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Stammheim:
veröffent-
lichte Wider-
sprüche |
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Interview
mit Inge,
Ralf und
Ronnie
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Interview
mit einem
Ex-Grapo
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Chronologie
1970 bis 1977
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MG: Text
zur Orga-
nisierung
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An dieser Stelle beginnt nun der Schwerpunkt dieser Ausgabe: eine Darstellung
des so genannten Deutschen Herbstes. Der Schwerpunkt ist unterteilt in fünf
Abschnitte, den beiden Interviews sowie einem Debattentext zur Organisierung
der Militanten Gruppe und einer kurzen Darstellung der zurzeit laufenden Filme
über den bewaffneten Kampf. Hinzu kommt eine Chronologie, die wir freundlicherweise
aus der Dokumentation “Raf contra BRD” aus dem GNN-Verlag übernehmen
durften.
Stammheim: Was
an Widersprüchen
bisher öffentlich wurde
Es wirkt schon etwas befremdlich, dass 25 Jahre
nach den Ereignissen des so genannten Deutschen Herbstes fast nichts in der
deutschen Medienlandschaft berichtet wurde, waren doch die Monate ab Sommer
1977 bis Oktober desselben Jahres überaus richtungsweisend für die
BRD. Wer zurückdenkt, wird sich an eine aufgeladene tägliche Berichterstattung
erinnern, an Polizeisperren fast überall im Land, Panzer, Maschinenpistolen
etc. Schließlich kam die Entführung der Lufthansa-Maschine und
die Befreiung der Passagiere durch die GSG9. Nach der Landung auf dem Flughafen
Köln-Bonn wurde ein Zeremoniell abgehalten, das an vergangene deutsch-nationale
Zeiten erinnerte. Und dann die Meldung eines kollektiven Selbstmords in Stammheim,
dem sichersten Knast der Welt, der nun plötzlich voll war mit Waffen
und abenteuerlichen Kommunikationsmitteln.
Schon ein Jahr zuvor, beim Tod von Ulrike Meinhof, gab es Stimmen, die die
offizielle Version eines Selbstmordes nicht glauben wollten, eine unabhängige
Internationale Untersuchungskommission ermittelte und förderte einige
eigenartige Details zu Tage: Es fand sich kein geeignetes Werkzeug in der
Zelle, mit dem der Strick am Gitter festgemacht werden konnte, ein Stuhl befand
sich mal in der Zelle, mal nicht. Auch wurde bewiesen, dass die Obduktion
teils sehr oberflächig vorgenommen wurde, so fehlt zum Beispiel die für
die Ermittlung eines Selbstmordes bei vermuteter Strangulierung wesentliche
Histaminprobe.
Nun, 1977, wird wieder von Selbstmord gesprochen. Der “Spiegel” berichtet
1980 von einer so genannten Spur Nummer sechs, die die Schussrichtung bei
Andreas Baader bestimmt, der zufolge er “von einem Schuß aus einer direkt
am unteren Hinterkopf aufgesetzten Pistole getötet worden sei (...).
Obwohl es sich um eine komplizierte und bei Selbstmord ungewöhnliche
Vorgehensweise handele, habe Baader die Pistole selbst festhalten können,
indem er sie mit beiden Händen umgekehrt, also mit dem Griff nach oben,
gegen seinen Hinterkopf drückte. Nachdem alle Untersuchungen offiziell
abgeschlossen waren, gab das BKA im Juli 1978 noch ein sogenanntes ,Vergleichsschuß-Gutachten’
heraus, das besagte, der Schuß sei aus einem Abstand von 30 bis 40 Zentimeter
abgefeuert worden. Diese Feststellung ergab sich unter anderem aus der Pulverdampfkonzentration
an der Einschußwunde und der Tatsache, daß das Haar um die Wunde
nicht im geringsten angesengt war. Damit war die offizielle Selbstmordversion
nicht mehr haltbar. (Die Pistole maß immerhin 17 Zentimeter). Folgt
man schließlich den Lehrbüchern, dann ist die für eine direkt
aufgesetzte Pistole zu geringe Pulverdampfkonzentration an der Einschußstelle
nur mit der Benutzung eines Schalldämpfers zu erklären. Die bei
Baader gefundene Pistole trug keinen Schalldämpfer.” Das schrieb der
Anwalt Pieter Bakker Schut in “Stammheim - der Prozess gegen die RAF”. Ein
weiteres Gutachten kam zudem zum Schluss, dass sich Andreas Baader mit der
rechten Hand erschossen haben muss, da dort Pulverspuren gefunden worden
sein sollen. Andreas Baader war jedoch Linkshänder.
Etwas eigenartig ist auch, dass in der Zelle von Andreas Baader drei Patronenhülsen
gefunden wurden, er also mehrmals geschossen haben muss.
Auch bei Gudrun Ensslin ergaben sich einige Widersprüche. So brach
das Elektrokabel, mit dem sie sich erhängt haben soll, beim Abnehmen
ihrer Leiche, eine Untersuchung, inwieweit das Kabel überhaupt die bei
Erhängungen auftretenden Zugkräfte aushalten kann, hat es nie gegeben.
Dieser Aspekt ist in dem Film “Die bleierne Zeit” von Magarete von Trotta
eindrucksvoll dargestellt worden. WIe bei Ulrike Meinhof findet sich auch
in Gudrun Ensslins Zelle mal ein Stuhl, mal nicht, einmal findet er sich
sogar einige Meter vom Fenster entfernt. Auch sie weist Verletzungen auf,
die den amtlichen Ärzten zufolge von einem heftigen Pendeln gegen harte
Gegenstände herrühren, unabhängigen Ärzten zufolge aber
auch bei Erhängungen nicht auftreten.
Die einzige Überlebende dieser Nacht ist Irmgard Möller. In einem
1997 geführten Interview mit Tolmein bestätigt sie, dass das Knastradio
spätestens um 23 Uhr ausgeschaltet wurde, somit keiner der Gefangenen
von Mogadischu erfahren konnte. Sie soll sich der offiziellen Version zufolge
mit einem Messer, mit dem man sich normalerweise Butter aufs Brot schmiert,
bis zu sieben Zentimeter tiefe Stichverletzungen zugefügt haben.
Die Internationale Untersuchungskommission zum Tod von Ulrike Meinhof förderte
noch andere Ungereimtheiten zu Tage. So soll sich der Zellenschlüssel
nachts normalerweise in einem mit einer Alarmanlage gesicherten Kasten befinden.
Allerdings sagte das Wachpersonal aus, dass nie Buch über die Schlüsselvergabe
geführt wurde. Später erklärte die Gefängnisleitung zudem,
dass es mindestens einen weiteren Schlüssel gibt, der sich auch noch
außerhalb der Anstalt befindet.
Die Gefangenen berichteten ständig, dass anstaltsfremde Beamte von
BKA und BND laufend unkontrollierten Zugang zum Trakt im 7. Stock hätten.
Auch die Anwälte machten diesen Zugang bekannt. Allerdings wurde erst
im Verlauf der Abhöraffäre im März 1977 vom baden-württembergischen
Justizminister dieser Zugang zugegeben. Auf einer Pressekonferenz vom 19.
Oktober 1977 sagte der jetzige Bundesinnenminister Otto Schily: “Uns hat immer
bereits die Tatsache zu denken gegeben, dass zu diesem Sondertrakt im 7.
Stock es einen separaten Zugang gibt, von dem man uns bis heute nicht verraten
hat, was das mit diesem Zugang fuer eine Bewandtnis hat . . . Wir wissen
aber aus der Vergangenheit, obwohl ich den Unterschied gewiss nicht verkenne,
aber wir wissen immerhin so viel, dass anlässlich dieser Abhöraffäre,
dieser illegalen Abhörmaßnahme, sicher auch die Geheimdienste,
die in diesem Land tätig sind, sich Zutritt zu diesem Gefängnis
verschaffen konnten, sodass es nicht außerhalb des Denkbaren liegt,
dass auch von dieser Seite Aktionen dieser art veranstaltet worden sind."
Obwohl im Ausland, vorwiegend in Frankreich und Italien, die Selbstmordthese
sofort als zu absurd abgelehnt wurde - in Italien kam es in den Tagen danach
zu Tausenden Angriffen auf deutsche Niederlassungen und Reisebusse, die die
“Frankfurter Rundschau” zu der Schlagzeile “Antideutsche Angriffe in Italien”
veranlasste -, wurde in der BRD der offiziellen Version kaum widersprochen.
Wer heute öffentlich von einem Mord ausgeht, wird zudem wegen Staatsverleumdung
angeklagt und verurteilt.
Lassen wir am Schluss noch Christian Klar zu Wort kommen mit Auszügen
aus seiner “Erklärung zu 77”: “Die Gefangennahme von Schleyer konfrontierte
den BRD-Staat mit seinem Legitimationsproblem - durch diesen Funktionär
des 3. Reichs und seines Nachfolgestaats, dessen Herrschaftsgrundlage lediglich
von außen erbeutet und nach innen erzwungen wurde . . . Schmidt sagte
im Bundestag: ,Die Hoffnung, die Erinnerung an Auschwitz und Oradour werde
im Ausland absinken, wird sich nicht erfüllen. Wenn bei uns Terroristen
erschossen werden ... so werden uns Fragen gestellt, die andere Nationen nicht
aushalten müssen.’ . . . Der Bruch in den Metropolen bleibt unumkehrbar.
Von diesen . . . Verhältnissen spricht auch Kissinger, der feststellte:
"Auf beiden Seiten des Atlantik sehen wir uns bedroht durch die Vorherrschaft
der Innenpolitik über die weltweite Strategie."
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Interview mit Inge Viett,
Ralf Reinders
und Ronald Fritzsch
Was waren die Gründe für die Entstehung der Bewegung
2. Juni?
Wir sind im kapitalistischen Nachkriegsdeutschland groß geworden,
bedrängt von einer Gesellschaft, die in der Mehrheit ihre Kollaboration
mit dem faschistischen Regime und seinen ungeheuren Verbrechen nicht zugeben
wollte oder verdrängte. Die Entnazifizierung war ein von den westlichen
Siegernationen durchgeführter formaler Akt, der lediglich wenige berüchtigte
Kriegs- und Menschenrechtsverbrecher öffentlich zur Verantwortung zog.
In allen staatstragenden gesellschaftlichen Bereichen, wie dem politischen
Apparat, Polizei, Verfassungsschutz, Gesundheitswesen, Bildungs- und Erziehungswesen,
Justiz, den Universitäten und vor allem in der Wirtschaft, saßen
ehemalige Verantwortliche, Täter, Mittäter und Mitläufer des
Faschismus. Sie bestimmten das gesellschaftliche Klima und die politischen
Richtlinien, die erneut aus waren auf Revanchismus und wirtschaftlicher Großmacht.
Die Leugnung der eigenen Verbrechen, der manische Antikommunismus, die Propaganda
vom "freien Westen" und das Fortleben von Chauvinismus und Rassismus schaffte
ein autoritäres, erzreaktionäres, durch und durch verlogenes Klima,
indem Anpassung, Gehorsam, Fleiß, Konsum, und politisches Desinteresse
gefördert wurde. Wir - die (damalige) Jugend - hatten andere Pläne.
Erst wollten wir uns einfach nur den Zwängen entziehen, uns absetzen,
anders leben, neue Lebenswerte entwickeln, Gemeinsamkeit gegen die Unterdrückung
suchen. Das wurde schnell politisch.
Die Universitäten waren durch die internationalen Entwicklungen hochpolitisiert:
Die nationalen Befreiungsbewegungen erstarkten und befreiten sich von den
Kolonialherrschern. In allen Ecken der Welt entstanden Guerillabewegungen
gegen die imperialistische Herrschaft. In den palästinensischen Lagern
formierte sich der Befreiungskampf. In den USA organisierten und bewaffneten
sich die Black Panter und die Weathermen.
Dagegen führten die USA in Vietnam einen ungeheuer brutalen Vernichtungskrieg.
Im Kongo ließen sie Lumumba ermorden. In Griechenland installierte die
Nato eine brutale Militärdiktatur. In Spanien und dem Nato-Mitglied Portugal
herrschte noch immer der Faschismus.
Die BRD war immer und überall mit politischer, materieller und ideologischer
Unterstützung auf der Seite der Ausbeuter, der Rassisten, der Imperialisten
und der kapitalistischen Diktatoren.
Die sich entwickelnde linke Bewegung in der BRD wurde zu einer vom Establisment
gefürchteten rebellischen Kraft, die bis in die Mitte der Sozialdemokratie
strahlte.
Der "Umsturz der Gesellschaft", revolutionäre Gewalt ja oder nein,
illegale Organisierung oder legale Politik, bewaffneter Kampf etc. wurden
die Tagesthemen in der Linken. Es gab massenhafte Militanz in den Straßen
gegen den Aufmarsch der Repressionskräfte, massenhafte Angriffe gegen
den Springer-Konzern, der zusammen mit den Politikern gegen die Linke hetzte,
Angriffe auf die Justiz, Aufruhr in den Universitäten, den Schulen,
wilde Streiks.
Bei Straßenkämpfen, auf Demonstrationen, bei Hausbesetzungen,
auf Veranstaltungen, einfach bei nahezu allen unseren legalen politischen
Aktivitäten kriegten wir es mit der Polizei, dem Verfassungsschutz und
am Ende mit der Justiz zu tun. Als die Situation sich für viele GenossInnen
zuspitzte - Verhaftungen, Fahndung, ständige Observierungen, Hausdurchsuchungen
etc. - entschloss sich eine Gruppe von GenossInnen, sich dem Zugriff des Sicherheitsapparates
zu entziehen und in Berlin, wo sie ihre legale politische Basis hatte, eine
klandestine bewaffnete Organisation zu gründen: die Bewegung 2. Juni.
Gerade auch im traditionellen kommunistischen Spektrum war
schnell die Rede von Agents provocateurs.
Das ist richtig, sie haben uns als anarchistische Kleinbürger und Abenteurer
gesehen und denunziert. Wir sind mit dieser Denunziation gelassen umgegangen,
einmal weil die legalistische Politik der Kommunistischen Partei im Faschismus
vollständig versagt hatte, sie keinen wirksamen Widerstand, keine Partisanenbewegung
entwickeln konnte, obwohl sie nie stärker war als in dieser Zeit und
die Bedingungen es erfordert hätten. Was wir nicht verstehen konnten,
dass sie nach dem Krieg und vor allem auch nach der Neugründung der DKP
unverändert mit derselben Politik und in ängstlicher Abhängigkeit
zum sozialistischen Lager in der neuen Situation agierte. Zum anderen muss
man auch ihre damalige Lage sehen: traumatisiert von ihren Leiden und der
Niederlage im Faschismus, 1956 wieder verboten und 1969 gerade neu gegründet.
Die Furcht vor einem erneuten Verbot trieb sie schnell zur Abgrenzung von
radikaler Politik.
Was waren Eure persönlichen Motive, den bewaffneten
Kampf aufzunehmen?
Unsere persönlichen Motive sind nicht loslösbar von unseren politischen
und sozialen Erfahrungen mit dem kapitalistischen System und speziell natürlich
mit der moralisch vermoderten nachfaschistischen BRD-Gesellschaft. Unsere
Empörung und unser Abscheu waren tief. Wir hassten diesen Staat mit seiner
tödlichen, schmutzigen Geschichte, der immer wieder seine Finger in
jede Schweinerei auf der Welt steckt, die gegen die Unterprivilegierten ausgeheckt
wird. Und im Inneren bereiteten sich die Herrschenden darauf vor, auch hier
die entsprechenden Methoden gegen emanzipatorische Bestrebungen zum Einsatz
bringen zu können. Der Protest Hunderttausender zum Beispiel gegen die
Notstandsgesetze (damals noch unter Beteiligung der Gewerkschaften) bewirkte
nichts. Rote Fahnen auf der Straße wurden in den Medien zum "Terror
roter Horden".
Unsere legalen Aktivitäten zur Revolutionierung dieser Gesellschaft
stießen schnell an die Grenzen des Erlaubten. Das sind Grenzen der bürgerlichen
Herrschaftssicherung. Diese zu übertreten war einfach notwendig.
Heinrich Böll sprach mal vom "Krieg der sechs gegen sechzig
Millionen". Wie stelltet Ihr euch vor, sollte dieser Krieg gewonnen werden,
war es überhaupt möglich, ihn zu gewinnen?
Heinrich Böll hat sich einfach verzählt, schließlich war
er Literat und nicht Mathematiker. Wir erinnern gern an die damaligen Umfragen
bürgerlicher demoskopischer Institute Anfang der siebziger Jahre, deren
Ergebnisse für die Herrschenden so prekär waren, dass sie nicht
öffentlich behandelt werden durften: Jeder fünfte Befragte äußerte
Sympathie und Verständnis für unseren Widerstand. Natürlich
sind solche Ergebnisse flüchtig, aber es hat sie gegeben.
Der Staat entwickelte Antiaufstandsprogramme, um der Guerilla "das Wasser
abzugraben", den "Sympathisantensumpf" trocken zu legen etc. (Verleumdungskampagnen,
Provokationen - wie Bombenanschläge auf Hauptbahnhöfe -, Aufhetzung
der Bevölkerung, verschärfte Repression gegen die legale Linke,
Verschärfung der Gesetze, §129, etc.). Mit der Zuspitzung der Konfrontation
begann die Mehrheit der Linken, sich zurückzuziehen.
Wir haben nicht gefragt, ob wir gewinnen können, sondern ob es möglich
ist, revolutionäre Verhältnisse zu schaffen, aus denen heraus der
Kapitalismus gestürzt werden könnte. Die internationalen Kräfteverhältnisse
und der innere Zustand der BRD-Gesellschaft schien uns außerordentlich
günstig, es zu versuchen. Widerstand ist ein Bedürfnis nach Emanzipation
und Menschenwürde, das sich in günstigen Situationen Bahn bricht.
Die Medien zeichneten ein bestimmtes Bild der bewaffneten
Gruppen, konnte dieses Bild widerlegt werden?
Was die Medien treiben, welche Bilder sie von Menschen, Gruppen, Situationen,
Konflikten zeichnen, hat immer eine große Wirkung auf die Menschen.
Das ist aber nie die Realität. Die "Zeichnung" der bewaffneten Gruppen
entsteht einerseits aus der Angst und der Wut über die unerhörte
"Anmaßung", das kapitalistische System in seiner Gänze infrage
zu stellen und vor allem sein heiligstes Herrschaftsinstrument, das Gewaltmonopol,
zu missachten. Wer Widerstand leistet, kann nur verrückt, kaltblütig,
brutal, dumm oder gefährlich superintelligent sein, auf keinen Fall ein
"normaler" Mensch.
Andererseits lebt das Medienbild auch von den realen politischen Fehlern,
Schwächen, Irrtümern, die wir in der Guerilla gemacht haben. Ein
zentrales Anliegen der Herrschenden ist immer die Verschleierung der Tatsache,
dass genau sie als Verantwortliche, ihre herrschaftssichernden Apparate und
Institutionen das Ziel unserer Angriffe sind, und so versuchen sie unentwegt,
der Bevölkerung einzureden, dass wahlloser Terror gegen die "kleinen
Leute" geführt würde. Eine Aktion, wie die Entführung der "Landshut",
hat dieser Propaganda natürlich enormen Vorschub geleistet.
Allerdings ist es müßig, sich an den Medien-Bildern abzuarbeiten.
Orwells "1984" ist auch in dieser Beziehung längst überholt. Die
Medien sind Teil der Kriegsführung nach innen. Ihre Bilder sind Propaganda
und keine Nachzeichnung der Realität.
Wir können die Bilder der bürgerlichen Medien vom Widerstand gegen
ihr System erst widerlegen, wenn ihre Kartelle zerschlagen sind und ihr Herrschaftskonsens
aufgelöst ist. Das kann dauern . . .
Mit Eurer Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzunehmen,
seid Ihr damit konfrontiert, auf den Gegner zu schießen. Wie geht man
mit dem Tod eines anderen um?
Wir hatten (und haben) es mit einem Gegner zu tun, der plündert, ausbeutet,
unterdrückt, Armut produziert, Kriege anzettelt, foltert, mordet, massenhaft
Tod und Elend verbreitet. Der Widerstand dagegen ist Notwehr.
Nachdem die Lufthansa-Maschine "Landshut" entführt wurde, kam es auch
zu Kundgebungen, bei denen zur Liquidierung der politischen Gefangenen aufgerufen
wurde. Was hatte sich geändert und warum?
Es hat schon vor der Entführung der Lufthansa-Maschine in der Bevölkerung
einen Bodensatz faschistischer Gelüste gegeben, die Gefangenen an die
Wand zu stellen, verhungern zu lassen, auf der Flucht zu erschießen.
Wen wundert das angesichts der deutschen Geschichte? Bemerkenswerter ist doch,
dass eine politische Klicke, (Jäger, Dregger, Kühn, Schmidt u.a.),
die Medien und einflussreiche staatsnahe Intellektuelle (Golo Mann) monatelang
eine Pogromstimmung schürten, die genau diese Liquidierung implizierte.
Darüber hinaus hat es auch eine starke Entsolidarisierung in der Linken
gegeben. Die Aktion konnte von niemandem politisch verteidigt und verkraftet
werden.
Wie bewertet Ihr die Nacht in Stammheim?
Wir wissen nicht, was in der Nacht passiert ist. Es gab innerhalb des politischen
und des Sicherheitsapparates eine Fraktion, die für die Ermordung der
Gefangenen optierte und die zum Teil auch im Krisenstab saß.
Als Ihr gefangen genommen wurdet: Wie reagierten die sozialen
Gefangenen auf Euch?
Die Gefangenen waren in den siebziger Jahren sehr politisiert. Die Bewegung
draußen machte nicht vor den Mauern halt. Es gab in der radikalen Linken
zahlreiche Gruppen, die Knastarbeit gemacht haben (von denen wohl nur noch
die Rote Hilfe übrig geblieben ist). Die Solidarität zwischen den
politischen und sozialen Gefangenen war selbstverständlicher. Das hat
für uns auch eine Menge möglich gemacht.
Inge: Ohne diese Solidarität hätten wir vier Frauen aus der Lehrter
Straße den Ausbruch 1976 vielleicht nicht geschafft.
Warum habt Ihr euch 1981 aufgelöst, gerade auf dem Höhepunkt
einer neuen Bewegung?
Inge: Na ja, Ralf und Ronni haben ja dagegen schwer opponiert mit dem richtigen
Argument, dass eine Bewegung nicht einfach durch die Proklamation einiger
Leute aufgelöst werden kann. Insofern haben wir im Untergrund nur die
kleine bewaffnete Formation der Bewegung aufgelöst, weil wir es eben
nicht geschafft hatten, uns politisch mit den Themen der wellenartigen Höhepunkte,
die immer schnell wieder zerrannen, zu verbinden. Das Guerillaprojekt war
Ende der siebziger nur noch für wenige Linke eine Möglichkeit zur
Veränderung der Gesellschaft.
Ronni, Ralf: Es gab mehrere Konfliktpunkte, die bereits Ende 1978 zur Spaltung
bei uns geführt haben. So die Ideologisierung vom "Bewaffneten Kampf"
als höhere Form des revolutionären Kampfes, die dann in logischer
Konsequenz zu dieser Auflösungserklärung und der Hinwendung zur
RAF führte. Der Kampf mit der Waffe kann nur eine Option in bestimmten
historischen Situationen sein, die aber immer voraussetzt, dass sie auch von
einer politischen Basis getragen wird. Sonst wird dieser Kampf nicht nur
putschistisch, sondern verliert auch den Feind aus den Augen, wie es sich
an der "Landshut"-Entführung gezeigt hat. Schließlich wird eine
Revolution in erster Linie nicht mit der Waffe, sondern politisch, das heißt
in den Köpfen der Menschen gewonnen.
Mittlerweile sind 25 Jahre seit dem Tod der Stammheimer Gefangenen
vergangen. Vom Theaterstück bis aktuell zum Spielfilm gibt es eine Vielzahl
von Veröffentlichungen, die sich mit dem bewaffneten Kampf befassen.
Wie seht ihr diesen "Boom"?
Grundsätzlich ist es richtig, wenn sich die Kultur und die Kunst mit
gesellschaftlichen Konflikten befasst. Aufstände und Revolutionen sind
schließlich Dramen in der Entwicklung der Menschheit. Was hier aber
läuft, ist die Verwurstung der Geschichte. Die Sieger wickeln ab. Kultur
ist immer auch Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, und sie lebt
von dem Geld derer, die sie bezahlen können. Es gibt kaum linke Künstler,
die es wagen würden, gegen den Mainstream zu schwimmen. Dazu kommt,
dass es kaum - auf jeden Fall zu wenig - linke Geschichtsschreibung gibt,
die Basis oder Inspiration für eine andere Kunst oder Kultur sein könnte.
Nach der Annexion der DDR wurde bekannt, dass das MfS über
Kontakte zu bewaffneten Gruppen verfügte. Wie seht Ihr das?
Inge: Also, mir war es ja reichlich früher bekannt, weil ich aktiv
an diesen Kontakten beteiligt war.
Die zwei deutschen Staaten waren ein Tummelplatz aller Geheimdienste von
Ost und West, sozusagen ein versteckter Hauptkriegsschauplatz. Das waren doch
die realen Verhältnisse, unter denen wir uns organisiert und gekämpft
haben. Die Geheimdienste waren immer ein Teil der politischen Kräfteverhältnisse,
mit denen wir es zu tun hatten. Als revolutionäre bewaffnete Organisation
sind wir von sämtlichen kapitalistischen Geheimdiensten der Welt bekämpft
worden. Das war doch klar, ihre Strategien zu studieren war immer ein Teil
unserer Arbeit. Insofern war der Geheimdienst der DDR für uns nichts
Unbekanntes, schon gar kein Tabu. Er war in diesem Kräfteverhältnis
erst mal kein Feind. Wir hatten den gleichen Gegner und eine gewisse Übereinstimmung
im politischen Verständnis. Aus dieser Einschätzung heraus sind
wir zum Beispiel immer durch das sozialistische Lager gereist, und von Schönefeld
geflogen, wenn wir Berlin verlassen oder in den Nahen Osten reisen wollten.
Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Berührung unvermeidlich war.
Wir machten dann die praktische Erfahrung, dass uns von dieser Seite keine
Gefahr droht. Wir haben die Rolle des sozialistischen Geheimdienstes nicht
grundsätzlich infrage gestellt oder gar moralisiert. Wieso auch . . .
- unter der gegebenen Systemkonfrontation!! Die Möglichkeit der Instrumentalisierung
war uns immer bewusst, und die Beziehungen mussten stets neu abgesteckt werden.
Ralf, Ronni: Wir haben immer und grundsätzlich eine Zusammenarbeit
mit Nachrichtendiensten abgelehnt. Eine revolutionäre Bewegung kann
und muss sich aus sich selbst heraus entwickeln und unabhängig von Staatsinteressen
(auch wenn es "befreundete" Staaten sind) bleiben.
Du, Inge, hast ja nun in der DDR gelebt, was waren für
Dich die wichtigsten Erfahrungen? Welche Unterschiede gab es?
Inge: Ein elementarer Unterschied war natürlich die geistige, philosophische
und politische Grundhaltung der Gesellschaft, die in der Organisierung des
politischen und privaten Lebens, in Bildung, Kultur und Kunst ihren Ausdruck
hatte. Wenn du aus dem Kapitalismus kommst, merkst du einfach nach einer Weile:
Hier läuft was allgemein anderes. Antikapitalistischer Zustand: Kollektivität
statt Vereinzelung, Solidarität statt Konkurrenz, wenig soziale Hierarchie,
Chancengleichheit. Ganz egal, wie weit die Materialisierung dieser Ideale/
Werte gekommen ist, allein das ständige Ringen darum hat ein anderes
gesellschaftliches Bewusstsein hervorgebracht.
Die öffentlich propagierte gesellschaftspolitische Philosophie war
der Sozialismus, der Kommunismus. Das war es natürlich lange nicht.
Aber immerhin ging es immer darum und nicht um Geld, um Hierarchien, nicht
um Profite, um Ausbeutung, Großmacht, Unterdrückung, Eroberung,
Unterwerfung, Konkurrenz.
Wer darum weiß, wie tief das kapitalistische Geld/Warensystem die
Gesellschaften und das Individuum durchdringt und prägt, kann vielleicht
verstehen, wenn ich sage, der antikapitalistische Zustand ist ein ungeheurer
Fortschritt in der Entwicklung hin zum Kommunismus. Er ist eine Grundvoraussetzung.
Die DDR war - trotz ihrer unzivilisierten Ecken, in denen alter Dreck liegen
geblieben war und neuer Dreck gedeihen konnte - einfach zivilisierter als
die BRD.
Gibt es noch eine Perspektive für die Linke?
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kann sich der Kapitalismus weltweit
frei entfalten und bringt seine Segnungen über die Menschheit: ungebremste
Ausbeutung, Hunger, Krieg, Unterdrückung, Rassismus. Das sehen wir hier
zu Lande an der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme und der erkämpften
Rechte der Arbeiter und Arbeiterinnen, an der Zunahme rassistischer Ausgrenzungen
und der Beteiligung und Vorbereitung von Kriegen.
Überall da, wo Menschen durch dieses System ins Elend gedrängt
werden, entwickelt sich Widerstand. Ob dieser Widerstand die Logik des "Fressen
und Gefressen werden" durchbricht, Da heißt antikapitalistisch, also
links wird, hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, Alternativen zu entwickeln,
die nicht in dieses System integrierbar sind und den Menschen Hoffnung machen,
dass es ein Leben vor dem Tod gibt.
Es ist die Aufgabe der Linken, eine Perspektive jenseits der kapitalistischen
Logik zu entwickeln. Die Voraussetzung dafür ist die Abschaffung des
Privateigentums an Produktionsmitteln.
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Interview mit einem Ex-Grapo-Mitglied
und
ehemaligen politischen Gefangenen
Was waren die Gründe, die zur Gründung der Grapo
führten?
Der nahe liegendste Grund war die Notwendigkeit, mit allen Mitteln
gegen die faschistische Franco-Diktatur in Spanien zu kämpfen. In den
sechziger Jahren begann sich in Spanien eine Arbeiterbewegung sowie soziale
Bewegung zu entwickeln, die immer stärker wurde und entschlossen war,
das Franco-Regime zu beenden. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre
war es die Absicht (des Regimes, Übers.) diese Bewegung in Blut zu ertränken.
Die Demonstrationen der Abeiter endeten zur Abschreckung oft im Kugelhagel.
Viele Streikende und demonstrierende Antifaschisten wurden von Kugeln durchlöchert.
Eines ist sicher, verantwortlich für einige dieser Morde ist der heute
amtierende Präsident der Autonomieregierung von Galizien, Manuel
Fraga Iribarne, "ein Demokrat Zeit seines Lebens", der in den siebziger Jahren
Innenminister unter Franco war, und im Angesicht der ökologischen Katastrophe,
verursacht durch den Untergang des Öltankers "Prestige", seine Hände
in Unschuld wäscht.
Die Repression erreichte 1974 und 1975 ihren Höhepunkt, als 20 Antifaschisten
zum Tode verurteilt wurden. Wegen ihnen, von denen fünf am 27. September
1975 erschossen wurden, kam es zu einer starken Welle von Protesten, die sich
auf die ganze Welt ausdehnte. Das Regime wollte die Bevölkerung terrorisieren
und die Arbeiterbewegung stoppen.
Eine handvoll Kommunisten von der PCE(r) beschlossen, dass es nicht so weit
kommen kann und im Gegenteil man zeigen müsse, dass der Widerstand, der
bewaffnete Kampf eingeschlossen, weitergeführt werden muss, da es kein
Ausweg sei, auf demokratische Zugeständnisse zu hoffen. Diese Genossen
beschlossen, die Antifaschistischen Widerstandsgruppen dadurch bekannt zu
machen, am 1. Oktober die Polizeikräfte an verschiedenen Orten in Madrid
anzugreifen, die die Erschießung der fünf (Antifaschisten) als
eine Demonstration der Stärke des Regimes feierten.
Im traditionellen Spektrum der kommunistischen Bewegung wurde
oft von Agents provocateurs gesprochen.
Ja, ich verstehe deine Frage. Im Spanien dieser Jahre kam so etwas vor.
Die PCE, welche von Santiago Carrillo geführt wurde, bezichtigte alle
Agent provocateurs zu sein , die ihre Politik der Versöhnung mit den
Faschisten nicht akzeptierten. Dieser Santiago Carrillo und seine Leute waren
für sehr viele Verhaftungen und Tote unter den Nachkriegswiderstandskämpfern,
welche die "Politik der Versöhnung" nicht akzeptierten, verantwortlich.
Die PCE(r) wurde genau deswegen von Kommunisten gegründet, welche die
Politik (der Versöhnung mit dem Faschismus) nicht akzeptierten und sich
deshalb von der alten PCE abspalteten. Aber diese PCE war spätestens
Ende der fünfziger Jahre keine kommunistische Partei mehr, als sie sich
vornahm, die Politik der Versöhnung zu betreiben und ein Teil des spanischen
kapitalistischen Staatsapparates zu werden. Und mit der Grapo, das ist klar,
machten sie da keine Ausnahme.
Was waren deine persönlichen Gründe, den bewaffneten
Kampf zu beginnen?
Meine persönlichen Gründe waren vermutlich dieselben, die der
Großteil der Genossen und Genossinnen hatte: der Hass gegen den Faschismus
und die Einsicht in die Notwendigkeit, den bewaffneten Kampf gegen den Faschismus
zu führen. Es ist klar, dass ohne diese zwei Bedingungen niemand einen
Weg eingeschlagen hätte, der das Leben kosten oder lange Jahre im Knast
mit sich bringen kann.
Der Schriftsteller Heinrich Böll sprach vom " Krieg der
sechs gegen sechzig Millionen". Was war Eure Vorstellung davon, wie Ihr diesen
Krieg gewinnen könnt? Gab es eine Möglichkeit, ihn zu gewinnen?
Wie du verstehen wirst, hielt die Grapo nichts von der Idee, in einen Krieg
von sechs gegen sechzig Millionen einzutreten, als vielmehr in diesen lang
andauernden Krieg des Widerstands der vielen von unten gegen die wenigen da
oben, also in diesen Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie, der so
lange andauern wird, bis Erstere am Schluss die dominierende Klasse der Gesellschaft
wird. Kann die Arbeiterklasse das kapitalistische System zerstören und
die Bourgeoisie besiegen? Bei der Grapo hatte niemand Zweifel daran, diese
Frage positiv zu beantworten. Deswegen haben wir uns nicht widersetzt wie
die sechs gegen sechzig Millionen, wir können uns nicht dem Prozess der
Organisierung der sozialen Revolution in Spanien entgegenstellen, wenn wir
der antifaschistischen Widerstandsbewegung Stärkung verschaffen wollen.
Es ist klar, dass die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der proletarischen
Revolution in einem Land nicht die Aufgabe einer bewaffneten Organisation
wie der Grapo ist, sondern die der Partei der Arbeiterklasse.
Die Medien haben das Bild der bewaffneten Gruppen bestimmt.
War es möglich diesem Bild zu widersprechen?
Die Medien verteidigen die Linie, die ihnen durch ihre Verleger vorgegeben
ist, und offensichtlich ist dies, ihre Feinde und Widersacher in einem schlechten
Licht zu präsentieren und von ihren Freunden das bestmögliche Bild
auszuarbeiten, logisch oder? Hierbei ist es völlig egal, ob es eine bewaffnete
Gruppe ist oder nicht. Was ich dir damit sagen will, ist, dass man nicht
generell von bewaffneten Gruppen sprechen kann. Beziehst du dich auf nationalistische,
internationalistische, antifaschistische, kommunistische, antiimperialistische
Gruppen, nationalistische Antiimperialisten, nationalistische Proimperialisten,
Anarchisten, Religiöse, Ökos, religiöse Faschisten oder eine
der vielen Richtungen oder Kombinationen von Richtungen, die existieren können.
In der Grapo dachten wir, dass diese Aktionen dazu beitragen müssen,
die Stärkung der antifaschistischen Bewegung und den Prozess des Aufbaus
der Revolution zu erleichtern. Infolgedessen ist es wahrscheinlich, dass
in bestimmten Bereichen der Bevölkerung eine sehr schlechte Meinung
über diese Organisation vorherrschte (zum Beispiel bei den fundamentalistischen
Katholiken, die das heilige Tribunal der Inquisition wieder einführen
wollen), während in anderen Teilen der Bevölkerung die Meinung
über eine solche Organisation nicht so schlecht war. Das Gleiche kann
man auch über eine andere Organisation sagen. Die Nato zum Beispiel
genießt einen positiven Ruf bei den Befürwortern des Beitritts
zur Nato, aber sie konnte ihr schlechtes Bild bei den Gegnern des Beitritts
zur Nato nicht wettmachen, obwohl ihnen die mächtigsten Medien zur Verfügung
standen.
Mit der Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzunehmen, warst
du damit konfrontiert, einen Feind zu erschießen. Wie kann man mit dem
Tod eines anderen umgehen?
Das ist ein moralisches Problem, dass die Philosophie seit 3000 Jahren diskutiert,
inklusive eines Autoren namens Stephen King, der in einem seiner Romane schrieb:
"den Tyrannen umbringen oder ihn gewähren lassen?" Stephen King entschied,
dass es eine moralische Verpflichtung sei, es zu tun. Heute zum Beispiel begrüßt
fast die gesamte Presse die Entscheidung der USA, Saddam Hussein umzubringen,
obwohl auch er ein von ihnen aufgebauter Tyrann ist. Jede soziale Klasse
hat ihre eigene Moral. Was für die einen unmoralisch ist, ist für
die anderen moralisch vertretbar, bis hin zu einer moralischen Verpflichtung.
Für jede Klasse ist Moral, was ihr nützt, und unmoralisch, was
ihr schadet. Für die Bourgeoisie ist moralisch vertretbar, die Arbeiterklasse
auszubeuten, und im Gegenteil dazu ist für die Arbeiterklasse die Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen unmoralisch. Jede soziale Klasse repräsentiert
Tyrannei für die Klasse, die sie zum Gegner hat. Und die faschistische
Diktatur ist die brutalste Form der Unterdrückung der Klasse. Es ist
notwendig, sich daran zu erinnern, dass wir in Spanien zu dieser Zeit fast
40 Jahre Diktatur ertragen haben, so war es für einige, die sich schon
dem antifaschistischen Kampf verpflichtet hatten, relativ einfach, sich für
den bewaffneten Kampf gegen den Tyrannen zu entscheiden.
Nach dem Tod von Franco begann ein so genannter Prozess der
Demokratisierung im spanischen Staat bis hin zur Einsetzung einer sozialistischen
Regierung 1982. Gab es einen Wechsel in der öffentlichen Meinung hinsichtlich
der Akzeptanz des bewaffneten Kampfes? Bei den proletarischen Massen?
Nach dem "bewaffneten Kampf" zu fragen, grundsätzlich, bringt uns zu
dem gleichen Problem wie bei der Frage vorher nach den "bewaffneten Gruppen".
Auf der anderen Seite müssen wir spezifizieren, auf welche öffentliche
Meinung wir uns beziehen wollen: die Meinung der Nationalisten, der Internationalisten,
der Region, der Antifaschisten, der Befürworter der Nato oder aber die
Meinung der Tageszeitungen und Magazine?
Wenn wir uns auf den Fall der Grapo beziehen, kann man sagen, dass sie niemals
mit großer Unterstützung der Bevölkerung gerechnet haben und
niemals die Unterstützung in bestimmten Bereichen der Arbeiterklasse
gefehlt hat. Die eine oder die andere Sache zu verneinen wäre nicht die
Wahrheit und eine Dummheit. Der bewaffnete Kampf oder der Krieg im Allgemeinen
bringt eine Menge an Leid auf allen Seiten hervor, aber es wird immer Personen
geben, die sich für ihn entscheiden als ein kleineres Übel im Vergleich
zu anderen Übeln und die in der ein oder anderen Art helfen werden. Der
bewaffnete Kampf der Grapo ist da keine Ausnahme. Daher erscheint es mir
unmöglich, tatsächlich zu wissen, wie sich die Meinung der Arbeiterklasse
verändert hat oder in welchem Maß sie sich verändert hat.
Die einzigen objektiven Erkenntnisse, die es in diesem Sinne gibt, sind die
von der Polizei bei den Festnahmen der Kommandos indirekt beigesteuerten Informationen:
dass sie davon ausgehen, dass die Grapo immer genügend Unterstützung
hat, um neue Kommandos aufzubauen.
Wie siehst Du die Nacht in Stammheim, wie wurden die Bewegungen
im spanischen Staat damit konfrontiert?
Im Gefängnis drohten uns die Schließer mehr als einmal mit Selbstmord
deutscher Art in Bezug auf Stammheim. Zwischen 79 und 81 beabsichtigten sie,
ein Gefängnissystem ähnlich Stammheim für uns einzuführen.
Dieses wurde durch einen Hungerstreik gestoppt, bei dem Crespo Galende, Mitglied
der PCE(r), starb. In wenigen Worten war Stammheim für die politischen
Gefangenen immer nicht nur ein Zeichen für den neuen deutschen Faschismus,
sondern auch eine permanente Bedrohung. Das heißt, dass die linken politischen
Organisationen jener Jahre in der Nacht von Stammheim ein ähnliches Symbol
sahen wie die politischen Gefangenen. Hier in Spanien entwickelten sich viele
kleinere Protestaktionen gegen den deutschen kapitalistischen Staat und der
Solidarität mit den Gefangenen der RAF, die von der Presse verschwiegen
wurden, wie zum Beispiel Propagandaaktionen, aber auch kleinere Farbbeutelaktionen,
zum Beispiel gegen die deutsche Botschaft.
Wie verhielten sich die sozialen Gefangenen zum Zeitpunkt
Deiner Inhaftierung?
Zu dieser Zeit waren die Gefangenen von der PCE(r) und der Grapo in einem
Hochsicherheitsgefängnis konzentriert, in dem es keine sozialen Gefangenen
gab. Aber ich kann dir sagen, dass die sozialen Gefangenen grundsätzlich
sehr viel Respekt vor den politischen Gefangenen hatten und immer, wenn sie
helfen konnten, geholfen haben.
In Ländern wie Italien, aber auch Deutschland, gibt es
Stimmen, die vom Einfluss der Geheimdienste in den bewaffneten Gruppen sprechen.
Gibt es diese Stimmen auch im spanischen Staat und wem gehören sie?
Natürlich existieren diese Stimmen auch in Spanien, insbesondere bezüglich
der Grapo. Diese Stimmen gehören den Spezialisten der psychologischen
Kriegsführung des Innenministeriums. Einer dieser Spezialisten ist ein
bekannter Journalist, der in den siebziger Jahren ein Handbuch der antisubversiven
psychologischen Kriegsführung geschrieben hat. In diesem stellte er die
Theorie auf, dass man zum Beispiel, um die Verwurzelung einer revolutionären
Gruppe in der Bevölkerung zu vermeiden, alle Arten von Verdächtigungen
über sie erfinden muss, so wie es bei der Grapo praktiziert wurde. Bezüglich
der Grapo wurde in diesem Handbuch geschrieben, dass die Presse von der Grapo
als "finstere Grapo", von ihren "finsteren Ursprüngen" und ihren "nicht
beichtbaren Zielen" schreiben sollte, die durch die Polizei oder durch die
Geheimdienste des Militärs oder der CIA manipuliert wurde oder durch
irgendein fremdes Land. Dieser Journalist, der dann Direktor der Zeitung "Diario
16" wurde, nutzte in seinem Handbuch, dem der Rest der Presse folgte, sein
gesamtes Arsenal der psychologischen Kriegsführung gegen die Grapo, scheinbar
ohne sein Ziel zu erreichen. Andere Stimmen, die in diesem Sinne waren, gehörten
den Führern der alten PCE, aus den Motiven, die ich bereits genannt
habe. Selbstverständlich, nach 25 Jahren der Existenz der Grapo, klingt
es lächerlich, wenn die von der PCE etwas Vergleichbares sagen.
Es sind mehr als 25 Jahre seit dem Tod Francos vergangen.
Existiert wie in anderen Ländern wie in Italien und Deutschland ein
Boom der "Romantizismus" in Bezug auf den bewaffneten Kampf?
Ich weiß nicht genau, ob so etwas in Italien oder Deutschland existiert,
aber ich glaube nicht, dass so etwas Ähnliches in Spanien existiert.
Hier existieren Guerillas fast ohne Unterbrechung seit Anfang des 19. Jahrhundert.
Die bewaffneten Aktionen sind bis heute Thema der Tagespresse. Hier existiert
höchstens eine romantische Sichtweise bezüglich des bewaffneten
Kampfes von Asterix gegen die Römer. Der andere, bis zu den Zeiten Viratios,
ein iberischer Neffe von Asterix, ist tabu; oder es ist wie heute in der Nachkriegszeit,
es gibt lediglich Terrorismus, so wie im 19. Jahrhundert nur Bandentum existierte.
Seit den neunziger Jahren gibt es Freilassungen von politischen
Gefangenen wie Dir. Was hat sich in den letzten 20, 25 Jahren verändert?
Nun, ich muss zunächst erläutern, dass die Freilassung der Gefangenen
nach Verbüßung ihrer Strafe dasselbe ist, wie es Verhaftungen immer
gegeben hat. Als sie mich verhafteten, gab es keine Videos in Spanien,
nicht mal Fernsehen in Farbe. Logischerweise auch kein Internet. Jetzt kauft
und verkauft man in Euros. Ja, einige Dinge haben sich geändert. Aber
in diesen Monaten konnte ich nicht alles sehen, insofern kann ich dir nicht
genau sagen, was sich alles geändert hat. Es scheint, dass einige grundsätzliche
Sachen wie die Beziehung zwischen der Lohnarbeit und dem Kapital immer noch
die gleichen sind wie bereits zur Zeit von Marx und Engels. Aber wie ich
schon sagte, gibt es viel, was ich mir noch ansehen muss.
Gibt es noch eine Perspektive für die Linke?
Um diese Frage zu beantworten, müsste ich 300.000 Seiten oder mehr
schreiben. Deshalb denke ich, es ist besser zu fragen, ob es eine andere
Perspektive gibt als die, die Marx und Engels aufgezeigten. So sparen wir
uns Zeit, Papier und Tinte.
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Chronologie
14.05.1970: Befreiung von Andreas Baader. Andreas Baader war am 4. April
in Westberlin in eine Verkehrskontrolle geraten und verhaftet worden, da
er eine längere Reststrafe u.a. wegen Kaufhausbrandstiftung abzusitzen
hat. Seine Befreiung findet während eines Aufenthaltes im Institut für
Soziale Fragen statt. Mit der Gefangenenbefreiung proklamiert sich die Rote
Armee Fraktion (RAF).
In einem Brief an die Westberliner Untergrundzeitung "883" erklärt die
RAF, an wen sie sich mit der Aktion wendet: an die, die es satt haben, und
warum sie die Rote Armee aufbaut: um die Konflikte auf die Spitze zu treiben.
24.06.1970: Die letzte noch existierende SDS-Gruppe in Heidelberg wird vom
baden-württembergischen Innenminister verboten. Der SDS hatte sich am
21.3.1970 als bundesweite Organisation aufgelöst.
05.11.1970: Der Deutsche Bundestag verabschiedet ein "Sofortprogramm zur
Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung", das v.a.
eine materielle und personelle Stärkung des BKA sowie die Erweiterung
seiner zentralen Befugnisse vorsieht.
28.01.1971: Der Innenminister der sozialliberalen Bundesregierung Genscher
(FDP) übergibt den Fahndungsauftrag "gegen Baader und andere" an die
Sicherungsgruppe Bonn. Diese ist dem Innenministerium direkt unterstellt.
In einem Vorbericht des BKA-Beamten Alfred Klaus heißt es am 19.2.
über die RAF: "Die Beweggründe für das strafbare Tun der Täter
und die von ihnen verfolgten revolutionären Ziele haben ihren Ursprung
in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung der letzten Jahre, die durch
die antiautoritäre Studentenbewegung und andere Kräfte der außerparlamentarischen
Opposition ausgelöst wurde."
10.02.1971: Die Sicherungsgruppe Bonn und der Verfassungsschutz beschatten
zwei Mitglieder der RAF, Manfred Grashof und Astrid Proll, und versuchen
sie im Frankfurter Westend festzunehmen. Die zwei können flüchten,
obwohl die Beamten schießen. Die Springerpresse erklärt die RAF
zum "Staatsfeind Nummer eins". Seit Mai letzten Jahres hat die Polizei zwölf
Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen und acht Haftbefehle erlassen.
28.02.1971: Die Bundesanwaltschaft (BAW) übernimmt das Ermittlungsverfahren
gegen die RAF.
01.03.1971: Im Kriminalgericht Moabit, das zur Festung ausgebaut wurde, wird
Horst Mahler mangels Beweisen freigesprochen, unter Hinzuziehung des §129
(kriminelle Vereinigung) aber weiter in Haft behalten bis zu seinem zweiten
Prozeß im Oktober 1972. Irene Goergens und Ingrid Schubert werden wegen
der Baader-Befreiung zu hohen Haftstrafen verurteilt.
April 1971: Die RAF-Schrift "Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla"
erscheint. Inhalt: erstes Jahr der Praxis; Stärke des Systems in der
BRD; Funktion des Reformismus; Schwäche der revolutionären Bewegung;
Verdienst der Studentenbewegung; Bedeutung des Internationalismus; Notwendigkeit
der revolutionären Initiative; Klassenanalyse und Primat der Praxis;
Negation der parlamentarischen Demokratie und Stadtguerilla als Konsequenz
daraus; Differenzen zu anderen Strömungen der Linken, insbesondere den
Parteiaufbaukonzepten; Organisierung der Illegalität.
15.07.1971: In Hamburg wird im Zuge der ersten Großfahndung nach der
RAF, der Großaktion "Kora", Petra Schelm durch einen Schuß aus
der Maschinenpistole, der unterhalb des linken Auges trifft, getötet.
Werner Hoppe wird festgenommen. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Schützen
wird von der Hamburger Staatsanwaltschaft Ende Juli 1971 eingestellt. Der
Beamte habe in Notwehr gehandelt.
01.09.1971: Horst Herold wird Chef des Bundeskriminalamtes (BKA). Herold
trifft alle Vorbereitungen für eine neue Fahndungsmethode. Herold einige
Jahre später: "Die EDV versetzt uns vielmehr in die Lage, das Vergleichen
von Fakten, d.h. die Voraussetzung detektivischer Kombinationsarbeit, schneller
und zuverlässiger durchzuführen. So ist es mit Hilfe der EDV erstmals
möglich, einen Fingerabdruck, den die Polizei an einem Tatort etwa in
Garmisch-Partenkirchen findet, in kürzester Zeit mit den Fingerabdrücken
mit den Fingerabdrücken sämtlicher 2,8 Millionen Personen zu vergleichen,
die wir im BKA verwahren." Das BKA kann seine Daten auch unmittelbar mit
dem Ausländerzentralregister abgleichen. Wenige Wochen später,
am 4.10.1971, bringt die Bundesregierung einen Antrag für ein Bundesmeldegesetz
ein, das lückenlose Erfassung von Personendaten und deren Verfügbarkeit
für alle staatlichen Behörden ermöglichen soll.
22.10.1971: Bei der Festnahme Margrit Schillers wird ein Polizeibeamter erschossen.
Der vermutliche Schütze G. Müller wird später "Kronzeuge"
der Bundesanwaltschaft, die Ermittlungen gegen ihn betreffend den Tod des
Polizisten werden dafür niedergeschlagen.
04.12.1971: In Westberlin erschießen Polizisten in Zivil im Rahmen
der Fahndung "Trabrennen" Georg von Rauch. Bei einer Fahrzeugkontrolle waren
Georg von Rauch und zwei Begleiter aufgefordert worden, sich mit erhobenen
Händen und dem Gesicht zur Wand an eine Hauswand zu stellen. Er wurde
erfolglos nach Waffen durchsucht. Als Georg von Rauch zur Seite blickt, trifft
ihn die Kugel aus einem Meter Entfernung. Die Oberstaatsanwaltschaft Westberlin
stellt das Ermittlungsverfahren gegen "unbekannte Bedienstete" Ende Mai ein.
19.12.1971: Das 11. und 12. Strafrechtsänderungsgesetz, mit denen die
Strafen für Flugzeugentführung und Geiselnahme verschärft
werden, treten in Kraft.
22.12.1971: Bei einem Banküberfall in Kaiserslautern wird ein Polizist
erschossen. Obwohl über die Täterschaft Unklarheit besteht, startet
die Springerpresse eine hysterische Hetzkampagne gegen die RAF.
27.01.1972: Die Ständige Sitzung der Innenminister des Bundes und der
Länder berät Maßnahmen gegen die RAF. Den Vorsitz der Tagung
führt Senator Ruhnau (SPD), Hamburg.
28.01.1972: Die Regierungschefs des Bundes (Brandt, SPD) und der Länder
fassen den "Extremistenbeschluß": ". . . darf in das Beamtenverhältnis
nur berufen werden, wer die Gewähr bietet, - daß er jederzeit
für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes
eintritt . . ." Der NRW-Ministerpräsident Kühn (SPD) erklärt:
"Ulrike Meinhof als Lehrerin oder Andreas Baader bei der Polizei beschäftigt,
das geht nicht."
02.03.1972: Thomas Weißbecker wird in Augsburg von einem polizeilichen
Sonderkommando aus 2m Entfernung erschossen. Das Ermittlungsverfahren wird
Ende August eingestellt. Am gleichen Tag wird bei der Verhaftung von Manfred
Grashof und Wolfgang Grundmann in Frankfurt ein Polizist erschossen. Manfred
Grashof wird schwer verletzt (Schüsse in Kopf und Brust) nach wenigen
Tagen in eine Haftzelle gesperrt.
22.03.1972: Die sozialliberale Bundesregierung verabschiedet das "Schwerpunktprogramm
,Innere Sicherheit’". Im Zentrum steht der Ausbau des Bundeskriminalamtes.
Das Amt wird personell von 933 Stellen (1969) auf 2062 Stellen (1973) (1981:
3536 Beamte und Angestellte) ausgebaut. Finanziell sind das 1969: 22,4 Mio.
DM, 1973: 122 Mio. DM (1981: 290 Mio. DM).
Die Bereitschaftspolizeien der Länder, im "Sofortprogramm von 1970"
(siehe oben) noch nicht einmal erwähnt, gewinnen an Bedeutung als "ein
wichtiger Ordnungsfaktor der inneren Sicherheit". Von 18 000 Mann soll die
Truppenstärke auf 22 300 Mann aufgestockt werden. Die Ausrüstung
soll auf Kosten des Bundes modernisiert und ergänzt werden um Fernmeldegerät,
Kraftfahrzeuge und sonstiges polizeitaktisches-technisches Gerät. Die
Bewaffnung soll Handgranaten und MG's einbeziehen.
Der Bundesgrenzschutz soll zu einem "zusätzlichen, jederzeit abrufbaren
Sicherheitspotential" werden. Vorgesehen wird der personelle Ausbau von 20
000 Stellen 1969 auf 22 159 Stellen im Jahre 1973. Zur Verbesserung der Einsatzfähigkeit
sollen u.a. Hubschrauberstaffeln aufgestellt werden.
Schwerpunkt des Ausbaus des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist die
bessere Ausstattung mit Observationsgruppen. Der Stellenplan wird von 1016
(1969) auf 1409 Stellen im Jahre 1973 aufgestockt.
April 1972: Die RAF-Schrift "Rote Armee Fraktion - Stadtguerilla und Klassenkampf"
erscheint. Inhalt: Konzerne und Staat; westdeutsche Innen- und Außenpolitik
als Innen- und Außenpolitik der Konzerne; multinationale Organisation
der Konzerne, nationale Beschränktheit des Proletariats; Stadtguerilla
als Verbindung von nationalem und internationalem Kampf; die exemplarische
Bedeutung des Chemiearbeiterstreiks 1971; Militarisierung der Klassenkämpfe;
objektive Aktualität der sozialen Frage: Armut in der BRD; subjektive
Aktualität der Eigentumsfrage; Reformismus und Unterschied zwischen
CDU und SPD; Rolle der Springerpresse; Möglichkeiten und Funktion der
Stadtguerilla; Anmerkungen zu Verrat, Liberalismus, Bankraub, Solidarität.
11.05.1972: Im Hauptquartier des V. US-Corps in Frankfurt gehen drei Bomben
hoch. Ein Offizier wird getötet, 13 Soldaten werden verletzt. Das RAF-"Kommando
Petra Schelm" gibt eine Erklärung ab.
12.05.1972: Bombenanschläge auf die Polizeihauptquartiere in Augsburg
und München. Dabei wird niemand verletzt.
16.05.1972: Sprengstoffanschlag auf Buddenberg, BGH-Richter in Karlsruhe,
bei dem dessen Frau verletzt wird. Das RAF-"Kommando Manfred Grashof" macht
Buddenberg für einen Mordversuch an dem RAF-Gefangenen Grashof, für
die Zwangsnarkotisierung gegen die RAF-Gefangene Carmen Roll und für
die Isolationshaftbedingungen verantwortlich.
19.05.1972: Zwei Bomben explodieren in Hamburg im Springer-Hochhaus. Trotz
rechtzeitiger und dreimaliger Warnung vorher läßt Springer nicht
räumen. 17 Arbeiter werden verletzt. Die RAF übt Selbstkritik und
schreibt: "Wir haben Springer nicht als das Schwein eingeschätzt, das
er tatsächlich ist."
24.05.1972: Bombenanschlag auf das Hauptquartier der US-Armee in Europa in
Heidelberg, wo der Zentralcomputer installiert ist, mit dem die US-Flugeinsätze
über Nordvietnam koordiniert werden. Drei Soldaten werden getötet.
Das RAF-"Kommando 15. Juli" übernimmt mit der Kommandoerklärung
vom 25.5.72 die Verantwortung.
28.05.1972: Bei DPA in Hamburg geht eine Meldung ein, derzufolge am 2. Juni
in der Stuttgarter Innenstadt drei mit Sprengstoff beladene Autos explodieren
sollen. Die Meldung ist mit RAF unterzeichnet. Zu dieser Zeit steht die Garage
in Frankfurt, in der sich ein Sprengstofflager der RAF befindet, bereits
seit neun Tagen unter Beobachtung durch die Sicherungsgruppe Bonn. In einem
Brief an dpa, der mit dem Fingerabdruck von Andreas Baader unterzeichnet
ist, dementiert die RAF am 30. Mai die Stuttgarter Bombendrohung. Der Brief,
der vom 28. Mai datiert ist, wird in keiner Zeitung abgedruckt. In Frankfurt
wird der in der Garage gelagerte Sprengstoff von der Sicherungsgruppe Bonn
durch harmloses Material ersetzt.
31.05.1972: Unter Oberbefehl des Bundeskriminalamtes findet die "Aktion Wasserschlag"
statt, an der die gesamte Polizei beteiligt ist. Mit allen verfügbaren
Hubschraubern des öffentlichen Dienstes werden den ganzen Tag über
Autobahn-Auf- und Abfahrten gesperrt und Personenkontrollen durchgeführt.
01.06.1972: Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe werden bei einer
Großaktion der Sicherungsgruppe Bonn mit 300 Polizisten (bewaffnet
mit Maschinenpistolen) und mit Einsatz eines Panzerwagens in der Frankfurter
Garage verhaftet. Andreas Baader wird von einem Scharfschützen angeschossen
und verletzt. Weitere Verhaftungen folgen: Am 7. Juni Gudrun Ensslin in Hamburg,
am 9. Juni Brigitte Mohnhaupt in Westberlin, am 15. Juni Ulrike Meinhof und
Gerhard Müller in Hannover und am 7. Juli Irmgard Möller und Klaus
Jünschke in Offenbach.
07.06.1972: Die Bundesregierung gibt eine Erklärung betreffend Fragen
der Inneren Sicherheit ab. Bundesinnenminister Genscher (FDP) zu: Programm
für Ausbau und Ausrichtung des staatlichen Unterdrückungsapparates;
Grenzen der Kritik, Berufsverboten, Maßnahmen gegen "Sympathisanten";
Isolierung der RAF.
17.06.1972: Der Bundesgerichtshof schließt Otto Schily als Verteidiger
in der Strafsache gegen Gudrun Ensslin aus. Das Gericht behauptet, daß
Schily Mitglied einer kriminellen Vereinigung sei und begründet das
damit, daß bei der Verhaftung von Ulrike Meinhof eine Nachricht (Kassiber)
von der inhaftierten Gudrun Ensslin gefunden worden sei, die nur über
Schily aus dem Gefängnis gelangt sein könne.
22.06.1972: In dritter Lesung verabschiedet der Bundestag das Verfassungsschutzgesetz,
das die Überwachungsmöglichkeiten für den Verfassungsschutz
ausdehnt und die wechselseitige Amtshilfe zwischen Gerichten und Behörden
und dem Bundesverfassungsschutz einführt. Am gleichen Tag verabschiedet
der Bundestag das Bundesgrenzschutzgesetz. Damit erhält der BGS umfassende
polizeiliche Befugnisse für das Landesinnere. Als besondere Aufgabe
legt das Gesetz fest: Grenzschutz, Einsatz im Notstands- und Verteidigungsfall,
Schutz von Bundesorganen, Sicherung eigener Einrichtungen, Bundesgrenzschutz
auf hoher See, Unterstützung der Polizei der Länder, Aufgaben im
Zusammenhang mit dem Ausländergesetz, dem Paßgesetz, dem Waffengesetz,
dem Sprengstoffgesetz etc.
25.06.1972: Im Rahmen einer Fahndungsaktion gegen die RAF wird in Stuttgart
Ian Mac Leod erschossen. In den frühen Morgenstunden stürmen Kriminalbeamte
die Wohnung des schottischen Geschäftsmannes. Dieser öffnet unbekleidet
seine Schlafzimmertür und schließt sie sofort wieder. Im gleichen
Moment schießt ein Kriminalobermeister mit einer Maschinenpistole durch
die geschlossene Tür. McLeod ist sofort tot. Ein Verfahren gegen den
Kriminalobermeister wird nicht eröffnet, der Beamte, so die Stuttgarter
Staatsanwaltschaft, habe sich in Putativ-Notwehr ("Vermeintlicher Notwehr")
befunden.
02.09.1972: Demonstration der KPD/ML zum Antikriegstag und gegen die "Friedensolympiade"
in München. Die Demonstration wird nur außerhalb der Innenstadt
genehmigt. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.
05.09.1972: In den frühen Morgenstunden greifen acht Mitglieder der
Gruppe Schwarzer September (der Name bezieht sich auf das Massaker der jordanischen
Armee an den Palästinensern in Jordanien im September 1970) die israelische
Olympiamannschaft im Olympischen Dorf in München an und nehmen neun
israelische Sportler als Geiseln, zwei israelische Sportler finden den Tod.
Die Gruppe fordert die Freilassung von 200 namentlich genannten Arabern,
die von Israel gefangen gehalten werden. Bundesinnenminister Genscher führt
die Verhandlungen in Absprache mit Kanzler Brandt. Sie vereinbaren mit der
Gruppe Schwarzer September, daß sie am Abend ausfliegen könne.
Stattdessen wird das Kommando nicht, wie von Innenminister Genscher zugesagt,
mit Hubschraubern zum Zivilflughafen geflogen, sondern zum Militärflughafen
Fürstenfeldbruck. Die Mitglieder des Kommandos und die Geiseln werden
mit Scheinwerfern geblendet. Fünf Scharfschützen eröffnen
das Feuer gegen zwei Mitglieder des Kommandos, die gerade das Flugzeug betreten.
Die deutschen Scharfschützen richten ihr Feuer auch auf einen Hubschrauber,
der daraufhin explodiert. Bei dem Überfall kommen alle neun israelischen
Geiseln, fünf Mitglieder der Gruppe Schwarzer September und ein Polizist
ums Leben. Die überlebenden Mitglieder des Kommandos Schwarzer September
erklären, daß sie weder auf die Gefangenen gezielt haben noch
entsprechende Anweisung dazu gehabt hätten. Genscher und Strauß
sind in unmittelbarem Sichtkontakt beim Überfall dabei. Am 7. September
erklärt ein Sprecher der ägyptischen Regierung, die westdeutschen
Behörden seien für die Tragödie voll verantwortlich, weil
sie ihr Versprechen nicht gehalten hätten, die arabischen Guerillas
und ihre israelischen Geiseln in eine arabische Hauptstadt fliegen zu lassen.
Auf die Vorwürfe Brandts und Heinemanns, arabische Regierungen seien
mitverantwortlich, droht Ägypten mit dem Auszug der arabischen Mannschaften
von den Olympischen Spielen. In einem Kommunique der Organisation Schwarzer
September fordert diese den Ausschluß Israels von den Olympischen Spielen.
Der Münchener Polizeipräsident und Sicherheitsbeauftragte für
die Olympischen Spiele, Manfred Schreiber, erklärt: "Die Tendenz dieser
Spiele war es, daß sich Deutschland anders präsentieren sollte,
als es 1936 der Fall war: heiterer, gelassener, liberaler." Die Aktion des
Schwarzen September ist unter den arabischen Staaten und Organisationen -
auch innerhalb der PLO - umstritten.
Am 7. September bombardiert Israel Flüchtlingslager im Libanon und tötet
200 Zivilisten.
13.09.1972: Auf Anregung von Bundesinnenminister Genscher beschließt
die Innenministerkonferenz auf Bundes- und Länderebene die Aufstellung
von Spezialeinheiten zur "Terrorismusbekämpfung", u.a. der GSG9. Im
Konzept der Innenministerkonferenz vom 15. Februar 1974 wird der "Auftrag"
der GSG9 so formuliert: "Die GSG9 ist zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben
in Fällen von besonderer Bedeutung vorgesehen. Sie kann vor allem dann
eingesetzt werden, wenn die Lage ein geschlossenes Vorgehen - offen oder
verdeckt - unter Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen Gewalttäter erfordert.
Dies ist insbesondere der Fall, wenn bandenmäßig organisierte
Terroristen in größerem Umfang tätig werden."
03.10.1972: Die Bundesregierung verbietet die antiimperialistischen Organisationen
Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) und Generalunion Palästinensischer
Studenten (GUPS). Am 8.10. demonstrieren in Dortmund, von einer zentralen
Aktionseinheit aufgerufen, über 10 000 gegen das Verbot und gegen die
von der Bundesregierung eingeleitete Verschärfung der Ausländergesetze.
Nov. 1972: Die RAF-Schrift "Die Aktion des Schwarzen September in München
- Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes" erscheint. Inhalt: Strategie
des antiimperialistischen Kampfes: den Kampf ins Zentrum tragen; Bedeutung
des Nahen Ostens für den Imperialismus; imperialistische Einkreisungspolitik;
Imperialismus als Einheit der Widersprüche; Imperialismus und Dritte
Welt; Führungsanspruch der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen;
Opportunismus in den Metropolen und seine Grundlage; Ausbeutung, Massenkonsum,
Massenmedien: der 24-Stunden-Tag der Herrschaft des Systems; revolutionäres
Subjekt; Faschismus und Antifaschismus; Antifaschismus und Antiimperialismus;
Demaskierung des Systems.
17.01.1973: 40 politische Gefangene treten in den Hungerstreik. Sie fordern
die Aufhebung der Isolation und insbesondere, daß Ulrike Meinhof
aus dem Toten Trakt in Köln-Ossendorf herauskommt. Mit dem Hungerstreik,
den die Justiz zeitweilig mit Wasserentzug bei verschiedenen Hungerstreikenden
beantwortet, erreichen die Gefangenen, daß Ulrike Meinhof am 9.2.73
aus dem Toten Trakt in eine Einzelzelle der Männerabteilung des Gefängnisses
Köln-Ossendorf verlegt wird. Daraufhin brechen sie den Hungerstreik
am 12.2. ab. Die Dokumente zum Toten Trakt machen deutlich: Die Staatsschutzbehörden
haben der systematischen Isolation aller politischen Gefangenen bei Ulrike
Meinhof und Astrid Proll in einem - auch akustisch isolierten - toten Gefängnistrakt
eine Komponente hinzugefügt, die auf den neuesten Ergebnissen der Forschung
beruht. Die vollständige Isolation ist schmerzhaft und zerstörerisch.
14.02.1973: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet zum Verteidigerausschluß.
Es weist den Ausschluß von Rechtsanwalt Schily aus dem Stammheim-Verfahren
zurück, da dafür keine gesetzliche Regelung besteht, und fordert
die gesetzliche Regelung.
08.05.1973: 80 politische Gefangene treten in den Hungerstreik für die
Forderungen: "Gleichstellung der politischen Gefangenen mit allen anderen
Gefangenen!" und "Freie politische Information für alle Gefangenen -
auch aus außerparlamentarischen Medien!" Erneut versucht die Justiz,
den Hungerstreik zu brechen, u.a. durch Wasserentzug bei Andreas Baader.
Als Gerichte bei zwei Gefangenen die Aufhebung der Isolation anordnen, wird
der Hungerstreik am 29.6.1973 beendet. Die Dokumente zur Isolationshaft zeigen:
1. Isolation kann aus dem bestehenden Strafvollzug heraus entwickelt werden
durch Konzentration vorhandener Einzelelemente. 2. Einfache Lebensäußerungen
werden unter den "Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung" gestellt.
3. Die Persönlichkeitsdeformation ist Ziel der Isolation, was bereits
1973 öffentlich nachgewiesen wird.
28.06.1973: Das neue BKA-Gesetz erweitert die Kompetenzen des Bundeskriminalamtes,
das zu einer "Zentralstelle für elektronischen Datenverbund zwischen
Bund und Ländern wird" und das damit beauftragt wird, die Länderpolizeien
in der "Vorbeugearbeit zur Verbrechensbekämpfung" zu unterstützen.
Es erhält die Zuständigkeit für eine Reihe von Straftatbeständen
und für die Verfolgung die gleichen Freiheiten wie der BGS, wobei §6
des Gesetzes feststellt: "Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit
(Art. 2 Abs. 2, Satz 1 GG), der Freiheit der Person (Art. 2, Abs. 2, Satz
2 GG), der Freizügigkeit (Art. 11, Abs.1 GG), der Unverletzlichkeit
der Wohnungen (Art. 13 GG) werden nach Maßgabe dieser Vorschriften
eingeschränkt."
25.01.1974: Eine gutachterliche Bestätigung bescheinigt, daß Astrid
Proll verhandlungsunfähig ist. Später wird sie aufgrund ihres lebensbedrohlichen
Gesundheitszustandes infolge der Isolation aus der Haft entlassen.
15.02.1974: Die Innenministerkonferenz beschließt die überarbeitete
und erweiterte Fassung des "Programms für die innere Sicherheit der
BRD" (siehe oben). Die bereits 1972 verabschiedeten Teile I bis IV sind Bestandteile
dieses Programms. Schwerpunkte der Abschnitte V bis XI betreffen: spezielle
polizeiliche Sicherheitsprobleme bei "Ereignissen mit politischem Charakter";
die Koordinierung der Verfassungsschutzbehörden und deren Zusammenwirken
mit anderen Nachrichtendiensten, Polizei; die Zusammenarbeit im EG-Bereich.
Im Einzelnen geht es um einheitliches Verhalten der Polizei bei Demonstrationen
und anderen Ereignissen mit politischem Charakter, die Gewährleistung
von "funktionsfähigen Lagezentren" durch die Innenministerien und die
Einsatzbereitschaft der Mobilen Einsatzkommandos der Länder, deren Stärke
auf 1500 Beamte beziffert wird, in Verbindung mit der GSG9. Für die
Zusammenarbeit von Verfassungsschutzbehörden, BND, MAD, der Polizei
und den Strafverfolgungsbehörden in Staatsschutzangelegenheiten wird
die Bedeutung des Nachrichtendienstlichen Verbundsystems (NADIS) hervorgehoben.
21.05.1974: Im Zuge der "Terroristenfahndung" wird der Taxifahrer Günter
Jendrian um 3 Uhr früh in seiner Wohnung erschossen. Auch hier wird
das Verfahren gegen den Polizeibeamten mit der Begründung der
"Notwehr" eingestellt. - Insgesamt sind von 1971 bis 1978 über 146 Tote
durch polizeiliche Todesschüsse dokumentiert: 16 im Zusammenhang mit
der sogenannten Terroristenjagd; 52 in Verfolgung von - meist einfachen -
Kriminellen; 13 in Verfolgung von Verkehrssündern; die übrigen
im Zuge allgemeiner Hysterie.
04.06.1974: In Westberlin wird Ulrich Schmücker, vormals Bewegung 2.
Juni, erschossen. Die Staatsschutzbehörden machen die Bewegung 2. Juni
verantwortlich. Tatsächlich jedoch spielt der Verfassungsschutz sowohl
beim Tode Ulrich Schmückers wie bei den Ermittlungen - er selbst legt
die Spur zu den Angeklagten - wie im Prozeß - der "Kronzeuge" entpuppt
sich als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes - eine höchst trübe
und bis heute unaufgeklärte Rolle. Ende der 80er Jahre muss der Prozess
gegen Ilse Schwipper und andere endgültig beendet werden, da eine Aufklärung
wegen der vielen Einflussnahmen der Ermittlungsbehörde nicht mehr möglich
ist, so der BGH.
10.09.1974: Prozeßbeginn gegen Horst Mahler, Ulrike Meinhof u.a. wegen
Gefangenenbefreiung. Horst Mahler wird zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt
(er wird 1980 entlassen) und Ulrike Meinhof zu acht Jahren. Am 13.09. hält
Ulrike Meinhof in dem Prozeß eine Rede zu "Bewaffneter antiimperialistischer
Kampf und die Defensive der Konterrevolution in ihrer psychologischen Kriegsführung
gegen das Volk". Inhalt: Proletarischer Internationalismus; Kampf der Metropolenguerilla
im Hinterland des antiimperialistischen Befreiungskampfes; Fiktion des Nationalstaats;
Guerilla und Gesellschaft; Methoden und Ziele der psychologischen Kriegsführung;
Funktion von Führung; Hungerstreikankündigung.
13.09.1974: Die politischen Gefangenen beginnen den dritten Hungerstreik,
der fast fünf Monate andauert. Sie wenden sich damit "gegen Sonderbehandlung,
gegen die Vernichtungshaft an politischen Gefangenen in den Gefängnissen
der Bundesrepublik und Westberlins, gegen die Counterinsurgency-Programme
der imperialistischen Vollzugsmaschinen, der Bundesanwaltschaft, der Sicherungsgruppe
Bonn - Abteilung Staatsschutz des Bundeskriminalamts zur Vernichtung gefangener
Revolutionäre und von Gefangenen, die im Gefängnis angefangen haben,
sich zu organisieren und zu kämpfen".
27.09.1974: Monika Berberich gibt für die Gefangenen aus der RAF bekannt,
daß Horst Mahler nicht mehr Teil der RAF sein kann.
09.11.1974: Holger Meins stirbt nach achtwöchigem Hungerstreik in der
Strafanstalt Wittlich/Eifel. Kurz vor dem Tod von Holger Meins schreibt sein
Anwalt Siegfried Haag an den zuständigen Richter Prinzing: "Sie sind
für seinen Tod verantwortlich, denn die Bedingungen der Haft bestimmen
Sie." In vielen Städten der BRD und Westberlin kommt es zu spontanen
Protestdemonstrationen.
10.11.1974: In Westberlin wird der Kammergerichtspräsident Günther
von Drenckmann von einem Kommando der Bewegung 2. Juni erschossen als Antwort
auf den Tod von Holger Meins.
13.11.1974: Die Bundesregierung gibt eine Erklärung ab. In der anschließenden
Debatte etabliert Bundesjustizminister Vogel (SPD) das Gesinnungsverbrechen,
das selbst unter Isolationshaftbedingungen noch begangen werden kann. NRW-Innenminister
Weyer (FDP) propagiert Polizeiaufrüstung zwecks Chancengleichheit.
26.11.1974: Auf Beschluß der Konferenz der Innenminister findet eine
großangelegte bundesweite Fahndungsaktion, die "Aktion Winterreise",
statt. In einer unangekündigten Gemeinschaftsaktion sämtlicher
Polizei- und Bundesgrenzschutzeinheiten werden in der gesamten BRD Straßensperren
errichtet und von schwerbewaffneter Polizei scharfe Kontrollen durchgeführt.
Als links geltende Anwaltskanzleien, Büros, Druckereien und Wohngemeinschaften
werden durchsucht. Die Aktion wird von seiten der Polizei mit militärischer
Härte durchgeführt, Wohnungen werden zerstört und Leute mißhandelt.
Zahlreiche Leute werden vorläufig festgenommen. Von den 23 Personen,
die wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gesucht werden,
wird keiner gefaßt. Innenminister Maihofer erklärt: "Ein Erfolg
war die ,Winterreise’ nämlich vor allem für das Image und das Selbstbewußtsein
der Polizei."
07.12.1974: In einem Schließfach des Bremer Hauptbahnhofs explodiert
eine Bombe, die fünf Verletzte fordert. Die RAF distanziert sich in
einer Erklärung vom 9. Dezember, in der es heißt: "Die Bomben
der RAF sind nie gegen das Volk gerichtet."
18.12.1974: Der Bundestag verabschiedet das Gesetz zur Ergänzung des
Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts. Es begrenzt die Höchstzahl
der Wahlverteidiger, regelt das Verbot der Mehrfachverteidigung und den Verteidigerausschluß,
ermöglicht, die Hauptverhandlung ohne Angeklagte bei verschuldeter Verhandlungsunfähigkeit
durchzuführen, und verschärft die Ordnungsstrafgewalt in der Hauptverhandlung.
Der Berichterstatter des Rechtsausschusses des Bundestages Gnädinger,
SPD, wird 18 Monate später erklären: "Jedem Eingeweihten ist klar,
daß z.B. ohne die bereits beschlossenen Änderungen der Strafprozeßordnung
der Prozeß in Stammheim gegen die Baader/Meinhof-Terroristen in noch
größere Schwierigkeiten geraten wäre, ja unter Umständen
hätte abgebrochen werden müssen."
20.01.1975: Der "Spiegel" veröffentlicht ein Interview mit den Stammheimer
Gefangenen. In dem dokumentierten Auszug äußern sich die Gefangenen
zur Rolle der BRD und zur Rolle der Metropolenguerilla im Entwicklungsprozeß
der Weltrevolution.
Febr. 1975: In einem Seminar der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation
(IKPO - Interpol) in Paris beraten Kriminalbeamte aus 37 Ländern über
Erfahrungen und geeignete Gegenmaßnahmen der Polizei bei Guerilla-Aktionen
mit Geiselnahme. Das nationale Zentralbüro von Interpol ist das BKA.
27.02.1975: Beginn der Lorenz-Entführung. Der Westberliner CDU-Vorsitzende
und Bürgermeisterkandidat Lorenz wird zwei Tage vor den Wahlen von der
Bewegung 2. Juni entführt. Sie verlangt die Freilassung von sechs inhaftierten
politischen Gefangenen: Rolf Pohle, Verena Becker, Rolf Heißler, Gabi
Kröcher-Tiedemann, Horst Mahler, Ingrid Siepmann. Die Gefangenen außer
Horst Mahler, der nicht ausgetauscht werden will, werden freigelassen, Lorenz
wird freigelassen.
13.03.1975: Bundeskanzler Schmidt (SPD) gibt eine Regierungserklärung
ab: Staatsgewalt gegen Staatsverneinung.
11.04.1975: Die Innenministerkonferenz in Bonn beschließt eine weitere
Zentralisierung der Fahndungskompetenzen beim BKA. Zu dem bisherigen Sonderkommando
Sicherungsgruppe Bonn und Staatsschutz erhält das BKA eine Abteilung
T (Terrorismus), die bereits im Juni mit 180 Mann und einem Budget für
1976 von 7 Mio. DM einsatzbereit sein soll.
24.04.1975: Kurz vor Mittag besetzt das "Kommando Holger Meins" der RAF die
Botschaft der BRD in Stockholm und nimmt zwölf Botschaftsangehörige
als Geiseln. Das Kommando fordert die Freilassung von 26 politischen Gefangenen.
Die Polizei stürmt das Gebäude. Ein Angehöriger des Kommandos,
Ulrich Wessel, und zwei Botschaftsangehörige kommen zu Tode. Ein Angehöriger
des Kommandos, Siegfried Hausner, wird durch Gewehrkolbenschläge der
Polizeibeamten schwer verletzt; er erleidet mehrere Schädelbrüche.
Obwohl schwedische Ärzte ihn für transportunfähig erklären,
verfügt die Bundesregierung seinen Transport in die BRD. Dort wird er
nicht in ein Krankenhaus, sondern in die Intensivstation des Stammheimer
Gefängnisses verlegt; er stirbt am 4. Mai an den Folgen der Mißhandlungen.
25.04.1975: Bundeskanzler Schmidt gibt eine Regierungserklärung ab:
im Kampf gegen die RAF sind polizeiliche Methoden unzureichend; verlangt
ist die Bereitschaft, bis an die Grenzen des Rechtsstaates zu gehen; Identifikation
mit dem Staatsschutz wird zur Bürgerpflicht erklärt.
Mai 1975: Das Londoner Institute for the Study of Conflict (Institut für
Konfliktforschung) veröffentlicht eine Studie zur Terrorismusbekämpfung.
Die Studie ist das Ergebnis der Arbeit von vier Studiengruppen zwischen Oktober
1974 und April 1975, deren Schlußfolgerungen während einer internationalen
Konferenz im April 1975 von Experten aus den USA und Westeuropa begutachtet
wurden. In den Studiengruppen arbeiteten Vertreter verschiedener Regierungen,
"Terror-Experten", ehemalige Vietnam- und Malaysia-Offiziere und Wirtschaftsmanager
von Ölkonzernen mit. Das in der Studie entwickelte Konzept bezieht sich
ausdrücklich auf "NATO-Europa" und stimmt mit der Strategie auch der
westdeutschen Guerilla-Bekämpfung überein: Infiltration der Guerilla-Gruppen,
Ausschaltung der Kader, Kriminalisierung des bewaffneten Kampfs, internationale
Aktion.
Mai 1975: Interpol ändert seinen Grundsatz, nicht gegen politische Täter
vorzugehen. Interpol-Generalsekretär Nepote erklärt jetzt die RAF
zu Kriminellen. 15 BRD-Bürger werden auf die Fahndungsliste gesetzt.
09.05.1975: In Köln erschießt Polizei auf einem Parkplatz Philipp
Werner Sauber und verletzt Karl-Heinz Roth schwer. Über dem am Boden
liegenden Werner Sauber schießt ein Polizist sein ganzes Magazin leer.
Karl-Heinz Roth erhält einen Bauchschuß. Ein Polizist wird erschossen.
Karl-Heinz Roth und Roland Otto werden nach mehrjähriger Untersuchungshaft
von der Anklage des versuchten Mordes freigesprochen.
21.05.1975: In Stuttgart beginnt das Stammheim-Verfahren gegen die RAF. Wenige
Wochen vor Prozeßbeginn werden die drei Hauptverteidiger Croissant,
Groenewold und Ströbele aus dem Verfahren ausgeschlossen mit der Begründung,
sie würden den organisatorischen Zusammenhalt einer kriminellen Vereinigung
(RAF) betreiben. Am 23. Juni werden Croissant und Ströbele verhaftet
und zahlreiche Prozeßunterlagen beschlagnahmt.
22.05.1975: In Obernai bei Straßburg treffen sich die Justizminister
der 18 Mitgliedsländer des Europarates. Sie treffen Vereinbarungen über
die Bekämpfung des "internationalen Terrorismus": Erstens werden sie
"Terroristen" kein politisches Asyl mehr gewähren. Zweitens: bei "Terroranschlägen"
wollen sich die Minister künftig telefonisch beraten. Drittens soll
Interpol verstärkt ausgebaut werden. Weiterhin soll eine "Konvention
gegen den Terrorismus" angestrebt werden. In der Folge findet eine Reihe
weiterer Konsultationen mit verschiedenen Ländern statt. Bis Ende 1975
besteht eine "polizeiliche Zusammenarbeit" zwischen dem BKA und den politischen
Polizeien Frankreichs, der Schweiz, Schwedens, Italiens, Dänemarks,
Belgiens, Hollands und Großbritanniens. Unterdessen sind auch noch
Spanien, Tunesien und die Türkei ans westdeutsche "Sicherheitssystem"
angegliedert worden.
06.06.1975: In Westberlin wird Till Meyer (Bewegung 2. Juni) bei seiner Festnahme
angeschossen. Weitere Verhaftungen von Angehörigen der Bewegung 2. Juni
folgen am 9. September: Inge Viett, Ralf Reinders und Juliane Plambeck.
18.06.1975: Andreas Baader verliest vor Gericht eine Erklärung der Stammheimer
Gefangenen betreffend Isolationshaft und Folter. Anlaß ist der Antrag
der Verteidiger auf Anhörung medizinischer Sachverständiger und
- damit zusammenhängend - Einstellungg des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit
der Angeklagten infolge der Isolationshaft. Inhalt der Erklärung, deren
Verlesung durch das Gericht 17mal unterbrochen wird: Folter - kein revolutionärer
Kampfbegriff; Aufklärung über Folter ist letztlich gegen die Gefangenen
gerichtet, wenn sie nicht mit der Propaganda des bewaffneten Kampfes verbunden
wird.
29.06.1975: Katharina Hammerschmidt (RAF) stirbt in einem Krankenhaus in
Westberlin an einem Tumor. Ihr war in U-Haft die rechtzeitige Behandlung
verweigert worden.
13.09.1975: Bombenanschlag im Hamburger Hauptbahnhof. RAF, Bewegung 2. Juni
und Revolutionäre Zellen distanzieren sich.
06.10.1975: Bombenexplosion im Nürnberger Hauptbahnhof. Distanzierung
von RAF, Bewegung 2. Juni und Revolutionären Zellen.
12.11.1975: Im Kölner Hauptbahnhof explodiert eine Bombe. Nach Bremen,
Hamburg und Nürnberg ist das der vierte Counter-Anschlag.
13.01.1976: Die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof
und Jan Raspe verlesen im Prozeß eine ca. 200 Seiten lange "Erklärung
zur Sache". Aus dem Manuskript zu dieser politischen Erklärung werden
zwei Auszüge dokumentiert: a. "BRD/Sozialdemokratie - Dritte Welt" Inhalt:
Offensive der Befreiungskriege; strategische Defensive des Imperialismus;
imperialistische Völkermord-Strategie; neue Formen der internationalen
Arbeitsteilung; imperialistisches Technologiemonopol; imperialistischer Weltmarkt
und Befreiung; westdeutsche Außenpolitik: Wegbereiter der Aggression
der transnationalen Konzerne; Bestechung der abhängigen Bourgeoisien
in der Dritten Welt; Wirtschaftsimperialismus und neokolonialer Eroberungskrieg;
Unterstützung des südafrikanischen Rassistenregimes; Widerspruch
der BRD-Außenpolitik; Verbrechen des BRD-Imperialismus; Metropolen
als strategisches Hinterland des Imperialismus; Funktion der Metropolenguerilla.
Ein weiterer Teil der "Erklärung zur Sache" befaßt sich mit b.
Geschichte der BRD. Inhalt: Gründung der BRD als US-Kolonie; Funktion
der BRD in der US-Counterstrategie; strategisches Zentrum in Westeuropa;
Ausschaltung und Zerschlagung der alten Linken; Kritik der KPD; Rolle der
Sozialdemokratie und des DGB; Restauration des Monopolkapitalismus; Kolonisierung
des Proletariats; Reeducation, Repression und Hunger als Mittel; Ausbau des
Repressionsapparates; Marshallplan; wachsende Abhängigkeit der BRD von
den USA; Übergang zur Expansion auf äußere Märkte; Ausplünderung
der Peripherie - Entwicklung "harmonischer" Klassenbeziehungen im Innern
- Rollback gegen die sozialistischen Staatten; Entwicklungshilfepolitik; Ausweitung
des BRD-Einflusses; Kapitalexportoffensive; Änderung des internationalen
Kräfteverhältnisses; Anpassung der imperialistischen Staatsmaschine;
die Studentenbewegung und ihr Zerfall.
24.04.1976: Das von den gesetzgebenden Körperschaften verabschiedete
14. Strafrechtsänderungsgesetz wird im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.
Es stellt die "verfassungsfeindliche Befürwortung" von Gewalttaten und
die "Anleitung" dazu unter Strafe (u.a. §§ 88a, 130a).
08.05.1976: Ulrike Meinhof wird bei Aufschluß der Zelle tot aufgefunden.
Eine Internationale Untersuchungskommission, die ihren Tod untersucht, kommt
zu dem Ergebnis, dass die Obduktion erstens recht schlampig durchgeführt
wurde und zweitens die Befunde nicht die offizielle Version bestätigen.
Juni 1976: Ernst Albrecht läßt in zweiter Auflage sein Buch "Der
Staat - Idee und Wirklichkeit" herausgeben. Der spätere niedersächsische
Ministerpräsident (CDU) bereitet die Öffentlichkeit auf Situationen
vor, in denen staatliches Töten und Folter sittlich geboten seien.
10.06.1976: Die Innenministerkonferenz beschließt einen Musterentwurf
für ein einheitliches Polizeigesetz, das u.a. den polizeilichen Todesschuß
legalisiert. Der rheinland-pfälzische Innenminister Schwarz beschreibt
die damit verbundenen Absichten deutlich: "Aber es gibt Fälle, in denen
sie (die Handgranaten, d. Red.) angewandt werden müssen, z.B. in einer
vorrevolutionären Situation. Es muß doch die Chance bestehen,
eine bewaffnete Revolution niederzuschlagen ... Die Polizei handelt in konkreten
Situationen so, wie sie es für ihren Fahndungserfolg für richtig
hält. Je unbestimmter das beschrieben ist, desto größer der
Spielraum."
24.06.1976: Das "Anti-Terror-Gesetz" wird im Bundestag von SPD und FDP verabschiedet
(Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafpozeßordnung,
des Gerichtsverfassungs-
gesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes).
Die CDU stimmt dem Gesetz am 29. Juli im Bundesrat zu. Das Gesetzespaket
schafft zahlreiche neue Bestimmungen, insbesondere den Straftatbestand der
"Bildung einer terroristischen Vereinigung" und die Möglichkeit, den
Schriftverkehr zwischen Verteidigern und politischen Gefangenen zu überwachen.
27.06.1976: Ein palästinensisches Kommmando entführt ein Flugzeug
der Air-France nach Entebbe. Das BKA verbreitet, daß sich unter den
Entführern auch Wilfried Böse (Revolutionäre Zellen) befindet.
Das Kommando fordert die Freilassung von 53 politischen Gefangenen aus Israel,
Frankreich, der Schweiz, Kenia und von Mitgliedern der RAF u.a. aus der BRD.
Am 4. Juli überfällt eine israelische Elite-Einheit Entebbe, stürmt
das Flugzeug und tötet alle sieben Personen des Kommandos.
29.06.1976: Auf Bemühen des Bundesinnenministers findet eine Europäische
Konferenz zur Inneren Sicherheit statt. Die Minister verabschieden eine Resolution,
in der sie ihre Beamten beauftragen, Expertengruppen zu bilden, die Lösungsvorschläge
für eine engere Zusammenarbeit für folgende Gebiete ausarbeiten
sollen: Terrorismusbekämpfung; Technik, Ausrüstung und Ausbildung
der Polizei sowie Austausch von Polizeibeamten; Luftsicherung; Sicherheit
von Kernkraftanlagen; Katastrophenschutz. Innenminister Maihofer (FDP) bietet
den anderen Ländern den gesamten Datenbestand des BKA an - diese Informationssammlung
auf diesem Gebiet gilt inzwischen als die beste auf der Welt -, wenn auch
die anderen Staaten ihre Informationen an das BKA weitergeben.
07.07.1976: Vier politische Gefangene, Monika Berberich, Juliane Plambeck,
Gabriele Rollnick und Inge Viett brechen aus der Haftanstalt Lehrter Straße
in Westberlin aus.
18.08.1976: In Bochum, Essen, Hamburg, Heidelberg, Köln, München,
Tübingen und Westberlin werden auf Grundlage der neuen "Maulkorbgesetze"
§88a und §130a Buchläden und Verlage wegen des Verdachts der
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung von Beamten der LKAs und
des BKA durchsucht. Bücher werden beschlagnahmt und in Bochum ein Buchhändler
verhaftet, der erst einige Tage später wieder freigelassen wird.
02.09.1976: In Athen vertagt die höchste Rechtsinstanz Griechenlands
ihre Entscheidung über die Auslieferung von Rolf Pohle an die BRD auf
unbestimmte Zeit, um "weitere Auskünfte" aus der BRD einzuholen. Zuvor
hat Bundeskanzler Schmidt in einem persönlichen Brief Ministerpräsident
Karamanlis "schwerwiegende Konsequenzen" für den Fall einer Nichtauslieferung
angedroht. In Sorge um den EG-Beitritt liefert Griechenland Rolf Pohle trotz
heftiger Protestkundgebungen am 1. Oktober an die BRD aus.
27.01.1977: Das "Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung
des Terrorismus" ("Anti-Terror-Konvention") wird von 17 Staaten unterzeichnet.
Die Staaten vereinbaren eine engere Zusammenarbeit. Die BRD hat ein wichtiges
Ziel erreicht: In Zukunft können Staaten die Auslieferung an die BRD
nicht mehr verweigern.
07.04.1977: Generalbundesanwalt Buback wird von einem RAF-"Kommando Ulrike
Meinhof" erschossen.
29.03.1977: Beginn des vierten Hungerstreiks (bis 30.4.77). Die Gefangenen
fordern u.a.: "Für die Gefangenen aus den antiimperialistischen Widerstandsgruppen,
die in der Bundesrepublik kämpfen, eine Behandlung, die den Mindestgarantien
der Genfer Konvention von 1949 entspricht"; "die Abschaffung der Isolation
und der Gruppenisolation in den Gefängnissen der Bundesrepublik und
die Auflösung der besonderen Isolationstrakte ... was für die politischen
Gefangenen ... bedeuten würde, daß sie nach den Forderungen aller
von den Gerichten in den Prozessen gegen die RAF bestellten Gutachter zu
interaktionsfähigen Gruppen von mindestens 15 Gefangenen zusammengefaßt
werden." Innerhalb weniger Tagen befinden sich zunächst 35, dann ca.
100 Gefangene im Hungerstreik. Mit der Forderung nach Zusammenlegung, die
erstmals im Laufe des dritten Hungerstreiks 1975 aufgestellt und seit 1977
systematisch entwickelt und begründet wird, tragen die Gefangenen den
Erfahrungen mit dem Tode Ulrike Meinhofs Rechnung; sie stützen sich
auf die medizinischen Sachverständigengutachten, die die gesundheitsschädigenden
Auswirkungen der Isolationshaft bestätigt und die "Ermöglichung
größerer sozialer Interaktion" dringend empfohlen haben.
20.04.1977: Bundeskanzler Schmidt gibt eine Regierungserklärung ab.
Schmidts Problem: die staatliche Kriegsführung gegen die RAF zu rechtfertigen
und trotzdem die einzigartige Freiheitlichkeit der BRD zu behaupten.
28.04.1977: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe werden in allen
Anklagepunkten - gemeinschaftliches Begehen von sechs Bombenanschlägen
in Tateinheit mit vier Morden und 34 Mordversuchen, des Begehens von Mordversuchen
in Tateinheit mit der Gründung einer "kriminellen Vereinigung" - für
schuldig befunden und zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Das war
der größte politische Prozeß der Nachkriegsgeschichte in
der BRD, bei dem die verfassungsmäßigen Grundlagen des Strafverfahrens
selbst auf dem Spiel standen, schreibt Pieter Bakker Schut zehn Jahre später
in seinem Buch "Stammheim". Die Staatsorgane hatten die RAF wegen "krimineller
Vereinigung" angeklagt und die ganze Zeit eine politische Prozeßführung
unterdrückt, ihrerseits aber extra ein Gefängnisgebäude für
den Prozeß errichten lassen. Die Rechtsanwälte hatten in dem Verfahren
immer wieder darauf hingewiesen, daß das Verfahren ein "Instrument
innerhalb eines großangelegten Feldzuges psychologischer Kriegsführung
gegen die RAF" (Schily) sei. Kurz vor Beginn des Prozesses wurden drei Hauptverteidiger
ausgeschlossen, so daß Andreas Baader zu Beginn des Verfahrens keinen
Verteidiger hatte. Mehrfach mußten Bundesgesetze geändert werden,
damit das Gericht das Verfahren überhaupt durchführen konnte. Der
Prozeß wurde zum großen Teil ohne die Angeklagten geführt.
Bereits am 26. August 1975 hatten die Vertrauensanwälte die Einstellung
gefordert und auf die Vorverurteilung durch Politiker und Presse hingewiesen.
Das Gericht führte 1976 zwei "Kronzeugen" in das Verfahren ein. Am 20.
Januar wurde dem 85. Antrag auf Befangenheit gegen den Vorsitzenden Richter
Prinzing stattgegeben. Prinzing wurde fallengelassen, weil der Schein des
unabhängigen Gerichts kaputt war und seine Beibehaltung zahlreiche Gründe
für eine Revision des Verfahrens bieten konnte. Am 17. März 1977
wurde bekannt, daß die baden-württembergische Landesregierung
Angeklagte und Verteidiger hat abhören lassen. Daraufhin verlassen die
Vertrauensanwälte den Prozeß. Sogar die Zwangsverteidiger, die
vom Gericht eingesetzt waren, plädierten in ihren Schlußworten
für die Einstellung des Verfahrens.
03.05.1977: Günter Sonnenberg wird bei seiner Festnahme (zusammen mit
Verena Becker) durch Kopfschuß schwer verletzt. Am 22. September wird
Knut Folkerts in Utrecht (Niederlande) festgenommen. Dabei wird ein Polizist
erschossen.
31.05.1977: Zweite Konferenz der zuständigen Minister für innere
Sicherheit der EG-Staaten. Sie kommen überein, ihre "ständige Zusammenarbeit
sowohl im informativen wie im operativen Bereich zu intensivieren und zu
systematisieren". Im Mittelpunkt steht das Thema "Terrorismus". Die Zusammenarbeit
bei der Polizeitechnik, -ausrüstung und -ausbildung soll verbessert
werden. Die Kontrollen des An- und Verkaufs von Schußwaffen sowie des
Waffenhandels sollen verschärft werden. Vorschläge für intensive
Grenzkontrollen sollen erarbeitet werden. Am 21. November 1977 findet die
dritte Ministerkonferenz statt, die sich vorwiegend mit der Drogenbekämpfung
und der Verbesserung der Zusammenarbeit der Polizeibehörden befaßt.
27.06.1977: Die 12. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart verhängt
ein strafrechtliches vorläufiges und teilweises Berufsverbot gegen Rechtsanwalt
Croissant und schaltet ihn damit als Verteidiger in Staatsschutzsachen aus.
06.07.1977: Wolfgang Beer, Werner Hoppe und Helmut Pohl werden nach Stammheim
verlegt und mit fünf weiteren Gefangenen zusammengelegt. In Lübeck
und Westberlin existieren ebenfalls kleine Gruppen. Damit kommen die Staatsorgane
den Forderungen aus dem letzten Hungerstreik nur geringfügig nach. Ende
Juli teilt der neue Generalbundesanwalt Rebmann mit, daß damit den
medizinischen Empfehlungen wegen der Isolationshaft genüge getan sei.
Am 8. August überfällt ein Rollkommando die kleine Gruppe in Stammheim.
Der Überfall ist Vorwand, die Haftbedingungen weiter zu verschärfen.
09.07.1977: Gegen Peter Brückner, Professor für Psychologie, fordert
die "Welt": "Distanzieren Sie sich oder gehen Sie." Gemeint ist die Distanzierung
von der Nachveröffentlichung des sog. "Mescalero-Nachrufs". Im Mescalero-Nachruf
auf Generalbundesanwalt Buback hatte ein "Stadtindianer" in einem "inneren
Monolog", der darlegt, warum "Gewalt" für den Autor des Nachrufs nichts
sei, gleichzeitig ein Gefühl der "klammheimlichen Freude" erwähnt.
Gegen die Kriminalisierung und Illegalisierung einer solchen Veröffentlichung
hatten sich mehrere Hochschullehrer - darunter Peter Brückner - durch
eine Nachveröffentlichung gewandt.
20.07.1977: Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Bernhard Rössner und Lutz
Taufer werden zu jeweils zweimal lebenslänglichen Gefängnisstrafen
im "Stockholm-Prozeß" verurteilt.
30.07.1977: Der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Jürgen Ponto,
wird bei einem mißglückten Entführungsversuch der RAF getötet.
10.08.1977: Auf die Verschärfung der Isolation antworten die politischen
Gefangenen mit einem neuerlichen Hungerstreik, der am 2. September abgebrochen
wird. In der Abbrucherklärung schreiben die Gefangenen: "Im Laufe der
Woche haben wir von einem Mitglied von Amnesty international erfahren, daß
der Vermittlungsversuch, den das Internationale Exekutivkomitee unternommen
hat, um humane, d.h. Haftbedingungen, die den Forderungen der Ärzte
entsprechen, durchsetzen und den Hungerstreik zu beenden, abgebrochen wurde,
weil ,die Situation total verhärtet ist’ und ,in den Behörden von
oben nach unten die Linie durchgesetzt wurde, nach den Anschlägen gegen
den Bundesanwalt und Ponto an den Gefangenen ein Exempel zu statuieren’.
Das entspricht den Ankündigungen Rebmanns. Die Gefangenen haben daraufhin
- um das Mordkalkül nicht zu erleichttern - am 26. Tag ihren Streik unterbrochen.
Sie haben sich dazu entschlossen, nachdem sie damit offen zu Geiseln des
Staatsschutzes erklärt worden sind."
05.09.1977: Entführung des Präsidenten von BDI und BDA (Bundesverband
der Deutschen Industrie und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände)
und Vorstandsmitglieds von Daimler-Benz, Hanns Martin Schleyer, durch das
RAF-"Kommando Siegfried Hausner". Drei Sicherheitsbeamte und der Fahrer Schleyers
werden getötet. Das Kommando fordert die Freilassung von Gefangenen
aus der RAF: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Verena Becker,
Werner Hoppe, Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Bernd Rössner, Ingrid
Schubert, Irmgard Möller und Günter Sonnenberg. Die Bundesregierung
richtet Krisenstäbe ein. Die "Kleine Lage" tagt mehrfach täglich
mit Bundeskanzler Schmidt und seinen engsten Beratern: Bundesinnenminister
Maihofer, Justizminister Vogel, Außenminister Genscher (z.T. vertreten
durch Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff), Staatsminister Wischnewski
und Staatssekretär Schüler, Regierungssprecher Bölling, BKA-Präsident
Herold und Generalbundesanwalt Rebmann. Dem "Großen Krisenstab", der
ein- bis zweimal wöchentlich zusammentritt, gehören neben den Mitgliedern
der "Kleinen Lage" an: Brandt, Kohl, Strauß, Wehner, Mischnik, Zimmermann
und die vier Regierungschefs der Länder, in deren Gewahrsam sich RAF-Häftlinge
befinden: Filbinger, Goppel, Kühn, Klose. Beide Krisenstäbe sind
in der Verfassung nicht vorgesehen. Die Situation komme einem "nationalen
Notstand" gleich, erklärt der baden-württembergische Ministerpräsident
Filbinger. Die "Kleine Lage" tritt an Stelle der Regierung, die Legislative,
das Parlament, wird ausgeschaltet. Ausdrücklich wird beschlossen, in
den "Krisenstäben" keinerlei Protokoll zu führen. - Der "Große
Krisenstab" verhängt eine totale Nachrichtensperre für alle Medien.
Die Inlandspresse hält sich daran, die Auslandspresse kritisiert die
Entscheidung und berichtet über den laufenden Stand der Entführung.
Der "Große Krisenstab" leitet ohne Rücksicht auf Gesetze eine
totale Fahndung ein, die auch nach Auffassung bürgerlicher Kräfte
gegen das Rechtsstaats- und Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt.
So werden z.B. an wichtigen Verkehrsknotenpunkten Datenfunkstationen aufgestellt,
über die alle vorbeifahrenden Kraftfahrer im Alter zwischen ca. 20 und
35 über Interpol abgefragt werden, so erzwingt das BKA Vertragsdurchschläge
von allen in der BRD gekauften PKW, so wird in Köln damit begonnen,
alle Stromabnehmer auf ihre polizeiliche Meldung hin zu überprüfen
u.ä.m.
06.09.1977: Die Justizverwaltungen der Länder, angewiesen von Bundesjustizminister
Vogel (SPD), verhängen gegen alle aufgrund des §129 verfolgten
Gefangenen eine Kontaktsperre, die jeglichen Kontakt untereinander und zur
Außenwelt abschneidet - ausgenommen die staatlichen Behörden,
denen die Gefangenen umso schutzloser ausgeliefert sind. Entscheidungen von
Gerichten, daß die Verteidiger von der Besuchssperre auszunehmen seien,
werden mißachtet. Die Bundesregierung beruft sich bei der Zwangsmaßnahme
der Kontaktsperre, für die es keine Rechtsgrundlage gibt, auf den "übergesetzlichen
Notstand". Währenddessen läßt sich die öffentliche
Meinung aus. Denkausschweifungen sehen vor: Todesstrafe, standrechtliche
Erschießung von Gefangenen, Bundeswehreinsatz u.a.
13.10.1977: Ein Lufthansa-Jet von der palästinensischen Kommandoeinheit
"Martyr Halimeh" im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung gekapert.
An Bord befinden sich Mallorca-Urlauber. Der Kapitän der "Landshut"
wird im weiteren Verlauf erschossen.
18.10.1977: Sturmangriff der GSG9 unter Beteiligung des britischen SAS auf
die Lufthansa-Maschine in Mogadischu, Somalia. Nur ein Mitglied des Kommandos
überlebt den Angriff schwer verletzt.
18.10.1977: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe kommen im Gewahrsam
der Justiz zu Tode. Irmgard Möller überlebt schwer verletzt. Allein
die staatlichen Behörden hatten ungehinderten, unkontrollierten Zugang
zu den Gefangenen im 7. Stock des Stammheimer Traktes. Die staatliche Selbstmordversion
hinterläßt zahlreiche unauflösliche Widersprüche.
19.10.1977: Schleyer wird tot im Kofferraum eines Audi 100 in Mülhausen,
Frankreich, gefunden.
20.10.1977: Justizminister Vogel teilt mit, daß die Kontaktsperre für
die politischen Gefangenen aufgehoben sei. Bei einigen Gefangenen besteht
sie noch einige Tage länger.
20.10.1977: Bundeskanzler Schmidt gibt eine Regierungserklärung ab:
"Mogadischu" als Beispiel für die Bedeutung der Grundwerte des BRD-Staates.
25.10.1977: Staatsakt für Schleyer. Bundespräsident Scheel erklärt
den Krieg der BRD gegen die RAF zum Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.
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Wir dokumentieren an dieser Stelle einen Vorschlag der Militanten Gruppe,
eine Plattform für mehrere militante Gruppen zu bilden, um darüber
einen Organisierungsprozess anzuschieben. Die Dokumentation erfolgt, um aufzuzeigen,
dass auch heute noch Gruppen existieren, die über die Strategie des bewaffneten
Kampfes diskutieren, und bedeutet keine inhaltliche Nähe unsererseits
zu diesem gekürzten Text. Der vollständige Text ist in der ersten
Maiausgabe 2002 der “Interim” zu finden.
Für einen revolutionären
Aufbauprozess
Für eine militante Plattform
Von der Militanten Gruppe
1) Elemente eines Organisierungsprozesses
militanter und bewaffneter Politik
Grundsätzlich stehen wir bei der Erörterung einer gemeinsamen
Organisierung vor dem Problem, dass wir uns sozusagen "virtuell" über
eine geführte Debatte vernetzen müssten. D.h., wir stellen kein
bestehendes strukturelles Netz von militanten Gruppen dar, die über
Delegiertentreffen o.ä. in Kontakt zueinander stehen. Bisher haben wir
völlig unabhängig voneinander und in verschiedenen Regionen agiert.
Diese beiden Varianten einer potenziellen Organisierung haben wir in unserem
Debattenversuch-Papier beschrieben: a) Wir befinden im in einem organisatorischen
Zusammenhang von zwei oder mehr militanten Gruppen, was einen direkten Austausch
unter den AktivistInnen ermöglicht und eine strukturelle gruppenübergreifende
Vernetzung darstellt. b) Unabhängig voneinander agierende militante Gruppen
müssen über gemeinsam geführte Debatten in einer dafür
geeigneten Zeitschrift zu einem Positionsabgleich und einer -annäherung
kommen. Hierbei handelt es sich dann nicht um eine direkte strukturelle Vernetzung,
sondern um ein "informelles" Zusammenkommen durch Diskussion und gegenseitige
Bezugnahme bei Aktionen (vgl. Interim Nr. 539). Für uns trifft die zweite
Variante zu, so denn wir wirklich in ein solches Projekt gezielt und mit allen
daraus erwachsenen Verbindlichkeiten einsteigen wollen.
Die GenossInnen von der Revolutionären Aktion Carlo Giuliani haben
zwei Eckpunkte für eine praktische Organisierung benannt: die autonom
in ihren Städten/Regionen agierenden und verankerten militanten Gruppen
stehen über die Erarbeitung einer gemeinsamen Stoßrichtung und
der praktischen und namentlichen Kontinuität in einer politischen und
ideologischen Beziehung zueinander. Die Koordinierung der inhaltlich-praktischen
Stoßrichtung ist über eine kontinuierliche Diskussion und eine
gegenseitige Bezugnahme zu erreichen. Als Diskussionsgrundlage sehen sie ansatzweise
die Positionen, die von den GenossInnen von Militant Manifesto formuliert
wurden. Grundsätzlich orientieren sie sich an dem RZ-Modell (Aktion,
Vermittlung, Verankerung, Vermassung).
Dieses Modell steht - neben einem Ursprungskern von miteinander vernetzten
Zellen - für eine Organisierung von nicht strukturell verbundenen Gruppen.
Dabei handelt es sich mehr um ein abgestimmtes Aktionsmodell als um eine inhaltlich
ausgereifte Programmatik. Wir wollen an dieser Stelle nicht auf die Debatte
innerhalb des RZ-Zusammenhangs Anfang der neunziger Jahre eingehen, die letztlich
in keiner produktiven (Neu-) Strukturierung, sondern in einem siechenden
Auflösungsprozess endete. Wir teilen im Wesentlichen die Aussagen von
"Für eine sozialrevolutionäre und antiimperialistische Befreiungsperspektive!"
(vgl. Interim Nr. 388), die die Koordinaten des RZ-Modells für ein Grundmuster
für militante und bewaffnete Politik halten, das faktisch keine Erfindung
der RZ ist, sondern den Notwendigkeiten eines komplexen Organisierungsprozesses
entspricht. "Entscheidend ist die Konkretion dieses Grundmusters militanter
Politik: Zu fragen ist nach den Themen und gesellschaftlichen Kämpfen,
die militant aufgegriffen werden sollen, sowie nach den angewendeten Aktionsmethoden,
die eine Aufnahme revolutionärer Politik durch andere anregen und ein
Erreichen anderer Kreise begünstigen. Ob dabei das inhaltliche (Diskussion),
praktische (Aktion) oder organisatorische (Vernetzung) Moment im Vordergrund
steht, ist einerseits Ergebnis der Gesamtsituation der linksradikalen Szene
und andererseits Ergebnis der gruppenindividuellen Schwerpunktsetzung".
D.h., dass die Relevanz revolutionärer Politik davon abhängt,
ob die militanten/bewaffneten Aktionen durch spektrumsinterne und gesamtgesellschaftliche
Debatten vermittelbar sind und Organisierungsimpulse antagonistischer Kräfte
auslösen und die eigene politische Basis verbreitern. Das sind elementare
Aspekte jeder revolutionären Politik und Praxis unabhängig davon,
in welcher gesellschaftlichen Situation wir uns befinden.
Wir müssten uns jetzt über die Schrittfolge des anvisierten Organisierungsprozesses
verständigen. Oftmals kamen diese Vorhaben über eine isolierte Initiative
(siehe das "Clandestino"-Papier, vgl. Interim Nr. 502) zur Debatte nicht
hinaus. Grund hierfür sind die Ungleichzeitigkeiten der einzelnen militanten
Gruppen, die es verhindern, dass es zu einer zeitgleich geführten kollektiven
inhaltlichen Auseinandersetzung kommen konnte. Unser Vorteil ist offensichtlich,
dass es unsere Gruppenum- und -zustände zulassen, eine solche Debatte
real zu führen - die Grundsteine sind mit den jeweiligen Gruppentexten
gelegt.
Wenn das also unser Ausgangspunkt ist, sollten wir einige Essentials unter
uns klären, damit wir tatsächlich jeweils von denselben Bedingungen
eines Organisierungsprozesses ausgehen.
a) Inhalt: inhaltliche Grundlagen und theoretisches Selbstverständnis
Wir gehen - nach dem, was Ihr in Euren Beiträgen formuliert habt -
davon aus, dass wir inhaltlich keine temporäre kampagnenorientierte
Ein-Punkt-Thematik aufgreifen wollen. Auch eine thematische Einengung auf
einen Teilbereichskampf entspricht nicht einem revolutionären Projekt,
das sich gesamtgesellschaftlich orientiert. Für einen umfassenden revolutionären
Organisierungsprozess kann nur ein kontinuierlich themenübergreifendes
Agieren auf der Grundlage eines sozialrevolutionären und antiimperialistischen
Ansatzes infrage kommen. D.h. selbstverständlich nicht, dass wir keine
punktuellen Kampagnen politisch mittragen oder initiieren, sondern dass wir
darin nur eine taktische Komponente sehen und sich unsere Praxis darin nicht
erschöpfen kann, konturenlos von einem thematischen Event zum nächsten
zu springen.
Unter einem sozialrevolutionären Ansatz ist u. E. der metropolitane
Kampf gegen die Triple-Oppression-Widerspruchslinien (Kapitalismus, Rassismus,
Patriarchat) zu verstehen. Sozialrevolutionäre Politik heißt also,
einen organisierten militanten und bewaffneten Kampf gegen die innergesellschaftlichen
Herrschaftsstrukturen zu führen. Unter einem antiimperialistischen Ansatz
verstehen wir eine Solidarisierung mit den trikontinentalen Kämpfen gegen
die weltweiten Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen (politische,
wirtschaftliche, militärische und kulturelle Ebenen des imperialistischen
Verhältnisses zwischen Zentren und Peripherien). Antiimperialistische
Politik heißt demnach, einen internationalistischen Kampf in den imperialistischen
Metropolen und deren Wirtschaftszonen zu führen (BRD/EU, USA/Nafta, Japan/
Asean).
Wir müssen eine materialistische Analyse der herrschenden Gesellschaftsformation
unternehmen, um unsere inhaltlichen Grundlagen und unser theoretisches
Selbstverständnis begrifflich plausibel und vermittelbar zu machen. Einerseits
müssen wir zu Definitionen, den Wechselwirkungen und Grenzen des Erklärungsmusters
der Triple-Oppression-Widerspruchsfelder kommen. Andererseits ist es unerlässlich,
dass wir uns mit den verschiedenen und sich z. T. gegenseitig ausschließenden
Interpretationen des Imperialismus auseinander setzen, deren Grundlagen für
die revolutionäre Linke u.a. von Lenin, Hilferding, Luxemburg oder Mao
gelegt wurden. Mit einer Beschäftigung der "klassischen" Imperialismustheorien
ist es allerdings noch lange nicht getan; die in den siebziger Jahren stattgefundene
dependenztheoretische Debatte (imperialistische Zentren vs. trikontinentale
Peripherien) hat ebenso viel an interessantem Material hinterlassen, wie
die aktuelle "Empire-Diskussion" von Hardt/Negri neue Denkanstöße
liefert.
Diese Dialektik aus einem Sozialrevolutionären und antiimperialistischen
Kampf sehen wir als den Weg an, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen
der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist" (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Unser politisch-militärisches
Endziel liegt in einem Revolutionsprozess, in dem eine klassenlose, ausbeutungs-
und unterdrückungsfreie Gesellschaftsform erkämpft wird - die kommunistische
Weltgesellschaft.
Mittelfristig müssen wir einen gewissen Grad an ideologischen Gleichklang
erreichen, da Organisierungsprozesse mit unterschiedlichen weltanschaulichen
Vorzeichen logischerweise unterschiedliche Formen annehmen. D.h., dass unsere
inhaltlichen, praktischen oder organisatorischen Bezugnahmen auf andere militante
und bewaffnete Gruppen nie "ideologiefrei" sein können, da von diesen
Organisationen auch immer aus einem mehr oder weniger akzentuierten Hintergrund
heraus gehandelt wird. Es geht nicht darum, jegliche ideologische Vielfalt
einzuebnen, sondern ein gemeinsames inhaltlich-theoretisches Selbstverständnis
zu entwickeln, das für alle repräsentativ ist. Für die erste
Phase unserer Zusammenarbeit reicht u. E. die Formulierung eines Plattformpapiers
aus, das einige Prämissen zu militanter und bewaffneter Politik zusammenfasst
und Optionen für eine Konkretisierung der Kooperation enthält (siehe
unten).
b) Praxis: Aktionspalette und Interventionsformen
Unsere militanten Interventionsmittel und Aktionsformen haben wir ebenso
abzustimmen. Dabei müssen wir uns über eine Bandbreite unserer Praxis
verständigen. Nach dem bisher von Euch Formulierten gehen wir davon
aus, dass alle Aktionsformen unterhalb von politischen Exekutionen zu unserem
Arsenal gehören. Danach hätte unsere Aktionspalette eine maximale
Breite, dazu würden sachschadenorientierte militante Praxen (vom wilden
Plakatieren bis zu Brand- und Sprengsätzen), personenschadenorientierte
militante Praxen (direkte körperliche Konfrontation wie Verprügeln
und Kübeln) und symbolische Politpraxen (Kommunikationsguerilla und "diskursive
Dissidenz") gehören.
Diese hier benannte Vielfalt militanter Aktionstypen weist durchaus eine
"formale Hierarchie" auf, die sich schlichtweg daraus ergibt, dass verschiedene
Aktionen unterschiedliche Ressourcen, Erfahrungswerte, technische Fähigkeiten
und nicht zuletzt eine niedrigere oder höhere Repression nach sich ziehen.
Diese faktische Hierarchie der Mittel wird dadurch relativiert, dass wir alle
aufgeführten Aktionsformen als gleichberechtigte Elemente eines militanten
Konzeptes definieren.
Exekutionen von Entscheidungsträgerinnen aus Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft sind sowohl aus logistischer als auch aus repressionstechnischen
Gründen erst während einer längeren intensiven Diskussion unter
uns zu entscheiden. Nicht zuletzt ist die Methode des bewaffneten Kampfes
Ergebnis der strategischen Linie unseres revolutionären Projekts und
der Einschätzung der gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen.
Die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Bewaffnung unserer Struktur ist der
eine Aspekt, die konkrete Aufnahme des bewaffneten Kampfes ein anderer. D.h.,
dass die Schaffung einer logistischen Basis eines potenziellen bewaffneten
Kampfes nicht unmittelbar mit deren Nutzung zusammenfällt. Entscheidend
ist allerdings, dass wir diese logistische Basis als einen integralen Bestandteil
eines komplexen revolutionären Aufbauprozesses betrachten. Bewaffnete
Propaganda und Guerillapolitik sind für sich genommen zunächst auch
nur zwei Stadien einer politisch-militärischen Strategie, die noch keinesfalls
zu einer Revolutionierung der herrschenden Zustände führen. Das
Stellen der sog. Machtfrage gegenüber dem Staatsapparat und seines militärisch
industriellen Komplexes (MIK) bzw. der Prozess der Machtzersetzung sind erst
in der abschließenden Phase der strategischen Linie vorstellbar. In
dieser Phase hat die "irreguläre" bewaffnete Praxis des Guerillakampfes
das quantitative und qualitative Niveau erreicht, um in eine "reguläre"
Kriegsführung einer revolutionären Armee überzugehen. Dieser
visionäre (für nicht wenige vermutlich auch illusionäre) Ausblick
soll nur verdeutlichen, dass eine Debatte um bewaffneten Kampf und deren Propagierung
nichts Fantastisches darstellt, sondern "nur" die ersten Bausteine einer
politisch-militärischen Strategie sind.
Unsere Patronenverschickung an Vertretern der NS-Verbrechen relativierenden
Stiftungsinitiative des BRD-Kapitals, Lambsdorff und den Stadtrat Balzer verfolgte
mehrere propagandistische Ziele. Zum einen soll damit ein Anstoß für
eine Diskussion um die Mittel des bewaffneten Kampfes und eine Auseinandersetzung
um revolutionäre Organisationen innerhalb der radikalen Linken erfolgen.
Diese Intention werden wir in nächster Zeit noch verstärken. Zum
anderen geht es uns um einen Perspektivwechsel bezüglich unserer Angriffsziele,
wir müssen neben anonymen Institutionen die real verantwortlichen Personenkreise
der kapitalistischen und imperialistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen
ins Visier unserer Politik nehmen.
c) Organisierung: gruppenspezifischer und widerstandsebenenübergreifender
Strukturaufbau
Nach einer inhaltlichen und praktischen Kurzbestimmung einer potenziellen
gemeinsamen militanten Politik müssen einige strukturelle Aspekte besprochen
werden. In unserem Debattenversuch haben wir dazu Folgendes geschrieben: "Militante
Gruppen sind in erster Linie . . . der aktionistische Arm von (legalen) Basisprozessen,
quasi ein ,Basis
anhängsel', das den Part der bewussten (strafrechtlichen) Grenzüberschreitung
übernimmt. Militante Strukturen waren zu Zeiten der Stadtguerilla eine
Art von organisatorischem Verbindungsstück zwischen Basis und Guerilla.
In beiden Fällen wären wir als militante Gruppen in weiten Teilen
politisch ,unselbstständig', immer abhängig von oftmals unkalkulierbaren
Basisprozessen oder den programmatischen Veränderungen der Guerilla.
Unserer Ansicht nach muss es darum gehen, als militante Gruppen zu einem eigenständigen
Faktor zu werden, zu einer eigenständigen Widerstandsebene mit einer
definierten politischen Ausrichtung in einem komplexen Organisierungsprozess.
Dieser Organisierungsprozess muss alle Widerstandsebenen (Bewegung, militante
Gruppen, Guerilla, revolutionäre Parteistruktur) beinhalten."
Wenn wir versuchen, militante Gruppen als eine eigenständige Komponente
innerhalb einer widerstandsebenenübergreifenden Struktur zu etablieren,
so kommt uns die Aufgabe zu, nicht nur Teilbereichskämpfe militant zu
"kommentieren", sie zu flankieren, sondern eine inhaltlich-praktisch orientierende
und Themen initiierende Rolle einzunehmen. Wenn wir von militanten Gruppen
als einer eigenständigen Widerstandsebene innerhalb eines inhaltlichen,
praktischen und strukturellen Organisationsgeflecht reden, dann können
diese nicht auf eine "Vorform" der Guerilla reduziert werden. Militante Gruppen
können auch nicht einzig als "Durchlauferhitzer" für künftige
GuerillaaktivistInnen fungieren. Genau dieser lineare Automatismus von der
Aktivität in einer Basisinitiative über militante Zusammenhänge
bis zur Guerilla ist in einem solchen Widerstandskonzept nicht vorgesehen.
Jede Widerstandsebene hat seinen eigenen Charakter und interagiert mit den
anderen Ebenen, um eine schlagkräftige revolutionäre Gesamtorganisation
zu entwickeln.
Dennoch bewegen sich die militanten Gruppen in dem hier vorgestellten Komponenten-Modell
zwischen legalen Basisstrukturen und der aus der Illegalität agierenden
Guerilla. Da dieses Modell lediglich am Reißbrett existiert, würden
auf uns als militante Gruppen Zusatzaufgaben in alle Richtungen zukommen.
Wir wären sowohl dafür verantwortlich, dass mittelfristig die logistischen
und organisatorischen Voraussetzungen für eine bewaffnete Propaganda
einer Guerilla geschaffen werden, als auch dafür, dass innerhalb der
radikalen Linken unsere Positionen vermittelt und dieses Konzept gesamtgesellschaftlich
popularisiert werden. D.h., dass ein Teil unserer Politik als militante Gruppen
in der Stärkung der Basisarbeit liegt.
Die Perspektive dieses Organisierungsprozesses liegt in dem systematischen
Aufbau eines Widerstandsnetzwerks, das allerdings erst in einer langfristig
angelegten Debatte unter uns praktische Gestalt annehmen kann. Wir müssten
uns, wenn die von uns unterbreitete Definition militanter Gruppen und ihre
Funktionen in wesentlichen Zügen von Euch geteilt werden, mit den verschiedenen
Konzeptionen des Aufbaus einer revolutionären Organisation und Aufstandsmodellen
befassen und deren Potenziale und Defizite für kontinentaleuropäische
sozio-ökonomische Verhältnisse untersuchen. Dabei müssen wir
analysieren, ob die in der BRD entwickelten Konzepte (RAF, RZ, AIZ, Bewegung
2. Juni) für ein von uns favorisiertes widerstandsebenenübergreifendes
Konzept inhaltlich, praktisch und organisatorisch unter den aktuellen Bedingungen
tauglich sind oder nicht. Selbst die hier entwickelten Ansätze variieren
stark (sozialrevolutionäre Basisguerilla, antiimperialistische Metropolenguerilla,
Versuche einer Fabrikguerilla). Es ist natürlich durchaus möglich,
Elemente aus verschiedenen Modellen zu ziehen, die in der BRD ihre Umsetzungsversuche
fanden und die für uns in ihrer Neuzusammensetzung eine Perspektive darstellen.
Doch unsere Aufgabe ist noch um einiges umfangreicher, da sich auch die
ehemaligen bewaffneten Gruppen der BRD von Konzeptionen historischer antikolonialer
Befreiungskämpfe (Giaps Volkskriegsstrategie des Vietminh, Maos Guerillakampflehre)
und Strukturen revolutionärer Organisationen bspw. aus Lateinamerika
(Marighelas Stadtguerillakonzept der ALN in Brasilien oder der Tupamaros in
Uruguay) leiten ließen, müssen wir sozusagen den theoretischen
und praktischen Ursprüngen des revolutionären Kampfes folgen. Darüber
hinaus müssen wir uns, um unseren Überblick über die militär-
und guerillatheoretischen Beiträge zu komplettieren, die Schriften der
Klassiker des Kommunismus (bspw. Lenins Aufstandstheorie in "Der Partisanenkrieg"
oder Luxemburgs Milizmodell in "Sozialreform oder Revolution?") aneignen oder
auch anarchistische Theoretiker der "Propaganda der Tat" der russischen Narodniki
oder Johann Most diskutieren.
Was den Aufbau einer revolutionären Organisation angeht, müssen
wir u. E. auch auf Debatten eingehen, die in einigen zeitlichen Abständen
von bewaffneten Gruppen in Westeuropa geführt werden, die sich als revolutionäre
kommunistische Parteien konstituiert haben bzw. sich in diese Richtung formieren
wollen. Auch in der Türkei und Kurdistan ist dieses Modell für Revolutionärinnen
offensichtlich probat. Es wäre fahrlässig, eine Auseinandersetzung
deswegen zu blockieren, weil der Begriff "Partei" körperliche Beschwerden
("Magenschmerzen") auslöst. Es ist hoffentlich einsichtig, dass die
Debatte um revolutionäre Organisationen, die sich die Struktur einer
Partei gegeben haben, nicht nach medizinischen Aspekten zu behandeln ist,
sondern einzig danach, ob dadurch eine Stärkung antagonistischer Kräfte
erfolgt oder nicht. Denn wir reden hier über Organisationen, die z.T.
über eine jahrzehntelange Praxis verfügen, wie die PCE(r)/Grapo
im spanischen Staat oder die BR/PCC in Italien. Auch die Mehrzahl der bewaffneten
Organisationen, die in der Türkei aktuell den längsten Hungerstreik
in der Geschichte der weltweiten revolutionären Linken mit einem enormen
Kampfgeist und mit einer hohen Zahl an gefallenen GenossInnen führen,
haben Parteigründungsprozesse hinter sich.
2) Plattform-Erklärung militanter Gruppenzusammenhänge
Wie weiter oben erwähnt, schlagen wir für unsere erste Etappe
der Kooperation eine Erklärung vor, die keine ausformulierte programmatische
Konzeption ist, sondern einige Prämissen zu militanter und bewaffneter
Politik und deren Organisierung beinhaltet. Zudem ist die Erklärung ausdrücklich
ein Appell, andere militante Zusammenhänge können diesen unterstützen
und sich im Rahmen dieser Prämissen organisieren. Alle, die sich an
diesem Projekt beteiligen wollen, sind für den Auf- und Ausbau desselben
verantwortlich. Diese Erklärung müsste in den nächsten Wochen
von allen, die sich dieser anschließen wollen, ergänzt werden,
so dass wir dann zu einer Beschlussfassung kommen, Maßstab für
eine solche Erklärung ist nicht ihre Länge und Komplexität,
sondern ihre Prägnanz, d.h. gebunden, Grundsätze für die Organisierung
einer revolutionären Praxis auf den Punkt zu bringen. Diese Plattform
bleibt inhaltlich "unterhalb" des Papiers von Militant Manifesto. Dies ist
gewollt, da wir vor einer etwas umfangreicheren Positionierung die politischen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten müssen. Weitergehende
Überlegungen haben wir oben angerissen, damit unsere Ansätze, die
sich in ihrer Substanz nicht wesentlich von Euren zu unterscheiden scheinen,
etwas deutlicher werden.
Für die erste Etappe unserer Organisierung schlagen wir vor, dass die
militanten Gruppen dieser Plattform ihre Erklärungen und Texte unter
ihrem bisherigen Gruppennamen und einem Zusatz, der die Plattform repräsentiert,
veröffentlichen. Über diese Zusatzbezeichnung müssen wir uns
verständigen. Sie sollte den Organisierungsprozess, den wir anstreben,
dokumentieren. Eine Bezeichnung unserer Koordination könnte folgendermaßen
lauten: "Gruppe xyz für eine revolutionäre Perspektive".
In dieser Etappe wären wir einerseits als Gruppen weiterhin individualisierbar,
andererseits stellen wir uns erkennbar in einen koordinatorischen Rahmen,
der im Verlauf der weiteren Organisierung weitergehende Formen annehmen kann.
Für uns sind sowohl unser aktuelles Gruppensignet als auch die von uns
vorgeschlagene Zusatzbezeichnung lediglich Provisorien, die ihre Gültigkeit
jeweils für eine bestimmbare Phase haben. Diese Namensgebungen sind also
reine Arbeitstitel, an denen wir nicht des Prestiges wegen hängen. Wir
können uns perspektivisch sehr gut vorstellen, in unserem Organisierungsprozess
in einer einheitlichen Namensgebung aufzugehen.
Wir haben mit diesem Text versucht, die Organisierungsinitiative der Revolutionären
Aktion Carlo Giuliani aufzugreifen, und hoffen, einen Beitrag für eine
strategische Diskussion geleistet zu haben, wie sie den GenossInnen von AM
vorschwebt. Die "Proklamation" einer militanten Plattform ist für RevolutionärInnen
in der BRD offensichtlich ein Novum. In anderen Ländern sind solche Kooperationsprozesse
eigenständiger Gruppen oder Organisationen eine gängige Praxis.
Für uns ergibt sich die Plattformidee aus Euren Papieren, und sie folgt
der Logik, den sich im Anfangsstadium befindlichen gemeinsamen Diskussions-
und potenziellen Aktionsrahmen zu festigen. Durch seinen offenen Charakter
und der sich daraus ergebenen Teilnahmemöglichkeit anderer klandestiner
Zusammenhänge der revolutionären Linken kann sich dieser Rahmen
sukzessive erweitern. Bedingung für die Organisierung innerhalb der
militanten Plattform wäre dann, die dort formulierten Prämissen
zu akzeptieren und in diesem Sinne politisch zu agieren. Wir bitten Euch
zu diskutieren, ob Ihr zum einen die Plattformidee unterstützt und dann
intensiv tragt, und zum anderen, ob Ihr die von uns formulierten fünf
Prämissen als eine Grundlage für eine gemeinsame militante Initiative
betrachtet.
Militante Plattform
1) Diese Plattform ist in erster Linie ein Diskussions- und Aktionsrahmen
militanter Gruppenstrukturen. Diese Plattform ist des Weiteren praxisunabhängig
für alle revolutionären Gruppen, Organisationen und Bewegungen offen,
die einen sozialrevolutionären und antiimperialistischen Kampf auf kommunistischer
oder anarchistischer Grundlage führen. Sozialrevolutionäre Politik
in den Metropolen richtet sich gegen das Unterdrückungs- und Ausbeutungsgeflecht
aus kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Strukturen. Antiimperialistische
Politik in den Metropolen ist eine explizite internationalistische Solidarität
mit den trikontinentalen Befreiungskämpfen gegen die imperialistische
Umklammerung auf politischer, wirtschaftlicher, militärischer und kultureller
Ebene. Soziale Revolution und Antiimperialismus stellen keine gegensätzlichen
Pole dar, sondern ergeben in ihrer dialektischen Zusammenführung einen
universalistischen, auf die weltweiten Herrschaftsstrukturen gerichteten
Ansatz. Wir müssen im Rahmen unserer Kooperation zu einer gemeinsam
formulierten klassenanalytischen und (anti-)imperialismustheoretischen Handlungsgrundlage
kommen, um das, was wir anzugreifen haben, auch begrifflich fassen zu können
und für andere vermittelbar zu machen. Unser Ziel ist eine klassenlose,
ausbeutungs- und unterdrückungsfreie Gesellschaft.
Für eine sozialrevolutionäre und antiimperialistische
Befreiungsperspektive weltweit!
2) Der herrschenden staatlichen Gewalt haben wir das befreiende revolutionäre
Widerstandsrecht entgegenzusetzen. Wir als RevolutionärInnen haben gewaltförmige
gesellschaftliche Zustände nicht erfunden, sondern vorgefunden. Die Inanspruchnahme
dieses Widerstandsrechts zielt nicht auf die Verewigung dieser gewaltförmigen
Zustände, sie zielt im Gegenteil auf die Beseitigung aller Unterdrückungs-
und Ausbeutungsverhältnisse. Es vollzieht sich aktuell eine massive
innen- und außenpolitische Militarisierung, der sozialdemokratische
Angriff nach innen korrespondiert mit der Kriegsökonomie nach außen.
Den reibungslosen reaktionären Durchmarsch können wir nur durchkreuzen,
wenn wir durch unsere antagonistische Praxis im alltäglichen Leben zu
einem kollektiven revolutionären Subjekt werden. Die Propagierung revolutionärer
Gewalt wird unsererseits nicht idealisiert, sie ist ein Mittel, um eine befreite
und klassenlose Gesellschaftsform konsequent zu erkämpfen. Das staatliche
Gewaltmonopol dient der Herrschaftssicherung und -legitimierung; es wird
von uns durch einen organisierten Klassenkampf von unten unterminiert.
Für das revolutionäre Widerstandsrecht als legitime
Antwort auf die herrschende Ausbeutung und Unterdrückung!
3) Eine militante und bewaffnete Praxis sind integrale Bestandteile eines
revolutionären Konzepts, sie sind eingebettet in einer widerstandsebenenübergreifenden
Struktur. Ein revolutionärer Aufbauprozess hat viele Facetten, die erst
in ihrer Interaktion zu ihrer vollen Wirksamkeit kommen. Dieser angestrebte
Aufbauprozess eines Widerstandsnetzes der revolutionären Linken ist als
ein langfristiges und etappenreiches Projekt angelegt, schnelle und für
alle messbare Erfolge wird es zu Beginn unserer gemeinsamen militanten Praxis
aufgrund unserer organisatorischen Defizite nicht geben können. Erst
die Kontinuität unseres Projekts wird Auskunft über die Richtigkeit
unseres Weges geben. Die Geschichte der revolutionären Linken hat gezeigt,
dass uns nicht nur der herrschende Staatsapparat die Legitimität klandestiner
Praxen abspricht, auch der Reformismus und Legalismus innerhalb der "Linken"
hat sich immer wieder als unser politischer Gegner erwiesen. In einer Klassengesellschaft
auf militante und bewaffnete Kampfformen zu verzichten ist gleichbedeutend
mit der Kapitulation vor den herrschenden Verhältnissen. Keine vorauseilende
Selbstentwaffnung, sondern eine zielgerichtete und verantwortungsvolle Anwendung
von militanten und bewaffneten Aktionsformen ist unser Grundsatz.
Für die Anerkennung einer militanten und bewaffneten Praxis
als Teil eines revolutionären Konzepts!
4) Als revolutionäre AktivistInnen agieren wir nicht im luftleeren
politischen Raum. Wir befinden uns in einer langen Geschichts- und Kontinuitätslinie
von permanenten Klassen-, Frauen- und MigrantInnenkämpfen, emanzipatorischen
Volksaufständen sowie weltweiten Revolutionsprozessen. All diese Kämpfe
haben uns einen Reichtum an theoretischen Analysen, praktischen Erfahrungen,
organisatorischen Konzepten, politischen Erfolgen und lehrreichen Niederlagen
hinterlassen. Vor diesem Hintergrund und auf der Basis dieser unserer wechselvollen
und mit Brüchen versehenen Geschichte mobilisieren wir für unsere
heutigen und zukünftigen Anläufe einer revolutionären Umwälzung.
Die revolutionären Organisationen und Bewegungen in allen Winkeln der
Welt haben ein politisches und ideologisches Fundament gelegt, auf dem wir
aufbauen müssen, um in einer kritischen Auseinandersetzung direkte Anknüpfungspunkte
und Verbindungslinien zu ihnen herstellen zu können. Dieser von uns reflektiert
fortgesetzte Kampfprozess wird in seinen Phasen auf unterschiedliche staatliche
Repressionsmaßnahmen stoßen, politische Gefangenschaft, (Isolations-)Folter
und der Mord an GenossInnen sind Teil der Counterinsurgency-Politik. Wir
sehen es als unsere Verpflichtung an, die Vision unserer getöteten GenossInnen
von einem kollektiven und egalitären Leben zu unserer zu machen und
ihnen in unseren Kämpfen immer einen Platz zu geben.
Für ein revolutionäres Geschichtsbewußtsein und
die Integration in eine widerständige Kontinuitätslinie!
5) Diese Plattformerklärung ist die erste Etappe eines angestrebten
Organisierungsprozesses militanter und potenziell bewaffneter Gruppen. Unser
Ziel ist es, dass militante Gruppen zu einem eigenständigen Faktor innerhalb
eines widerstandsebenenübergreifenden Netzwerkes der revolutionären
Linken werden. Darüber hinaus kommt diesen Gruppen eine dreifache Aufgabe
zu: Die linke Basispolitik ist unsererseits zu unterstützen, indem wir
u.a. mit Beiträgen in aktuelle Mobilisierungen eingreifen und vermitteln,
dass das Netzwerk nur über den Weg der gegenseitigen Bezugnahme Gestalt
annehmen kann. Wir müssen uns Kommunikations- und Aktionsformen aneignen,
die uns einen Zugang zu gesellschaftlichen Sektoren ermöglichen, die
aufgrund ihrer klassistischen, rassistischen und patriarchalen Unterdrückungssituation
marginalisiert werden und weitgehend ignoriert von uns tagtäglich opponieren.
Eine weitere zentrale Aufgabe für uns ist es, die logistischen Voraussetzungen
für die bewaffnete Propaganda einer Guerilla in den imperialistischen
Zentren zu schaffen und eine politisch-historische Auseinandersetzung um die
Methode des bewaffneten Kampfes zu beginnen.
Mit dieser Erklärung ist ein erster Diskussions- und Aktionsrahmen
geschaffen, der von den beteiligten Gruppen und allen, die sich unter diesem
Dach organisieren wollen, für ihre Politik genutzt und weiterentwickelt
werden kann. Diese Erklärung liefert den Grundstock für die Ausarbeitung
einer späteren programmatischen Konzeption. Dieses von den Plattform-Gruppen
initiierte Projekt kann nur an Stärke und Breite gewinnen, wenn es aktiv
von der radikalen Linken unterstützt wird sowie eine Ausstrahlungskraft
in marginalisierte gesellschaftliche Kreise besitzt. Diese Plattform dient
nicht für irgendwelche Projektionen, wir begreifen uns nicht als der
aktionistische Arm der radikalen Linken. Unsere Intention ist ein komplexer
organisatorischer Aufbauprozess von revolutionärem Widerstand, dessen
Fortschritte von allen abhängen, die sich diesem Projekt verbunden fühlen.
Für den Aufbau einer militanten Plattform!
Kurzer Nachtrag zur militanten Aktion gegen das Sozialamt Berlin-Reinickendorf
und den Sozialstadtrat Frank Balzer
Unsere Aktion vom 5. Februar 2002, die exemplarisch eine lokale Institution
und deren Protagonisten des Sozialamtsterrors herausgriff, hat eine breite
mediale Beachtung gefunden. Paradox dabei ist, dass die materielle Wirksamkeit
der Aktion in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Medienpräsenz
steht. Diese Medienpräsenz lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen:
Diese Aktion stand in einer praktischen und organisatorischen Kontinuität,
sie war auf eine Person in seiner Funktion als Sozialstadtrat zentriert, sie
griff eine vorangegangene Aktion gegen Balzer auf, sie war und ist Teil einer
gesamtgesellschaftlichen Debatte, und wir haben durch eine umfassende Pressearbeit
die häufig anzutreffende Medienignoranz durchbrechen können.
Zwei Aspekte wollen wir kurz gesondert erwähnen: a) Praktisches Ziel
der Aktion war der Fachbereich des Sozialamtes, der explizit für die
sozialtechnokratische Repression gegen die sozial Deklassierten steht (hier
werden u.a. Strafanzeigen wegen "Sozialmissbrauch" gefertigt). Leider konnte
dieses Vorhaben aufgrund falscher Einschätzung der Beschaffenheit der
elastischen Plastikfenster nicht wie geplant umgesetzt werden. Mit dem unzulänglichen
Werkzeug war es uns nicht möglich, Zugang zu den Kellerräumen zu
erhalten und den scharfen Brandsatz zu platzieren. Da in den Räumen des
Bezirksamtes mindestens zwei Wachleute anwesend waren, wollten wir eine weitere
längere Geräuschkulisse nicht riskieren. Deshalb wurde der Brandsatz
am Eingang des besagten Fachbereichs abgelegt, wo er keinen größeren
Sachschaden anrichtete. b) In mehreren Presseveröffentlichungen wird
uns auch die militante Aktion gegen Balzer vom Januar 2000 zugeschrieben,
auf die wir uns allerdings nur inhaltlich und praktisch bezogen haben. Wir
haben also nur an ein Themenfeld angedockt, dessen Brisanz bereits zwei Jahre
vor uns von GenossInnen erkannt wurde.
Die gegenseitige Bezugnahme und das Aufgreifen von Aktionen und Inhalten
anderer gehört für uns zu einer wesentlichen Säule, um zukünftig
koordinierte und gruppenübergreifende militante Initiativen zu starten.
Uns ist klar, dass von Staatsschutzseite versucht wird, verschiedene über
Jahre auseinander liegende militante Aktionen auf das Konto einer Gruppe zu
addieren. Doch der Sinn unserer militanten Kontinuität ist, dass wir
uns nur zu jenen Aktionen bekennen, für deren Vorbereitung und Durchführung
wir auch tatsächlich verantwortlich sind.
Kämpferische und solidarische Grüße an unsere Genossinnen
von AM und der Revolutionären Aktion Carlo Giuliani.
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