Dieser Text wurde Ende November auf einer Demonstration zur italienischen
Botschaft in Berlin anlässlich der Verhaftungen in Italien verteilt.
In den unendlichen Weiten des Internets ist er ebenfalls zu finden. Gerade
auf Indymedia jedoch sind wenige bereit, sich mit den Kritiken dieses Textes
auseinander zu setzen - ein Grund mehr, dass wir ihn an dieser Stelle veröffentlichen
Alle gemeinsam oder Freiheit für
alle?
Von den Compagni/e di Berlino per l'Autonomia
di Classe
Am 15. November sind in Italien 13 Personen
festgenommen und in Hochsicherheitsgefängnisse überführt worden;
über sechs weitere wurde Hausarrest verhängt, und gegen weitere
20 wird zunächst ohne Haftbefehl ermittelt. Die Anklage beruft sich
auf den berühmten Artikel 270/bis, der sich gegen "Propaganda zum Zweck
der Subversion der demokratischen Ordnung" richtet. Die Methode des "teorema
giudiziario", des gerichtlichen Konstrukts, verweist auf die typischen Methoden
der repressiven Tradition des italienischen Staates, in Gebrauch seit der
faschistischen Diktatur und - in perfekter Kontinuität - konsequenterweise
von der demokratischen Republik immer und besonders in den sechziger und
siebziger Jahren weiterverwendet, um die revolutionäre Bewegung zu isolieren
und einzudämmen, und um den Klassenkonflikt zu befrieden.
Die Meldung über die Festnahmen geht schnell um die halbe Welt: Organisationen
von Globalisierungsgegnern, pazifistische Gruppen, politisierende und sich
solidarisierende Bürger organisieren prompt friedliche Protestinitiativen,
wettern gegen das "Berlusconi-Regime" und schimpfen auf die "zu undemokratische
Demokratie". All diese Proteste sind Teil einer schalen, selbstbemitleidenden
Kampagne, die auf Unschuld pocht, die die Festnahmen als schweren Angriff
des bösartigen Berlusconi (als rechter, philoamerikanischer, korrupter
und antidemokratischer Spekulant Personifikation alles Bösen) gegen
die Massen von Bürgern, die kurz zuvor im Rahmen des European Social
Forum in Florenz "alle gemeinsam" (aber ohne die "Provokateure") für
einen "menschlichen" Kapitalismus demonstriert hatten. Ohne erhört zu
werden, was für eine Frechheit! Die anständige Menge rebelliert,
und es gelingt ihnen - durch die Unterstützung der sozialdemokratischen
Parteien, pazifistischer Gruppen, der Medien und den Intellektuellen des
Dritten Weges - ihre Empörung weiterzuverbreiten und ihre Solidaritätsinitiativen
zu vermehren.
Alles normal, wenn sich diesmal unter den Protestchor nicht auch die Stimmen
der "Bösen" mischen würden - derer, die sich nie zufrieden geben,
der "Provokateure", denen schon eine Stunde nach dem Tod Carlo Giulianis
vorgeworfen wurde, "die Reaktion der Ordnungskräfte provoziert zu haben"?
Oder besser gesagt, am Tod Carlo Giulianis schuldig oder zumindest mitverantwortlich
zu sein (V. Agnoletto, Sprecher des Genoa Social Forum auf der Pressekonferenz
am 20. Juli 2001).
Diese seltsame Einmischung Fremder bleibt für die empörte Zivilgesellschaft
ein Rätsel. Für einen auch nur ein bisschen aufmerksameren Betrachter
dagegen muss es vollkommen normal erscheinen, dass zu dem in letzter Sekunde
eingestimmten Chor des zivilen Ungehorsams gegen die Repression die Stimmen
Tausender Menschen kommen, die schon lange täglich gegen den unausweichlich
repressiven und totalitären Charakter der bürgerlichen Demokratie
kämpfen (und es oft genug teuer bezahlen müssen) - gegen die bürgerliche
Demokratie, der es in zwei Jahrhunderten der Herrschaft nie gelungen ist,
ihre immanenten Widersprüche so zu befrieden, dass sie sich die Konstruktion
und die Überfüllung der Gefängnisse hätte sparen können.
Tausende von so genannten Disobbidienti mobilisieren gemeinsam mit der parlamentarischen
Opposition gegen den "faschistischen" Berlusconi, den viele nicht mehr an
der Regierung haben wollen. Da sie peinlich genau darauf achten, sich von
einem autonomen, von dem der Parteiblöcke unterschiedenen Dissens fernzuhalten,
werden diese Proteste nichts anderes als die Rammböcke, derer sich die
Linksparteien bedienen, um die Regierung zu übernehmen. Wie viel solche
Proteste mit revolutionären Momenten zu tun haben, die eine Gesellschaft
ohne Gefängnisse fordern, zeigt sich von selbst.
Die Repression in Italien: nichts Neues
Während Disobbedienti, Gewerkschaften, Attac und Co wegen der Festnahme
Unschuldiger schreien, rührt keiner von ihnen einen Finger oder nutzt
seine beleuchteten Medienbühnen, um von den gerichtlichen Konstrukten
und repressiven Verfahren zu sprechen, die um einiges schwerwiegender sind
und die seit einigen Jahren die revolutionäre Linke materiell erheblich
dezimieren. Die "No global" bemerken jetzt plötzlich, dass der Staat
auch unterdrücken kann - und nicht nur Finanzierungshilfen verschenkt,
Veranstaltungsorte für Foren und ähnliches bereitstellt und Beschlüsse
zur Legalisierung der Centri Sociali gewährt. Vielleicht, weil die oben
genannten Verfahren Kinder der Mitte-links-Regierung sind, oder vielleicht,
weil sie in der Logik der Denunziation der "Bösen" gefangen sind - mit
der versucht wird, die Verantwortung für die Befriedung der "Bewegung"
zu übernehmen, die der Staat an die "Guten" übergibt -, haben all
diese Organisationen bisher und immer noch zu all diesen Episoden geschwiegen.
5. November: Eröffnung der zweiten Instanz des Marini-Prozesses, der
Hunderte von Linksradikalen betrifft, gegen die seit 1996 wegen der angeblichen
Bildung einer internationalen, anarchistisch-insurrektionalistischen Organisation,
wegen "Propaganda zum Zweck der Subversion", wegen "direkter Aktionen mit
zersetzender Zielsetzung" ermittelt wird. In der ersten Instanz war einer
der Angeklagten zu lebenslanger Haft und 18 Monaten Isolationshaft verurteilt
worden, drei andere zu Haftstrafen zwischen 15 und zehn Jahren und neun zu
Haftstrafen zwischen einem und sechs Jahren.
Anfang November: Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl wegen angeblicher
Hinweise auf offensichtlich nicht existente Sprengstoffvorräte bei mehreren
Linksradikalen in Rom, Turin, Mailand und Pescara.
23. November: Abschluss der letzten Instanz des Prozesses gegen drei Anarchisten
wegen Anschlägen auf den Hochgeschwindigkeitszug im Val di Susa und
der Bildung einer subversiven Organisation. In dem Prozess ,der seit 1998
lief, wurde der einzig übrig gebliebene Angeklagte zunächst zu
sechs Jahren Haft verurteilt, um das gerichtliche Konstrukt nicht in sich
zusammenstürzen zu lassen, nachdem zwei der Angeklagten im Turiner Gefängnis
in den Selbstmord getrieben worden waren. Nach drei Jahren und zehn Monaten
im Gefängnis wurde in letzter Instanz der Vorwurf der subversiven Organisation
gegen ihn fallengelassen und die Strafe auf zufällig genau drei Jahre
und zehn Monate festgelegt.
Noch im Gang: Prozess der Via degli Angeli gegen mehrere Genossen aus Rom,
denen die Bildung einer bewaffneten Gruppe und Freiheitsberaubung vorgeworfen
wird, weil sie aus Protest gegen die Räumung eines besetzten Hauses
ein Bezirksamt besetzt hatten. Die Anzeige ging vom der Sozialdemokratischen
Partei angehörigen Bezirkspräsidenten aus, der trotzdem kurz danach
zu einer Veranstaltung des bekannten römischen Centro Sociale "Snia
Viscosa" geladen wurde.
Juli 2001: Drei Linksradikale werden festgenommen und verschiedener Attentate
gegen die Sitze der Sozialdemokratischen Partei beschuldigt. Nach einem Jahr
U-Haft werden sie wegen mangelnder Beweise freigelassen, so wie viele Mitglieder
der Iniziativa Comunista, die im Rahmen der Ermittlungen im Mordfall D'Antona
verhaftet worden waren.
Das Schweigen der "No Global" gegenüber diesen schwerwiegenden Repressionsmanövern
ist, wenn auch auf menschlicher Ebene, kaum nachvollziehbar, auf politischer
nicht erstaunlich. Denn der Versuch des italienischen Staates, die revolutionäre
Linke zu treffen, indem er sie isoliert und so immer mehr schwächt,
wird von breiten Teilen der "Bewegung" gestützt, in der Hoffnung, durch
die Abgrenzung von den "Bösen" Sichtbarkeit, politisches Gewicht und
Hegemonie zu gewinnen und so Finanzierungsmittel und Anerkennung von Seiten
der Institutionen zu erhalten. Preis all dessen ist die Verpflichtung, die
Befriedung garantieren und eventuelle Radikalisierungen der Bewegung eindämmen
zu müssen. Viele Male schon haben die Disobbedienti (ehemals Tute Bianche)
offen und schamlos diese Rolle einer Feuerwehr in den Kämpfen übernommen.
Das eklatanteste Beispiel dafür (außer Genua) spielte sich im
Jahr 2000, dem "heiligen Jahr" der Katholiken, ab, als die Tute Bianche in
Rom die Autorisation für eine Street Parade erhielten, trotz Spezialerlassen,
die Streiks und Demos in den Pilgerstädten verbaten. Im Austausch für
die Autorisation wurde ein softer Ablauf der Demo garantiert. Nachdem Gruppen
von DemoteilnehmerInnen spontan versucht hatten, die ursprünglich geplante,
aber verbotene Demoroute durchzusetzen, endete die Demo in Riots. Die Sprecher
bekannter Centri Sociali zögerten nicht, in Interviews mit der Presse
ihre Bereitschaft zu erklären, die vorhandenen Videos durchzusehen und
die Verantwortlichen für die Ausschreitungen zu individualisieren. Die
Angelegenheit endete mit einer Strafexpedition von etwa 50 bekannten Mitgliedern
der Centri Sociali gegen eine kleine Gruppe von Linksradikalen, die dafür
verantwortlich gehalten wurde, ein Plenum organisiert zu haben, von dem ein
Flugblatt ausging, das diese Praktiken der "internen" Repression kritisierte.
Nachdem das European Social Forum in Florenz ohne die befürchteten Ausschreitungen
abgelaufen war und die in Angst und Schrecken versetzenden Infiltrationen
des alles kaputt machenden Black Bloc ausgeblieben waren, konnte der italienische
Staat in Form seiner übelsten Repressionsapparate (Spezialeinheiten
der Polizei wie den ROS) nichts anderes machen als sein Spielchen der Suche
nach den "Bösen", die sich unter den "Guten" verstecken, weiterzuspielen.
Da der phantomartige Black Bloc nicht anwesend war, traf das Richterbeil
im Innern der pazifistischen Bewegung selbst. Ganz wie in dem berühmten
Gedicht (von Martin Niemöller, d. Red.), in dem, wer zur Repression
der anderen geschwiegen hat, weil er sich nicht betroffen fühlte, später
gezwungen ist, gegenüber der eigenen Repression zu schreien.
Rechtsstaat und Polizeistaat oder einfach bürgerlicher Staat?
Auch wenn ein Abtriften von Regierungen ins Autoritäre von antagonistischen
Gruppen sicherlich genau betrachtet und reflektiert werden muss, ist es dennoch
falsch, gegen das "Berlusconi-Regime" zu wettern und sein Heil in der Rettung
des Rechtsstaates zu suchen. Die Existenz eines Straftatbestandes, der sich
gegen "die Propaganda zum Zweck der Abschaffung einer sozialen Klasse und
den gewaltsamen Umsturz der verfassungsgemäßen sozialen und ökonomischen
Ordnung im Staat" richtet, ein Gesetz, das im Faschismus geschaffen und von
der demokratischen Republik konserviert und in den siebziger Jahren in die
Notstandsgesetzgebung integriert wurde, zeigt, wie der bürgerliche Staat
die Grenzen seiner Rechtsgarantien und diejenigen, die in jedem Fall außerhalb
dieser Grenzen bleiben müssen, genau kennt.
Wenn es sich nicht um politische Straftaten oder Meinungsverbrechen handelt,
richtet sich die kapitalistische Repression täglich in Tausend anderen
Formen gegen die Ausgebeuteten. 57 000 Häftlinge in Italien (von denen
15 000 drogenabhängig und 16 000 ohne italienischen Pass sind), zusammengepfercht
in Gefängnissen, die für
maximal 40 000 Häftlinge ausgebaut sind, drei Tote täglich aufgrund
von Arbeitsunfällen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit
und Elend - diese Verhältnisse töten überall immer mehr Menschen,
in dem sie sie aus dem Teufelskreis von Produziere-konsumiere-Stirb einfach
ausschließen.
Das System, das die revolutionäre Opposition verfolgt, das Migranten
tötet und wegschließt, nachdem es sie als billige Arbeitskräfte
gerufen hat, das die Demontierung der Fiat-Werke fortführt und damit
gewaltsam Tausende von Arbeitern in prekäre Arbeitsverhältnisse
und Flexibilität treibt, das System, das täglich in den Gefängnissen
tötet und die Marginalisierten zu Diebstahl und Raubüberfällen
zwingt, das die menschlichen Beziehungen warenförmig macht und dadurch
zerstört, dieses System heißt weder Polizeistaat noch Neoliberalismus:
Dieses System heißt Kapitalismus.
Wir verschwenden nicht unsere Zeit damit, der Welt zu erklären, dass
wir unschuldig seien, weil wir keine subversive Propaganda machen würden:
Viel eher erklären wir, dass "wir alle subversiv sind und zwar notwendigerweise,
gegen eure absurde Rationalität" (Oreste Scalzone, 15. November gegenüber
der Presse).
Wir fordern nicht die Abschaffung von Gesetzen, die vom Faschismus geerbt
sind in der Illusion, dass so der Status quo verbessert würde.
Wir bitten nicht den Staat, seinen autoritären Charakter abzulegen und
die Regeln seines Rechts zu befolgen, das sich in seinen Händen schon
immer "Gewaltmonopol" nennt.
Wir wollen nicht die Abschaffung der Notstandsgesetze des kapitalistischen
Staates: Wir wollen die Abschaffung des alltäglichen Notstandes, in
dem unser Leben gefangen ist. Wir wollen alles, wir wollen die Abschaffung
der kapitalistischen Totalität.
Die Solidarität ist nur dann eine Waffe, wenn sie in alltägliche
Kämpfe gegen das umgesetzt wird, was die Repression erzeugt.
Freiheit für alle revolutionären Gefangenen!
Freiheit für alle!
Der einzige Knast, der uns gefällt, ist der, der dem Boden gleichgemacht
ist!
Für den Kommunismus!