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Osmanisches Reich, türkisches
Reich (1291-1922), das sich auf dem Höhepunkt seiner Macht über drei Kontinente
erstreckte, von Ungarn im Norden bis nach Aden im Süden und von Algerien im Westen bis
zur iranischen Grenze im Osten. Den Mittelpunkt bildete das Gebiet der heutigen Türkei.
Mit dem Vasallenstaat Krim dehnte sich das Osmanische Reich bis zur Ukraine nach
Südrussland aus. Begründer des Reiches und der Herrscherdynastie ist Osman I. Ghasi.
Expansion des Osmanischen Reiches
Der erste osmanische Staat ging als
Sultanat aus einem der vielen unbedeutenden Nachfolgestaaten des ehemaligen Reiches der
Rum-Seldschuken in Kleinasien hervor. Die geographische Lage ermöglichte es dem Gründer
der osmanischen Dynastie, die Schwäche des Byzantinischen Reiches auszunutzen und reiche
Beute bei Überfällen auf christliches Gebiet zu machen. Dieser Umstand führte dazu,
dass Tausende turkmenischer Nomadenkrieger sowie viele vor den Mongolen flüchtende Araber
und Perser in seine Dienste traten. Der Aufstieg des vom Islam geprägten Osmanischen
Reiches ist eng verbunden mit der Anziehungskraft die dieser Staat auf die Ghasis,
die Kämpfer des Heiligen Krieges (Jihad), ausübte, die sich den Osmanen anschlossen,
weil diese die führende Rolle im Kampf gegen das christliche Byzantinische Reich im
Westen übernahmen. Osmans Eroberungen wurden durch seinen Sohn Orhan fortgesetzt, der
1326 die Provinzhauptstadt Bursa einnahm und es zur neuen Hauptstadt machte. Traditionell
war es die Politik der Osmanen, das Reich mit militärischer Gewalt nur auf das Gebiet
christlicher Staaten im Westen auszudehnen, jedoch nicht mit Gewalt gegen die
turkmenischen Fürstentümer vorzugehen. Der friedliche Erwerb von in turkmenischem Besitz
befindlichen Landes durch Kauf, Heirat oder Stiftung von Unfrieden unter den herrschenden
Dynastien wurde dagegen als Mittel zur Expansion des Reiches akzeptiert. Auf diese Weise
konnten die Osmanen große Gebiete im Westen Anatoliens ihrem Reich angliedern.
1354 eroberten sie Ankara im Zentrum
Anatoliens. Im selben Jahr besetzten die Osmanen Gallipoli (Gelibolu) auf der
europäischen Seite der Dardanellen, welches den Ausgangspunkt für ihren anschließenden
Vorstoß nach Südosteuropa bildete. 1361 nahmen sie Adrianopel (Edirne) ein, das zur
neuen Hauptstadt wurde. 1389 besiegte Murad I. die Serben in der Schlacht auf dem Amselfeld, die Osmanen
nahmen Thrakien, Makedonien und einen großen Teil von Bulgarien und Serbien ein.
Die Niederlage gegen den Mongolenfürsten
Timur-i Läng (1402) erwies sich nur als vorübergehender Rückschlag für die Osmanen,
die ihr Reich umgehend wieder aufbauten, festigten und ausdehnten. 1453 eroberte Sultan
Muhammad II. Konstantinopel (Istanbul) und machte es zur dritten Hauptstadt des
Osmanischen Reiches. Die Welle der Eroberungen setzte sich während des ganzen 16. Jahrhunderts fort. Unter
Sultan Selim I. (dem Strengen) wurden die Safawiden aus dem Iran besiegt (1514), das Reich
wurde zudem um Ostanatolien erweitert. 1516 und 1517 wurden die Mamelucken in Syrien und
Ägypten geschlagen und ihre Gebiete annektiert. Neben den Besitztümern der Mamelucken
eigneten sich die Osmanen auch die heiligen Stätten in Arabien an. Die Mamelucken mussten
ihren Anspruch auf das Rote Meer und den Indischen Ozean abtreten. Selims Sohn und
Nachfolger Süleiman II., der Große, (auch der Prächtige) wird als der mächtigste
aller osmanischen Herrscher angesehen. Während seiner Herrschaft wurde der Irak (1534)
dem Reich eingegliedert, und die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum wurde
gefestigt. Durch die Annektion von Algier und Überfälle von Piraten der osmanischen
Barbareskenstaaten drangen die Osmanen bis in den westlichen Mittelmeerraum vor. Süleiman
führte osmanische Truppen weit nach Europa hinein: Belgrad wurde 1521 erobert, die Ungarn
in der Schlacht bei Mohács (1526) geschlagen. 1529 blieb die Belagerung Wiens durch
Süleiman erfolglos.
Staats- und Gesellschaftsstruktur
des Osmanischen Reiches
Mit den Eroberungen von Süleiman II., dem Prächtigen,
erreichte das Osmanische Reich seinen Höhepunkt. Er ließ die Regelung des Sozialwesens,
der Verwaltung und der Regierung, die sich seit dem 14. Jahrhundert immer weiter entwickelt hatten, kodifizieren und
schuf so die Grundlage für das bis zum Ende des Reiches geltende osmanische Recht. Aus
diesen Gesetzessammlungen geht hervor, dass die Gesellschaft in eine führende osmanische
Oberschicht und in eine Klasse von Untertanen (Rajahs), die behütete
Herde" des Sultans, gegliedert war.
Das grundlegende Recht des Herrschers
bestand darin, über die Reichtümer des Landes zu bestimmen. Der Sultan verteilte sie auf
administrative und wirtschaftliche Einheiten und übertrug deren Verwaltung seinen
Vertretern, die ebenfalls das Recht zum Einzug der anfallenden Steuern hatten. Diese
Beamten wurden als Sklaven" des Sultans betrachtet; da jedoch Sklaven in der
Gesellschaft Vorderasiens den sozialen Status ihrer Herren erwarben, stiegen sie zur
eigentlichen Herrscherschicht in der osmanischen Gesellschaft auf. Ihre Macht war begrenzt
auf Funktionen, die mit der Verwaltung der Reichtümer des Reiches sowie mit der
Ausweitung und Verteidigung der sozialen Stellung, die dies ermöglichte, zu tun hatten.
Um diese Funktionen wahrnehmen zu können,
wurde die Oberschicht in vier grundlegende Institutionen" oder Fraktionen
unterteilt: Die imperiale Fraktion, verantwortlich für den so genannten Innen- oder
Palastdienst, kümmerte sich um den Haushalt des Sultans, während der
Außendienst", die Ministerien, die einem Großwesir als regierendem
Stellvertreter des Sultans unterstanden, die Staatsgeschäfte leitete.
Die wichtigste Institution des osmanischen
Staates war die Armee. Die ersten Truppen der Osmanen bestanden aus der türkischen
Kavallerie (spahis). Je mehr Land erobert wurde, desto umfangreicher war der Sold,
den die türkisch-muslimischen Glaubenskrieger bekamen. Die leicht bewaffneten Reiter
reichten jedoch für eine effektive Kriegsführung nicht aus. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts begannen
die Osmanen, Söldnertruppen (aus z. B. Sklaven und Kriegsgefangenen) zu rekrutieren. Ab dem 15. Jahrhundert wurden
christliche Jugendliche (devshirme) aus dem Balkan eingezogen. Aus diesen Truppen (Kapikulli)
gingen die Janitscharen hervor. Diese trugen wesentlich zu den militärischen Erfolgen der
Osmanen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts bei.
Der osmanische Verwaltungsapparat war auf
die Bedürfnisse der Truppen zugeschnitten. Die Provinzen bestanden aus Militärbezirken.
Hauptaufgabe der Beamten war es, die Timariots (zum Kriegsdienst Verpflichtete)
für die Feldzüge einzuberufen. Ein Aufgabenschwerpunkt der Zentralverwaltung lag darin,
für die finanziellen Mittel und die Verpflegung der Kapikulli zu sorgen. Straßen
und Brücken wurden für die Truppenbewegungen gebaut.
Die religiös-kulturelle Fraktion vergab
unter den muslimischen Untertanen des Sultans religiöse Führungsämter und trug die
Verantwortung für das Bildungs- und Rechtswesen. Muslimischen Beauftragten oblag die
Rechtspflege. Wichtige Positionen wurden dabei von den Kadis besetzt, denen die
Kommunalverwaltung und das Strafrecht unterstand. Die Verwaltung bediente sich der
türkischen Sprache, die in arabischer Schrift geschrieben wurde.
Die herrschende Klasse bestand aus zwei
rivalisierenden Gruppen: (1) muslimische Turkmenen, Araber und Iraner, die im 14. und 15. Jahrhundert zusammen die
türkische Oberschicht des Osmanischen Reiches stellten, und (2) christliche
Kriegsgefangene und Sklaven, die angeworben, zum Islam bekehrt und nach dem berühmten Dewschirme-System
(Knabenlese) ausgebildet wurden. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts übernahm letztere Gruppe die Führungsrolle und
beherrschte die ehemalige Oberschicht.
Die Bevölkerung des Osmanischen Reiches
war hinsichtlich Sprache, Kultur und Religion heterogen. Die Mehrheit der Bevölkerung in
den europäischen Provinzen stellten Christen der orthodoxen Kirche. In Thrakien,
Makedonien, Bulgarien, Bosnien und Albanien verbreitete sich allerdings der Islam. In den
asiatischen Provinzen bildeten Muslime die Mehrheit der Bevölkerung, viele von ihnen
waren Anhänger des Sufismus. Der Staat ließ den Religionsgemeinschaften bei der Regelung
ihrer Angelegenheiten freie Hand. Die Bevölkerung war in Religionsgemeinschaften (Millets)
sowie in wirtschaftlichen und sozialen Gilden und Zünften organisiert. Die jüdischen,
griechisch-orthodoxen, armenischen, gregorianischen und muslimischen Millets sowie
die später hinzukommenden römisch-katholischen, protestantischen und
bulgarisch-orthodoxen Millets erhielten eine gewisse religiöse und kulturelle
Autonomie zugebilligt. Das Gros bildeten die bäuerliche Landbevölkerung, etwa 15 Prozent waren
Stadtbewohner. Außerdem standen viele Nomaden und Halbnomaden unter osmanischer
Herrschaft.
Die ersten drei Jahrhunderte des
Osmanischen Reiches waren eine Zeit des Wohlstands, der sich in der Entfaltung einer
reichen Kultur widerspiegelte: in der türkischen Musik und Literatur (Geschichte,
Geographie und Poesie), in der Malerei und vor allem in der Architektur, deren hohe Kunst
sich vielleicht am besten in der von Sinan erbauten Süleiman-Moschee (Istanbul) bewundern
lässt.
Niedergang
Der Niedergang des Osmanischen Reiches
setzte gegen Ende der Regierungszeit von Süleiman II. ein und dauerte bis zum Ende des 1. Weltkrieges an. Von
offizieller Seite wurde auf den Verfall des Reiches mit zwei unterschiedlichen
Vorgehensweisen reagiert. In der Zeit der traditionellen Reform (1566-1807) gingen die
Bestrebungen in Richtung einer Wiederherstellung der alten Institutionen, während in der
Zeit der modernen Reform (1807-1918) die alten Institutionen aufgegeben und neue, aus dem
Westen kommende Vorbilder übernommen wurden.
Die Gründe des Verfalls
Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts
kontrollierten die Sultane sowohl die türkische Aristokratie als auch die durch das Dewschirme-System
zum Islam bekehrten Christen und deren Nachkommen durch eine ausgeklügelte Balance der
Macht, bei dem beide Gruppierungen gegeneinander ausgespielt wurden. Unter der Regierung
Süleimans gewannen jedoch die Dewschirme die Oberhand und verdrängten die alte
türkische Stammesaristokratie aus den Führungspositionen. Zu dieser Zeit begann das
Reich auch unter der in einer Ära des inneren Friedens entstandenen Überbevölkerung zu
leiden. Die hohe Geburtenrate führte schließlich auf dem Land und in den Städten zu
Arbeitslosigkeit, die zudem durch die begrenzten Möglichkeiten des Landerwerbs und eine
von den städtischen Gilden durchgesetzte restriktive Wirtschaftspolitik noch
verschlimmert wurde. Diese Arbeitslosen schlossen sich häufig zu Räuberbanden zusammen,
die Stadt und Land gleichermaßen verunsicherten. Durch die inkompetente, korrupte und
ineffektive Regierung wurde die Landwirtschaft vernachlässigt, das Reich litt unter
Hungersnöten und Epidemien, und ganze Provinzen fielen unter die Herrschaft örtlicher
Feudalherren. Die Untertanen litten stark unter diesen Bedingungen, wurden jedoch von den
schlimmsten Auswüchsen durch das System der Millets und der Gilden, die einen
Stützpfeiler der Gesellschaft darstellten und bei Bedarf auch Regierungsfunktionen
übernahmen, bewahrt.
Die Osmanen zeigten sich aus mehreren
Gründen nicht sehr besorgt über den Reichsverfall. Zum einen war Europa für mindestens
ein Jahrhundert so stark mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass es die Schwäche
des Osmanischen Reiches nicht wahrnahm und auch nichts unternahm, um aus dieser Situation
Vorteile zu ziehen. Zum anderen profitierte der Großteil der herrschenden osmanischen
Klasse von dem Chaos im Land. Und schließlich nahmen die Osmanen die Veränderungen, die
Europa um vieles mächtiger als zuvor werden ließen, nicht bewusst wahr. Sie gingen nach
wie vor davon aus, dass die islamische Welt dem christlichen Europa noch immer weit
überlegen sei. Unter diesen Bedingungen sah die herrschende Klasse keinerlei
Veranlassung, Veränderungen vorzunehmen oder Reformen durchzuführen.
Nach einer gewissen Zeit begannen die
Mächte Europas jedoch das Ausmaß des inneren Verfalls des Osmanischen Reiches zu
begreifen und daraus Nutzen zu ziehen. 1571 drang die Flotte der Heiligen Liga unter Don
Juan de Austria in den östlichen Mittelmeerraum vor und zerstörte die osmanische Flotte
in der Seeschlacht bei Lepanto. Dieser Niederlage begegneten die Osmanen mit dem Bau einer
vollständig neuen Flotte, die sie in die Lage versetzte, die Kontrolle des
Mittelmeerraumes für ein weiteres halbes Jahrhundert zurückzugewinnen. Trotzdem setzte
sich in Europa die Ansicht durch, dass die Osmanen zu besiegen seien. Am Ende des Krieges
mit Österreich (1593-1606) musste der Sultan den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches
als gleichrangigen Partner anerkennen und die Tributpflicht Österreichs aufheben, was den
europäischen Mächten die Schwäche des Osmanischen Reiches noch deutlicher vor Augen
führte.
Reformen und Verluste
Erst als das Reich, von dem ihre
Privilegien und ihr Reichtum abhingen, von außen bedroht wurde, akzeptierte die führende
Schicht die Reformen. 1623 eroberte Schah Abbas I. von Persien Bagdad und den Osten des Irak und schürte eine
Reihe turkmenischer Revolten in Ostanatolien. Als Antwort darauf etablierte Sultan Murad IV. erneut die alten
Herrschaftsstrukturen und erhöhte damit die Effizienz der herrschenden Klasse und der
Armee. Diese so genannten traditionellen Reformen wurden mit der Hinrichtung von Tausenden
von Personen, die des Verstoßes gegen islamische Gesetze und Traditionen schuldig
befunden wurden, eingeleitet.
In der Folge gelang es, die Perser aus dem
Irak zu vertreiben und den Kaukasus zu erobern (1638). Unter Murads Nachfolger setzte
jedoch der Niedergang der Zentralautorität wieder ein. Der Türkisch-Venezianische Krieg,
der im Seeangriff Venedigs in den Dardanellen seinen Höhepunkt erreichte, führte zum
Aufstieg der Köprülü-Dynastie von Großwesiren, die ein weiteres Mal mit den von Murad VI. angewendeten
Methoden dem Reichsverfall Einhalt zu gebieten und die ehemalige Macht des Osmanischen
Reiches wieder herzustellen versuchten. 1683 unternahm der letzte Großwesir der
Köprülü, Kara Mustafa Pascha, einen erneuten Versuch, Wien zu erobern. Nach einer
kurzen Belagerung fiel die osmanische Armee jedoch gänzlich auseinander. Diese Tatsache
ermöglichte es einer neuen Europäischen Heiligen Liga, Teile des Reiches zu erobern.
Nach den Friedensverträgen von Karlowitz (1699) mussten Ungarn und Transsilvanien an
Österreich, Dalmatien, der Peloponnes und wichtige ägäische Inseln an Venedig, Podolien
und der Süden der Ukraine an Polen sowie Asow und die Gebiete nördlich des Schwarzen
Meeres an Russland abgetreten werden.
Landgewinne und weitere Verluste
Selbst in dieser Phase wies das Osmanische
Reich jedoch noch genug innere Stärke auf, schlimme Missstände zu beseitigen und durch
die Übernahme moderner europäischer Waffen und Taktiken sogar verlorene Gebiete
zurückzugewinnen. 1711 zerschlugen die Osmanen einen Angriff des russischen Zaren Peter I., des Großen, und
zwangen ihn zur Rückgabe der in Karlowitz verlorenen Gebiete; im Krieg mit Venedig und
Österreich (1714-1717) verloren sie dagegen Belgrad und Nordserbien. Dies führte zu
einer neuen Zeit der Reformen, genannt Tulpenzeit (1715-1730), während der die osmanische
Armee umorganisiert und modernisiert wurde, mit dem Ziel, das Reich vor weiteren
Gebietsverlusten zu bewahren. Mahmud I. (1730-1754) setzte während seiner Regierungszeit diese
Bemühungen fort und beauftragte den französischen Artillerieoffizier Claude de Bonneval,
genannt Humbaraci Ahmed Pascha, ein neues Artilleriekorps nach europäischem Muster
aufzustellen. Damit waren die Osmanen im Krieg gegen Russland und Österreich (1736-1739)
in der Lage, den Großteil der verlorenen Gebiete in Nordserbien und an der Nordküste des
Schwarzen Meeres zurückzuerobern. Anschließend folgte eine Zeit des Friedens zwischen
dem Osmanischen Reich und Europa, die in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass
die europäischen Staaten in andere Kriege verwickelt waren. Diese Unterbrechung ließ
jedoch einmal mehr die herrschende Klasse glauben, dass die Gefahr gebannt sei, und der
Reichsverfall setzte schnell wieder ein. In zwei verheerenden Kriegen zwischen 1768 und
1792 (siehe Russisch-TürkischeKriege) zerfiel die osmanische Armee. Bis zum
Frieden von Jassy (1792) hatten die Osmanen ihre Gebiete nördlich der Donau verloren und
sich von der Krim und den Gebieten östlich vom Dnjestr bis Russland zurückgezogen. In
den anderen europäischen Gebieten, in Asien und Afrika waren Herrscher an der Macht, auf
die die Zentralregierung nur wenig Einfluss hatte.
Die Ära der modernen Reform
Während des 19. Jahrhunderts
verschärfte sich die Gefahr einer Eroberung durch ausländische Mächte noch durch das
Entstehen des Nationalbewusstseins der unter osmanischer Herrschaft stehenden Völker. Die
nichttürkischen Völker des Reiches forderten ihre Unabhängigkeit und erhielten sie auch
nach und nach. Griechenland wurde als erstes Land 1829 in die Unabhängigkeit entlassen.
Daraufhin kam es zu Revolten der Serben, Bulgaren und Albanier sowie der Armenier
Ostanatoliens.
Die osmanischen Herrscher führten
daraufhin Reformen durch (1839-1878), die unter dem Namen Tansimat (türkisch:
Umorganisation") bekannt wurden. Das Tansimat wurde unter Mahmud II. geplant und begonnen
und erreichte seinen Höhepunkt unter der unumschränkten Herrschaft von Abd ül-Hamid II. (1876-1909). Mahmud II. hatte es sich zum
Ziel gesetzt, die alte Armee aufzulösen und durch eine neue Armee nach europäischem
Vorbild zu ersetzen. 1826 löste er die Janitscharen und die Armee der Spahis auf.
Die Timare wurden 1831 vollständig vom Staat übernommen. Es wurde eine Armee aus
Wehrpflichtigen aufgestellt, die durch Steuern finanziert werden sollte. Zur Erhebung der
Steuern war allerdings ein größerer, effizienterer Verwaltungsapparat erforderlich.
Außerdem war eine entsprechende Ausbildung der Offiziere und Staatsbeamten notwendig.
Umfangreiche öffentliche Bauvorhaben zur Modernisierung der Infrastruktur des Reiches
wurden in Angriff genommen, neue Städten, Straßen, Eisenbahnen und Telegraphenlinien
entstanden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die Osmanen zum ersten Mal verstärkt Kredite
im Ausland auf, um die Reformen finanzieren zu können. 1875 war das Reich außerstande,
die Zinsen für seine Auslandsschulden zu bezahlen. Moderne landwirtschaftliche Methoden
trugen ebenfalls zur erneuten Blüte des Osmanischen Reiches bei. Aber auch restriktive
Maßnahmen gegen Minderheiten waren Teil der neuen Politik, die zum Massaker an mehreren
Millionen Armeniern in den Jahren 1894 bis 1918 führte (siehe Armenien).
Europäische Interessen
Durch wirtschaftliche, finanzielle,
politische und diplomatische Probleme wurden die Tansimatsreformen jedoch schon bald
untergraben. Die seit kurzem industrialisierten europäischen Staaten benötigten das
Osmanische Reich als Lieferanten billiger Rohstoffe und als Absatzmarkt für ihre
Fertigprodukte. Durch die Kapitulationen Verträge, in denen die Sultane
Europäern seit dem 16. Jahrhundert gestatteten, im Osmanischen Reich nach ihren eigenen
Gesetzen und unter ihren eigenen Konsuln zu leben konnten die Europäer die Osmanen
daran hindern, Importe aus dem Ausland zu begrenzen und verhinderten so einen wirksamen
Schutz der erst im Entstehen begriffenen Industrie. Da die Osmanen weitgehend von Kapital
und technischem Wissen ausländischer Unternehmen abhingen, waren sie gezwungen in den
letzten Jahren des Tansimats so hohe Anleihen bei europäischen Banken zu tätigen, dass
über die Hälfte des gesamten Staatseinkommens von den Zinsen verschlungen wurde.
Darüber hinaus stieg in der Bevölkerung der Unmut über die neue moderne Verwaltung.
Eine Gruppe liberal gesinnter
Intellektueller mit konstitutionellen Zielen, bekannt unter dem Namen Jungtürken, begann
damals, eine Begrenzung der Macht der herrschenden Klasse und der Beamten sowie die
Einrichtung eines Parlaments zur Vertretung der Rechte des Volkes zu fordern. Da die
Jungtürken von den Führern des Tansimats politisch verfolgt wurden, flohen sie ins
Ausland, wo sie ihre Forderungen in Büchern und Flugblättern veröffentlichten. Diese
gelangten über die ausländischen Postämter, die unter dem Schutz der
Kapitulationsurkunden standen und somit osmanischer Kontrolle entzogen waren, ins
Osmanische Reich. Zur gleichen Zeit entstand in den seit kurzem unabhängigen
Balkanstaaten eine starke Widerstandsbewegung, die sich die Kontrolle über das Gebiet
Makedonien, dessen Bevölkerung zu nahezu gleichen Teilen aus Muslimen und Christen
bestand, zum Ziel gesetzt hatte. In Griechenland, Serbien und Bulgarien entstanden
Unabhängigkeitsbewegungen, die ihren Forderungen durch Terroranschläge Nachdruck
verliehen und eine große Herausforderung für den osmanischen Staat darstellten.
Staatsstreich und Verfassung
Zu diesem Zeitpunkt führten eine neue
internationale Krise, ein drohender Krieg mit Russland und Österreich und die
konstitutionellen Bestrebungen einer Gruppe von Reformern zum Sturz des Sultans Abd ül-Asis. Nach der
kurzen Regierungszeit von Murad V. bestieg Sultan Abd ül-Hamid II. den Thron. Er erließ eine Verfassung und willigte in die
Bildung eines repräsentativen Parlaments ein, das 1877 zu seiner ersten Sitzung
zusammentrat, aber bald darauf wegen des Krieges mit Russland wieder aufgelöst wurde. Auf
dem Berliner Kongress (1878) trug Abd ül-Hamid in Zusammenarbeit mit Großbritannien zu einer Lösung
der internationalen Krise bei. Unter dem Eindruck der fortdauernden Bedrohung durch die
europäischen Mächte löste Abd ül-Hamid jedoch das Parlament auf und setzte eine autokratische
Regierung (1878) ein. Den Beamten wurden die Regierungsvollmachten entzogen, die Macht im
Palast konzentriert, jegliche Opposition wurde unterdrückt. Abd ül-Hamid gelang es,
finanzielle Stabilität herzustellen und die Wirtschaft anzukurbeln, aber die politische
Unterdrückung rief schließlich die liberale Widerstandsbewegung der Jungtürken auf den
Plan. Diese setzte die Wiedereinführung von Verfassung und Parlament in einem als
Jungtürkische Revolution (1908) bezeichneten Aufstand durch. Der Erfolg des neuen
konstitutionellen Regimes wurde jedoch sehr schnell von einer Reihe politischer Ereignisse
geschmälert. Österreich annektierte Bosnien und die Herzogewina, Bulgarien gliederte
Ostrumelien ein, und in Makedonien und Ostanatolien kam es erneut zu gewaltsamen
Terrorakten.
Abd ül-Hamid und seine Anhänger im Palast lasteten diese Probleme
dem neuen Regime an und unternahmen im April 1909 eine Konterrevolution (Gegenrevolution).
Das Parlament wurde aufgelöst und viele der Abgeordneten verhaftet. Aber die von den
Jungtürken angeführte Armee in Makedonien marschierte auf Istanbul, schlug die
Konterrevolution nieder und setzte den Sultan ab. Die nachfolgenden osmanischen Herrscher
saßen zwar auf dem Sultansthron, hatten jedoch keine Regierungsgewalt mehr.
Die Zeit unter den Jungtürken
Die Jahre zu Beginn der Ära der
Jungtürken (1908-1918) waren die demokratischste Zeit in der Geschichte des Osmanischen
Reiches. Verfassung und Parlament wurden wieder eingesetzt und politische Parteien
zugelassen. Die stärkste Partei war die von den Jungtürken gegründete Partei für
Einheit und Fortschritt; daneben entwickelte sich jedoch noch eine Vielzahl anderer
Parteien.
Die Reformen der Jungtürken, die alle
Lebensbereiche erfassten, erreichten ihren Höhepunkt in der Trennung von Kirche und Staat
im Bildungs- und Rechtswesen sowie in der Einführung der Frauenrechte während des 1. Weltkrieges. Der moderne
Staatsapparat aus der Tansimat-Zeit wurde auf eine demokratische Basis gestellt, Industrie
und Landwirtschaft wurden gefördert und moderne Methoden zur Führung des Staatshaushalts
eingeführt. Der erste Balkankrieg führte jedoch zu einer Revolte innerhalb des
Ausschusses für Einheit und Fortschritt, worauf ein von Enver Pascha angeführtes
Triumvirat versuchte, die Regierungsgewalt zu übernehmen. Es machte sich die Uneinigkeit
unter den siegreichen Balkanstaaten zunutze, um Edirne (Adrianopel) im zweiten Balkankrieg
zurückzugewinnen, was schließlich zum Gelingen des Staatsstreiches der Jungtürken
führte.
Der 1. Weltkrieg
Zu Beginn versuchte das Triumvirat, eine
Einmischung in den 1. Weltkrieg zu vermeiden. Aber das Angebot Deutschlands, das Reich
bei der Rückeroberung der verlorenen Provinzen zu unterstützen und die Beschlagnahmung
türkischer, in England im Bau befindlicher Kriegsschiffe durch die Briten führten das
Osmanische Reich letztendlich zum Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte im Jahr
1914. Die türkischen Streitkräfte drängten in der Gallipoli-Kampagne ein ganzes
Expeditionskorps erfolgreich zurück und nahmen es in Kut-al-Imara im Irak gefangen. Der
Feldzug auf die Sinai-Halbinsel mit dem Ziel der Eroberung des Suezkanals und Ägyptens
verlief jedoch erfolglos und endete mit der von den Briten unterstützten arabischen
Revolte auf der Arabischen Halbinsel. Eine britische Truppe überfiel mit arabischer Hilfe
Syrien von Ägypten aus und hatte gegen Kriegsende Südanatolien erreicht. Der Feldzug
Enver Paschas in den Kaukasus am Anfang des Krieges endete weniger wegen der Abwehr
russischer Truppen als vielmehr auf Grund seiner schlechten Organisation und gleichzeitig
ausbrechender Aufstände in den Ostprovinzen erfolglos. In der Folge davon konnte Russland
in Ost- und Mittelanatolien einfallen (1915-1916), bis diese Eroberungen 1917 durch die
Russische Revolution beendet wurden. Die verheerenden Folgen dieser Überfälle aus dem
Ausland wurden durch innere Revolten, Lebensmittelknappheit, Hungersnot und Krankheiten
noch verschlimmert. Rund sechs Millionen Menschen aller Religionsgemeinschaften, etwa ein
Viertel der Gesamtbevölkerung des Reiches, starben oder wurden getötet, und die
Wirtschaft des Landes war stark angeschlagen.
Besetzung und Unabhängigkeitskrieg
Nach der Kapitulation des Reiches wurde die
türkische Regierung unter die Aufsicht der alliierten Besatzungsmächte unter Führung
der Briten gestellt. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde die Abtretung der
Balkanprovinzen und der arabischen Provinzen beschlossen, und die vorwiegend von Türken
bewohnten Gebiete in Ost- und Südanatolien sollten unter ausländische Kontrolle oder die
Kontrolle von Minderheitengruppen kommen. Eine große griechische Streitmacht nahm 1922
Izmir ein und überfiel Südwestanatolien. Nach Bekanntwerden der Massaker an der
türkischen Bevölkerung stellten die Alliierten jedoch ihre Unterstützung für
Griechenland ein.
In der Folge der vorgeschlagenen
Friedensregelung und als Antwort auf die Invasion Griechenlands entstand in Anatolien
unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk die türkische nationalistische Bewegung.
Während des türkischen Unabhängigkeitskrieges (1918-1923) widersetzte sich Atatürk
erfolgreich den Bedingungen der Alliierten, verdrängte die griechischen sowie die
britischen, französischen und italienischen Besatzungsmächte und setzte eine im Frieden
von Lausanne (1923) festgelegte Regelung durch, die der Türkei die uneingeschränkte
Kontrolle über die türkischen Gebiete Ostthrakien und Anatolien sicherte. Nach diesem
Erfolg wurde die Republik Türkei mit der Hauptstadt Ankara ausgerufen, und das Kalifat
des Sultans in Istanbul hörte auf zu existieren (1923).
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