
für BerlinerInnen; für MünchnerInnen: Ostfriesland, Erdinger
Moor, Aubing . . .)
Das erinnert mich immer an das alte Vorurteil gegenüber US-AmerikanerInnen,
sie würden mangels Bildung und/oder Interesse nicht wissen, dass Portugal
ein europäischer Staat sei oder ähnliches. Bei Deutschen scheint
sich diese Wissensschwäche besonders auf Deutschland zu beziehen.
Schlimm? Nein, schlimm sicher nicht, aber es lohnt darüber nachzudenken,
finde ich. Es hilft, Dinge in Relation zu setzen, die Begrenztheit menschlicher
Horizonte einzuschätzen. Womit wir wieder bei der deutschen Landbevölkerung
wären.
Die Enge und Überschaubarkeit von Kleinstädten und Dörfern
ist Fluch und Segen zugleich. Was ich gelernt habe ist, dass sich auf dem
Land immer noch nichts grundlegend geändert hat in den letzten Jahrzehnten.
Na klar, den Bauern geht's besser. Erbschaften und Subventionen sei dank.
Aber es gibt auch kaum noch welche. Die anderen Leute vom Land sind Pendler
oder abhängig Beschäftigte vor Ort. Es besitzen auch nicht alle
ihr eigenes Haus. nach wie vor sind sehr viele Häuser vermietet. Diese
Miethäuser gehören ihrerseits den Familien, die die Dörfer
gegründet haben. Die gleichen Inzuchtsippen, denen auch die Felder ringsum
und die Wälder dazwischen gehören. Nicht zu vergessen die landwirtschaftlichen
Großbetriebe, die industriellen Mittel- und Großbetriebe.
Viele Nachkommen treibt ein gewisser esoterisch anmutender Idealismus dazu,
die eigene Scholle, als Hobby sozusagen, nach Feierabend selbstausbeuterisch
zu beackern oder Viehwirtschaft zu betreiben. Es könnte auch die pure
Geldgier oder der Druck der Kredite sein.
Die meisten "Ökobetriebe" werden von solchen Leuten betrieben. Es sind
oft diejenigen, die SPD oder Grün im Dorf wählen. Die anderen "Ökobetriebe"
werden vom Rest der Verwandtschaft betrieben. Die wollen jedoch möglichst
schnell viel Geld mit dem Marktsegment "Öko" machen. Also ist es ihnen
relativ wurst, wenn dabei Prinzipien der ökologischen Landwirtschaft
ziemlich gedehnt werde. Durch Entsorgung von Hormonabfällen aus Humanmedizin
in "Öko-Futtermitteln" zum Beispiel. Inwieweit die berechtigte Empörung
über derlei Machenschaften tatsächlich auf unwissender Überraschung
oder auf dem Ärger über das Auffliegen und die Peinlichkeit deswegen
beruht, kann wohl nur im Einzelfall äußerst schwierig überprüft
werden.
Es sind solche Skandale, die die Idylle trüben.
Und die ganz banale Tatsache, dass auch auf dem Land das Gespenst der Insolvenz
umgeht.
Die Futtermittelhersteller, Getreideveredler, Meiereizentralen, Landmaschinenhersteller
und -verkäufer, die Fleisch-, Chemie-, Wurst-, Back- und Möbelfabriken,
die Öko-Aufstrich-Produzenten!
Alle rationalisieren, kündigen, gehen pleite. Auf dem Land wird viel
produziert. Ganze Regionen verlieren, genauso wie die Städte ihre Arbeitsplätze,
ihre Zukunft, ihre Chancen, die Kredite abzuzahlen.
Die nationale Erziehung und Prägung ganzer Landstriche, die Begeisterung
für Krieg und die Nazis, für Militarismus, Obrigkeitshörigkeit
und traditionsbewußte Selbstbeschränkung lösen sich auf. Genauso
wie die stinkenden Kadaver der einstigen IdeologieträgerInnen in den
hübsch beblümten Dorffriedhofsgräbern. Die meisten männlichen
Dorfjugendlichen pissen wochenendens vollgedröhnt an die öden Friedhofsmauern.
Im tiefen Westen und Süden und Norden und Osten Deutschlands wird oft
noch viel von dem Scheiß durch einen Teil der Jugend rekultiviert. Aber
auch das und die NPD stoßen an die Grenzen der Systemlogik und der
schieren Grenzenlosigkeit menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten.
Wenn ich aufhöre, das zu sehen und zu glauben, dass es selbst in dunkler
Zeit wieder besser werden wird, dann stopft mich mit Nougatschokolade voll,
bis ich jämmerlich verstumme.
Marx hatte prinzipiell Recht. Dialektik ist die Lehre von der Entwicklung.
Linksradikal sein ist das Prinzip der Hoffnung in dunkler Zeit. Wir müssen
immer noch und mehr denn je um jedes Herz und um jeden Kopf kämpfen.
Egal wo.
Vielen Dank, ihr Landflüchter der Lunte und ihr Menschen auf dem Land,
für diese Erfahrung.
Euer Sascha
|
|
|