Von Achim Guduan
Als Grundlage dieses Beitrags diente der erste Armuts- und
Reichtumsbericht “Lebenslagen in Deutschland”, den die Bundesregierung 2001
veröffentlichte. Da dieser die Situation von 1998 behandelt, sind alle
Angaben in Mark. Wenn im Beitrag einmal keine Jahresangaben genannt
sind, ist immer das Jahr 1998 gemeint. Obwohl der Regierungsbericht teils
widersprüchlich ist und einige statistische Methoden zu hinterfragen
sind, kann er trotzdem als Datensammlung für die Darstellung der sozialen
Verhältnisse verwendet werden. Grade in Hinblick auf die schon durchgesetzten
Verschlechterungen sollte der Bericht immer als etwas geschönt betrachtet
werden.
Vorbemerkungen
Die radikale Linke hat in den letzten 15 Jahren mehrere Debatten zur Bestimmung
des revolutionären Subjekts geführt. Erinnert sei an dieser Stelle
an das Papier "3 zu 1", aber auch an die anderen Kritiken an den etablierten
kommunistischen Vorstellungen, die fast ausschließlich das Industrieproletariat
als revolutionäres Subjekt ansahen, jedoch nicht begreifen konnten,
dass in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft auch andere Subjekte
zu Akteuren revolutionärer Veränderung werden können. Es ist
bekannt, dass die Frauenbefreiung als Nebenwiderspruch der kapitalistischen
Gesellschaft begriffen und ihr deswegen kein besonderer Stellenwert beigemessen
wurde. Ähnlich verhielt es sich mit den Umweltfragen, die zumindest
in den Momenten sogar als proletarierfeindlich bezeichnet wurden, in denen
ein vermeintlicher Widerspruch zwischen den Interessen aller zum Wohle der
Umwelt und den Interessen der Belegschaft eines Betriebes gesehen wurde.
Einzig der Rassismus erlangte bei traditionellen kommunistischen Organisationen
ein gewisses Gewicht, da die Arbeiterbewegung schon von Marx und Engels als
internationales Phänomen analysiert wurde und sie aufgrund der Repression
schon früh einen internationalistischen Charakter annahm. Trotzdem wurde
dem Rassismus wie der Umweltzerstörung und dem Patriarchat nur der Rang
eines Nebenwiderspruchs zugewiesen, dominiert von der kapitalistischen Verwertung
der Arbeitskraft.
Die Etablierung von Haupt- und Nebenwidersprüchen wurde in der kommunistischen
Linken unter anderem mit einem Verweis auf das Kommunistische Manifest begründet,
nach dem sämtliche Widersprüche mit der Abschaffung des Privateigentums
an den Produktionsmitteln ebenfalls verschwinden würden. In der kommunistischen
Interpretation dieser von Marx skizzierten Entwicklung schlich sich in der
Folgezeit ein gewisser Automatismus ein, demzufolge nur das Industrieproletariat
agitiert werden musste, um einen revolutionären Prozess auszulösen.
Hier wurden schlicht die Träger der Revolution mit den Herrschenden
der alten Gesellschaft verwechselt. Denn sicher ist unbestritten, dass die,
die über Gedeih und Verderb entscheiden, die die allgemeine gesellschaftliche
Entwicklung bestimmen, Kapitalisten sind, einzig daran interessiert, den
Mehrwert abzuschöpfen. Bei einer Personifizierung ist es nicht der Mann
und nicht der Weiße an sich, der die Geschicke der Menschheit bestimmt,
sondern der Kapitalist. Dies bedeutet aber nicht, dass das revolutionäre
Subjekt deshalb einzig im Industrieproletariat zu finden ist. Im Gegenteil
skizzierten schon Marx und Engels die Begrenztheiten eines rein auf das Lohnniveau
fixierten Kampfes, was Lenin später zu seiner auf die Sozialdemokratie
bezogenen Kritik des Ökonomismus veranlasste, wie sie unter anderem
in "Was tun?" anzutreffen ist.
Wie wichtig das Verlassen des reinen Lohnkampfes ist, führte Marx in
seiner Schrift "Elend der Philosophie" aus, in der er schrieb:
"Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne
war, so formieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß,
wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigten zu
Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung
der Assoziationen notwendiger als die des Lohns ... In diesem Kampf – ein
veritabler Bürgerkrieg – vereinigen und entwickeln sich alle Elemente
für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkt angelangt, nimmt
die Koalition einen politischen Charakter an. Die ökonomischen Verhältnisse
haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft
des Kapitals hat für die Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame
Interessen geschaffen. So ist die Masse bereits eine Klasse gegenüber
dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf ... findet
sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst.
Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der
Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf."
Das bedeutet, dass erst mit der Wandlung der Klasse von einem Proletariat
an sich zu einem Proletariat für sich die Ebene des Kampfes für
die individuellen Interessen verlassen wird und ein kollektiver, ein gegen
die herrschende Gesellschaftsform gerichteter Kampf geführt wird – ein
allgemein politischer Kampf, der natürlich auch andere Politikfelder
besetzen kann. Ein Blick in die Geschichte genügt dabei, um zu erkennen,
dass diese Wandlung nicht notwendigerweise nur im Betrieb stattfinden muss.
In seiner an der Universität gehaltenen "Kopenhagener Rede" führte
Leo Trotzki 1932 aus, dass die Oktoberrevolution in Russland trotz einer
immensen Unterentwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse möglich
wurde, da mit dem Ersten Weltkrieg das Kapital einen Verteilungskampf um
die weltweiten Märkte führte und dieser Krieg auch das unterentwickelte
Russland mit in den Strudel zog, weshalb es als schwächstes Glied der
Kette schließlich herausgesprengt wurde. Ähnliches wiederholte
sich in China, wo mit dem Einmarsch japanischer Truppen Märkte für
das japanische Kapital erobert wurden, gleichzeitig aber auch der KP China
die Möglichkeit gegeben wurde, eine Entwicklung der politischen Bewusstwerdung
der stark feudal geprägten Massen einzuleiten. Der reine, gegen die
heimische Bourgeoisie gerichtete Betriebskampf wurde mit dem Langen Marsch
eingestellt.
Wenn wir den derzeitigen gesellschaftlichen Zustand sowohl in Deutschland
als auch in Westeuropa insgesamt betrachten, zeigt sich, dass sich die kapitalistische
Gesellschaft seit Marx' Zeiten sowohl in Hinblick auf die Unterdrückten
als auch in Hinblick auf die Unterdrücker extrem weiterentwickelt hat.
Am einfachsten mag dies noch in Bezug auf das Kapital nachzuzeichnen sein.
So ist nicht nur eine enorme Produktivitätssteigerung zu verzeichnen,
die neben einem Anwachsen der produzierten Waren auch eine Ausweitung des
kapitalistischen Marktes auf fast jeden Lebensbereich provozierte. Der Konsum
bestimmt heute das Leben fast aller Menschen in den hochentwickelten kapitalistischen
Staaten, selbst die von der Gesellschaft wenig zu erhoffen haben, finden
im Konsum ihren Lebensinhalt, womit eine ideologische Festigung dieses Systems
grade auch bei den Unterdrückten erreicht wird.
Die Ausweitung des kapitalistischen Marktes bewirkte aber auch eine Veränderung
in der Klasse der Kapitalisten. Hier begegnet uns heute nicht mehr der dickbäuchige,
golduhrtragende Kapitalist im Frack, wie er im 19. Jahrhundert auf vielen
Plakaten zu finden war und ganzen Regionen seinen Namen aufdrückte.
Dieser Typus eines Kapitalisten, wie es ein Flick, ein Stinnes oder ein Krupp
war, existiert so nicht mehr. Diese Kapitalisten erinnerten mit ihren Attitüden
noch sehr an Feudalherren, oft brachten sie noch Dynastien hervor, deren
Nachkommen wie Könige mit römischen Zahlen versehen wurden. Heute
dominiert ein anderer Typus, der eher anonym bleibt und weit zahlreicher
vertreten ist als der alte Patron: der Aktionär. In den Aktiengesellschaften
versammeln sich heute Millionen, die als Eigentümer der Produktionsmittel
Anteile am Profit erwarten. In Italien werden Aktiengesellschaften mit dem
Begriff "società anonima" bezeichnet, also mit "anonymer Gesellschaft".
Dieser Begriff ist weit ehrlicher, sind doch die Namen der Aktionäre
meist nur im Handelsregister zu finden. Einzig die Mitglieder der Vorstände
und Aufsichtsräte treten hin und wieder an die Öffentlichkeit,
wobei auch bei ihnen oft nur wenige Sprecher auftreten. Durch die Aktiengesellschaften
hat sich der Kreis der Kapitalisten extrem ausgedehnt, als Beispiel hierfür
mag die Anzahl der Millionäre in Deutschland gelten, die 1962 aufgrund
fehlender Zahlen auf etwa 14 000 geschätzt wird, 1973 aber schon bei
etwa 213 000 lag. Bis 1998 zog die Anzahl auf 1,5 Millionen Personen davon,
die mindestens über eine Million Mark Vermögen verfügten.
In den Vorständen und Aufsichtsräten zeigt sich zudem eine weitere
Neuerung, sind hier nicht nur die "eigentlichen" Kapitalisten versammelt,
sondern auch Gewerkschaftsmitglieder und Politiker. So ist der Regierende
Bürgermeister von Berlin qua Amt im Vorstand von Schering, der niedersächsische
Ministerpräsident ist gleichzeitig Vorstandsmitglied bei VW, der IG-Metall-Vorsitzende
sitzt automatisch im Vorstand von Daimler-Chrysler und, bis zum Verkauf,
von Mannesmann. Mit dieser Verflechtung sind die einzelnen gesellschaftlichen
Sektoren nicht mehr so stark abgegrenzt, der Staat, das Kapital und mit den
Gewerkschaften sogar die Interessenvertretung der vom Kapital Abhängigen
vermischen sich mit dem Ergebnis, dass die eigentlich unterschiedlichen Interessen
ebenfalls verwischen. Diese Vermischung hat natürlich Konsequenzen für
die Belegschaft, finden doch Streiks kaum noch statt, oder, wie im Falle
der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes Mitte der achtziger Jahre
geschehen, es wird gegen den Angriff auf die gewerkschaftliche Organisierung
gerade mal zu einem Warnstreik in der Mittagspause aufgerufen.
Waren zu Zeiten Karl Marx' die Überbauten kaum entwickelt und allenfalls
mittels kirchlicher und weniger staatlicher Einrichtungen vorhanden, so entwickelte
sich parallel zum Anwachsen der Produktivität auch dieser Bereich. Heute
steht uns eine wahre Armada an Sozialwissenschaftlern, an Künstlern,
an Journalisten oder an "mitgestaltenden Bürgern" gegenüber, die
sofort bei Fuß stehen, wenn an irgendeinem Punkt dieser Gesellschaft
ein Widerspruch sichtbar wird oder aber neue Angriffe auf den sozialen Standard
den Anschein des Wissenschaftlichen – und damit des Notwendigen – erwecken
sollen. Gerade die von Hartz und Rürup geführten Kommissionen dienen
diesem Aspekt, und auch sie werden von den Medien mit einem wahren Dauerfeuer
der Rhetorik abgefedert, nach dem – außer wenigen versteinerten Restlinken
– die gesamte Bevölkerung nur so nach "Reformen" lechzt. Es war Antonio
Gramsci, der diese Überbauten der Gesellschaft als "Schützengräben"
bezeichnete, die der eigentlichen kapitalistischen Burg vorgelagert sind
und vor ihrer Erstürmung eingenommen werden müssen. Hierzu bedarf
es aber einer Linken, die sich zum einen ihrer Funktion bewusst ist, den
Unterdrückten eine Perspektive zu vermitteln, zum anderen aber auch
weiß, wie diese Gesellschaft geformt ist, wie sie funktioniert und
wo die Unterdrückten zu finden sind.
Um zu zeigen, wie wichtig die Überbauten sind, mag hier als Beispiel
der 1. Mai in Berlin dienen, der seit 16 Jahren der gesamten Gesellschaft
aufzeigt, dass es einen Widerspruch gibt zum gern vermittelten Bild einer
Zivilgesellschaft, deren eigentliche Basis immer noch die kapitalistischen
Ausbeutung ist. Da der Widerspruch nicht geleugnet werden kann, stehen in
verschiedenen Instituten Soziologen, Sozialpädagogen und sonstige scheinbare
Wissenschaftler bereit, die diesen Konflikt mit ihren Interpretationen von
"Abenteuerlust", von "Stärke erleben" oder "Gemeinsamkeit in Abgrenzung
suchen" noch jeden politischen Inhalts berauben, in den Medien schließen
sich die Journalisten bereitwillig an und schreiben von "Chaoten" und erzählen
Märchen von Brandschatzungen, die nie stattgefunden haben. Schließlich
erscheinen Künstler im Verbund mit angeblichen Bürgern, die "endlich
ihren Kiez zurückhaben wollen". Im Mittelpunkt steht nun die sicherlich
teilweise auch wirklich "inhaltsleere Randale", das "Ritual". Dass diese
Inhaltsleere aber viel mit dem Bewusstseinsstand der Agierenden zu tun hat,
der aufgrund fehlender Perspektiven eher individuelle Lösungen als aussichtsreich
erscheinen lässt, wird dabei ebenso zur Seite geschoben wie die Tatsache,
dass diese Jugendlichen eigentlich genau das machen, was ihnen die Gesellschaft
beigebracht hat: der Stärkere, der Schnellere, der Bessere zu sein und
sein Gegenüber an die Wand zu drücken. Konkurrenz statt Kollektivität.
Von den eigentlichen Problemen in dieser Gesellschaft spricht am Ende schließlich
niemand mehr, die Gesellschaft hat ihre Verantwortung für das Zustandekommen
der teilweise unbewussten unddaher wenig politischen Handlungen der Agierenden
abgestreift und überlässt die Beseitigung des Problems der polizeilichen
Repression.
Die soziale Lage
Es ist bekannt, dass viele der Agierenden am 1. Mai Jugendliche aus immigrierten
Familien sind. Mittlerweile wird diese Tatsache nicht mehr nur von der radikalen
Linken vorgebracht, selbst die Berliner Polizeiführung und Vertreter
der türkischen Gemeinde ebenso wie aus der Politik leugnen diesen Umstand
nicht mehr. Die radikale Linke spricht in diesem Zusammenhang gern vom alltäglichen
Rassismus, der diese Jugendlichen bewegt, am 1. Mai auf die Barrikaden zu
steigen. Allerdings begrenzt die Linke ihren Rassismus-Vorwurf meist auf
die sichtbaren Aspekte wie neonazistische Überfälle, Abschiebungen
sowie die latent rassistische Gesetzgebung wie die Verweigerung des Wahl-
und Arbeitsrechts. Die unterschiedlichen Lebenslagen, der Alltag also, ist
der Linken meist nicht bekannt. Die Daten zur sozialen Lage aber sind das
Material, mit dem verstanden werden kann, wie diese Gesellschaft strukturiert
ist und wie sie funktioniert. So beklagt die Linke zwar eine rassistische
Presse, die ständig über "kriminelle Ausländer" hetzt, sie
ist aber nicht in der Lage, dieser Hetze mit den Sozialdaten zu begegnen.
Im Bewusstsein der Linken ist nicht vorhanden, dass etwa jeder fünfte
Immigrierte arbeitslos ist, während die Arbeitslosigkeit insgesamt "nur"
jeden zehnten Erwerbsfähigen trifft. Diese Ungleichheit setzt sich auch
bei der Sozialhilfe fort, die 9,1 Prozent aller Immigrierten beziehen, aber
nur 3 Prozent aller Deutschen (
siehe Tabelle II.3
und II.4) Jeder vierte Empfänger von Sozialhilfe hat damit keinen
deutschen Pass. Am schlimmsten ist jedoch die Lage von Immigrierten im Bildungsbereich.
Nicht mal jedes zehnte Kind aus einer immigrierten Familie erreicht die so
genannte Hochschulreife, dafür aber finden sich über zwei Drittel
dieser Kinder grade mal mit einem Hauptschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt
wieder. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen ist das Bild genau umgekehrt:
Hier finden 20 Prozent ihren Schulabschluss in der Hauptschule, 23 Prozent
beenden die Realschule, 40 Prozent aber erlangen das Abitur.
Von staatlicher Seite wird gern behauptet, dass sich diese an sich schon
miese Lage etwas gebessert hat im Vergleich zum Anfang der achtziger Jahre.
Damals machte immerhin die Hälfte der Kinder aus immigrierten Familien
gar keinen Schulabschluss, während deren Kinder heute "nur" noch zu
17 Prozent ohne Schulabschluss bleiben. Der entsprechende Anteil für
die Gesamtbevölkerung liegt bei unter 3 Prozent. Obwohl das Problem
der schlechteren Schulausbildung seit langem bekannt ist und sowohl die Konsequenzen,
wie eine schlechtere Berufsperspektive, als auch die Gründe, wie die
Alphabetisierung in einer Fremdsprache, häufig thematisiert wurden,
fällt es diesem Staat immer noch nicht ein, wenigstens qualifizierte
Sprachkurse für die Immigrierten anzubieten – Einrichtungen, die in
einer Vielzahl anderer europäischer Länder längst zum Standard
gehören.
Jedenfalls ist seit längerem belegt, dass ein schlechter Schulabschluss
eher zu Arbeitslosigkeit führt als ein guter. So besitzen 13,3 Prozent
der Sozialhilfe-Empfänger keinen Schulabschluss, einen Volks- oder Hauptschulabschluss
haben 51,5 Prozent (ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei etwa
45 Prozent), einen Realschulabschluss 18,6 Prozent (31 Prozent der Gesamtbevölkerung),
und eine Form der Hochschulreife 8,5 Prozent (22 Prozent der Bevölkerung).
Neben den Immigrierten sind auch Frauen in dieser Gesellschaft benachteiligt.
Die Ungleichheit der Löhne ist dabei sicherlich der bekannteste Aspekt.
Diese betrifft aber nur erwerbstätige Frauen, deren Anteil im Westen
in den siebziger Jahren noch bei 46,4 Prozent lag, nun aber mit 55,4 Prozent
über der Hälfte liegt. Im Osten lag ihr Anteil auch acht Jahre
nach der Zerschlagung der Wirtschaftsstrukturen in der ehemaligen DDR immer
noch leicht höher bei 56,6 Prozent, während zu Beginn der neunziger
Jahre dieser Anteil noch 66,9 Prozent betrug (
siehe Tabelle V.1).
Diese Zahlen bedeuten aber auch, dass knapp die Hälfte aller Frauen
materiell völlig abhängig ist von ihren Partnern. Diese Abhängigkeit
drückt sich auch in den Zahlen zur so genannten geringfügigen Beschäftigung
aus, die seit den neunziger Jahren einen regelrechten Boom erlebte. Waren
im Westen 1987 von den 2,84 Millionen ausschließlich geringfügig
Beschäftigten 60 Prozent Frauen, so erhöhte sich ihr Anteil in
zehn Jahren auf 66 Prozent von nun 3,61 Millionen. Wie fatal diese Abhängigkeit
wirken kann, zeigt sich jedoch, wenn die Partnerschaft zerbricht. Von allen
Alleinerziehenden sind 84 Prozent Frauen. Viele von ihnen verlieren mit dem
Ende der Partnerschaft auch ihre soziale Sicherheit. Grade in den ersten
drei Lebensjahren des Kindes bietet die Gesellschaft Frauen kaum die Möglichkeit,
Beruf und Familie in Einklang zu bringen. So sind grade mal 27 Prozent berufstätig.
Ein Großteil der alleinerziehenden Frauen ist daher von der Sozialhilfe
abhängig, nämlich 28,1 Prozent, die damit die mit Abstand größte
Gruppe von Abhängigen bilden.
Da Deutschland aber ein Land ist, das reich ist an sozialen Kämpfen,
ist erreicht worden, dass selbst die Unterprivilegierten zumindest nach offiziellen
Statistiken ein relativ hohes Einkommen haben. So sollen nur zehn Prozent
der alleinerziehenden Frauen von weniger als 1800 Mark monatlich leben. Dieses
Einkommen macht natürlich stutzig, aber es sollte berücksichtigt
werden, dass damit neben dem Lebensunterhalt wie Nahrung und Kleidung auch
die Miete und sämtliche Nebenkosten für meist drei Personen bezahlt
werden müssen plus die Kosten der Schulausbildung. Eine der acht offiziellen
Armutsgrenzen wurde jedenfalls bei 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens
festgemacht, das sind 1672 Mark monatlich (
siehe Tabelle I.2 und
I.3). Im Westen fielen 1998 17,2 Prozent unter diese Schwelle, im Osten
waren es 29,6 Prozent, insgesamt also fast ein Fünftel der Bevölkerung.
Ob diese offiziellen Zahlen eventuell etwas geschönt wurden, mag hier
dahingestellt sein, für die radikale Linke wichtig ist dabei vielmehr
ein Blick ins eigene Portemonnaie. Ein Großteil der Linken wird dabei
jedenfalls feststellen, ebenfalls unter die Armutsgrenze zu fallen ebenso
wie das persönliche Umfeld.
Ein weiterer Blick, diesmal auf das jährliche mittlere Nettoeinkommen,
genügt dagegen, um die Faust zu ballen. Dieses wurde 1998 nämlich
auf 42 523 Mark pro Person fixiert, das mittlere Nettoeinkommen eines Haushalts
lag sogar bei 61 800 Mark. Es sind wohl wenige in der Linken, die über
dieses Einkommen verfügen beziehungsweise jemanden kennen, der über
dieses Einkommen verfügen kann. Fallen knapp 20 Prozent unter die offizielle
Armutsgrenze, so verfügen gerade mal 6,7 Prozent der Bevölkerung
über ein Nettoeinkommen, das 200 Prozent über dem Mittelwert liegt,
nämlich bei 85 047 Mark. Die fünf Prozent Reichsten haben dabei
ein Einkommen von mindestens 94 510 Mark, knapp 222 Prozent über dem
Mittelsatz. Allein das mittlere Einkommen dieser 6,7 Prozent beträgt
156 632 Mark – fast ein Viertel der gesamten Einkommen. Diese Zahlen zeigen,
wie stark sich die Klasse der Kapitalisten ausgeweitet hat, machen diese
6,7 Prozent doch fast zwei Millionen Personen aus. Von diesen zwei Millionen
verfügten 1995 übrigens 12 707 über ein Nettojahreseinkommen
von mindestens einer Million Mark. Bruttoeinkommensmillionäre gab es
27 230 in diesem Land (
siehe Tabelle I.6).
Die Höhe des Einkommens bestimmt natürlich auch den Umfang des
Vermögens. Zur Ermittlung der Vermögensverteilung teilen offizielle
Statistiken gern die Bevölkerung in fünf gleich große Teile
auf. Dabei fällt auf, dass das ärmste Fünftel im Westen gerade
mal über ein Barvermögen von 2000 Mark verfügt. Hinzu kommen
eine Lebensversicherung, die grade mal 1200 Mark wert ist, und eine Immobilie,
deren Wert im Durchschnitt dieses Fünftels 1600 Mark beträgt. Das
gesamte Bruttovermögen dieses Fünftel beträgt pro Kopf also
4800 Mark. Auf dieses Vermögen werden nun aber noch die Schulden angerechnet,
die mit dem Kauf der Immobilie anfallen beziehungsweise sich aus dem Konsumverhalten,
etwa dem Kauf eines Autos, ergeben. Diese Schulden belaufen sich im Schnitt
auf 8800 Mark, das heißt, jeder Mensch dieses Fünftels besitzt
gar kein Vermögen, sondern ist mit 4000 Mark verschuldet. Im Osten ist
dieses Fünftel mit 2000 Mark pro Kopf verschuldet. Das reichste Fünftel
besitzt demgegenüber im Westen nach Abzug der Schulden ein Vermögen
von offiziell 804 000 Mark pro Kopf, im Osten besitzen sie 315 300 Mark (
siehe Tabelle I.10).
Aufgrund des hohen Anteils an Auslandskonten und an Schwarzgeld sind sie
inoffiziell sicher noch reicher. Während die Reichsten im Westen 63,4
Prozent (Ost: 71,3 %) des gesamten Vermögens besitzen, haben die Ärmsten
einen Anteil von minus 0,3 Prozent (Ost: -0,5 %). Nach Aussage des schleswig-holsteinischen
Landesvorsitzenden der SPD, Claus Möller, besaßen 1998 allein
die 100 Reichsten in Deutschland zusammen ein Vermögen von 240 Milliarden
Mark, das ist in etwa die Hälfte des Bundeshaushalts.
Neben der Höhe des Vermögens ist die Entwicklung der einzelnen
Vermögenswerte hochinteressant. Leider gibt es hier nur Angaben zu Arbeitern
und Angestellten zusammen, was die Statistik sicher etwas verwischt. Dennoch
sind diese Zahlen sehr aufschlussreich, zeigt sich hier doch, dass das altbekannte
Sparbuch bei Arbeitern und Angestellten schon 1962 recht beliebt war, denn
immerhin 63 Prozent besaßen eins. Mit dem Ansteigen der Löhne
zum Ende der sechziger Jahre nahm die Zahl der Sparbuchbesitzenden sprunghaft
auf 92 Prozent zu. Ein Stand, der sich in den Siebzigern nur noch leicht
auf 95 Prozent erhöhte und auch nach der Wiedervereinigung bis 1993
im Wesentlichen gehalten werden konnte (92 Prozent). Mit dem ab Mitte der
neunziger Jahre einsetzenden Börsenboom nimmt jedoch die Zahl der Besitzer
eines Sparbuchs rapide ab auf 79 Prozent im Jahr 1998. Gleichzeitig steigt
die Anzahl der Besitzer von Wertpapieren von etwa 7 Prozent (1962) bis 1988
stetig auf 36 Prozent und schnellt 1993 auf 48 Prozent hoch. Was nach 1998
an den Börsen passierte, dürfte allen bekannt sein, ein Großteil
der Vermögen der Arbeiter und Angestellten wechselten an den Börsen
den Besitzer.
Neben Sparbuch und Wertpapieren sind aber noch die Daten zu Bausparverträgen
und Immobilien interessant. Hier zeigt sich, dass 1962 erst 13 Prozent ein
Bausparguthaben besaßen, sieben Jahre später hatte sich dieser
Wert schon mehr als verdoppelt (27 Prozent). Schon Ende der siebziger Jahre
waren mehr als die Hälfte aller Arbeiter und Angestellten (52 Prozent)
Inhaber eines Bausparvertrages. Dieser Wert hat sich seitdem nur noch unwesentlich
verändert, nämlich auf 56 Prozent 1998. Die Daten für den
Immobilienbesitz sehen ähnlich aus. Hier weist die Statistik 31 Prozent
für das Jahr 1962 aus, 1973 sind es 39, fünf Jahre später
jedoch schon 47 Prozent. 1983 wird der Höhepunkt mit 50 Prozent erreicht.
Aufgrund der Wiedervereinigung zeigt sich nun ein leichter Abschwung auf
48 Prozent (1993), der aber 1998 fast schon wieder ausgeglichen ist (49 Prozent).
Auch wenn ein Großteil der Besitzenden eher im Angestelltenbereich
als bei den Arbeitern zu finden sein wird, verdeutlichen diese Zahlen, dass
mindestens die Hälfte der abhängig Beschäftigten mehr zu verlieren
hat als nur die berühmten Ketten.
Die Option auf oder der Besitz von Immobilien hat sicherlich bei vielen Klassenangehörigen
zu einer Identifizierung mit dem kapitalistischen System geführt. Das
Gleiche kann für das allgemeine Konsumverhalten gesagt werden. Heutzutage
ist es kaum noch vorstellbar, kein Handy zu besitzen, die neusten Klamotten
usw. Selbst bei Kindern ist der Konsumwunsch stark ausgeprägt. Zur Identitätsfindung
zählt nicht mehr die Persönlichkeit, sondern der Besitz. Um den
Drang nach Konsum zu befriedigen, verfallen viele auf die Idee, Schulden
aufzunehmen. So befinden sich die Überschuldungsfälle auf einem
konstant hohen Niveau, 1989 bei 1,2 Millionen Fällen, 1998 bei 1,9 Millionen
(West) und 0,89 Millionen (Ost). Die Schulden, bei denen noch eine Hoffnung
auf Abbau besteht, sind hierbei noch gar nicht erfasst.
Der Anstieg der Verschuldung konnte auch nicht mit der Steigerung der Einkommen
aufgefangen werden. Diese haben sich seit Ende der sechziger Jahre stark
erhöht. So lag die Armutsgrenze noch 1973 bei 589 Mark. Nur zehn Jahre
später hatte sich diese Grenze schon fast verdoppelt auf 1054 Mark und
stieg danach im Westen weiter bis 1998 auf 1754 Mark monatlich. Bei Löhnen
und Gehältern ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten. Hier stiegen
die Einkommen durchschnittlich von 981 Mark im Jahr 1973 auf 2924 Mark im
Jahr 1998 – nominal versteht sich, denn real, also in Bezug auf den Anstieg
der Preise, sind die Einkommen nur von 2039,50 Mark auf 2808,84 Mark gestiegen.
(
siehe Tabelle I.4).
Interessant an der Entwicklung der Einkommen ist die zeitlich etwas versetzte
Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die ansonsten aber recht parallel verläuft.
So waren 1973 grade mal 1,2 Prozent der Erwerbspersonen oder wenige Hunderttausend
ohne Arbeit, aber schon 1975 wird die Eine-Million-Marke überschritten.
Nach einem leichten Abschwung 1980 mit 3,8 Prozent auf ca. 900 000 schnellt
bis 1983 die Arbeitslosenzahl auf 9,1 Prozent hoch und überschreitet
1985 die Zwei-Millionen-Marke. Mit der Wiedervereinigung erlebt der Westen
noch einmal einen Boom, aber schon 1997 sind im Jahresdurchschnitt drei Millionen
arbeitslos, aktuell sind es 4,5 Millionen. Die offizielle Statistik geht
dabei vor allem von den beiden Ölkrisen der siebziger Jahre als Verursacher
der Arbeitslosigkeit aus. Nicht berücksichtigt werden hierbei aber der
zunehmende Grad der Technologisierung der Produktion, der ganze Belegschaften
überflüssig macht, und vor allem aber, dass ab Mitte der siebziger
Jahre eine starke Auslagerung von Produktionsstätten vor allem nach
Spanien und Portugal stattfand. In Italien wurde diese Auslagerung sogar
von Kapitalistenseite mit der hohen Kampfbereitschaft des Proletariats begründet.
Für die BRD kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Steigerung
der Löhne oberflächig zwar akzeptiert wurde, gleichzeitig jedoch
mit der Verlagerung der Produktionsstätten versucht wurde, die Lohnentwicklung
aufzuhalten und einen Teil der Beschäftigten einfach zu entlassen. Wie
weit sich der Produktionssektor mittlerweile europäisiert hat, zeigt
sich jedenfalls an den Fernfahrerstreiks in Frankreich, bei denen regelmäßig
die Endfertigung in Deutschland zusammenbricht.
Mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit hat auch die Langzeitarbeitslosigkeit
stark zugenommen. Diese war 1973 praktisch kaum vorhanden und lag gerade
mal bei 0,1 Prozent aller Erwerbspersonen. Aber schon 1980 hat sich ihre
Anzahl mehr als versechsfacht auf nun 106 000. Nach der Wiedervereinigung
sind es 1992 im Westen 474 000, im Osten 271 000. Zum Ende der neunziger
Jahre wird schließlich die Millionengrenze locker überschritten,
allein im Westen leben nun schon 1,032 Millionen Langzeitarbeitslose, im
Osten kommen noch mal 424 000 hinzu. Über ein Drittel aller Arbeitslosen
ist nun schon längere Zeit ohne Job und bezieht höchstens eine
Arbeitslosenhilfe. Seltsamerweise wird die Höhe der Arbeitslosenhilfe
statistisch nicht erfasst, allerdings liegen für das Jahr 1997 Angaben
zum Einkommen der Haushalte vor, in denen zumindest ein Mensch lebt, der
Arbeitslosenhilfe bekommt. Hier zeigt sich, dass knappe 18 Prozent dieser
Haushalte von weniger als 1000 Mark leben mussten, mehr als ein Drittel verfügte
über ein Einkommen bis 1999 Mark. Weitere 30 Prozent dieser Haushalte
hatten sogar ein Nettoeinkommen bis zu 2999 Mark. Da die Arbeitslosenhilfe
im Zuge der so genannten Hartz-Pläne abgeschafft werden soll, wird die
soziale Lage dieser Haushalte sich rapide verschlechtern.
Im Durchschnitt ist jeder Arbeitslose 9,3 Monate ohne Job (
siehe Tabelle V.3).
Da die Arbeitslosenzahlen aber seit geraumer Zeit auf einem hohen Niveau
von über vier Millionen liegen, bedeutet das, das die Zahl der von Arbeitslosigkeit
Betroffenen weit höher liegen muss. Wahrscheinlich sind es zwölf
Millionen, die sich im Lauf von vier Jahren auf den Arbeitsämtern abwechseln.
Da die wenigsten Arbeitslosen nach dem Stempeln einen Job finden, bei dem
sie dasselbe Einkommen erhalten wie vor der Arbeitslosigkeit, zeigt sich,
dass die Entlassungen auch zum Lohndrücken eingesetzt werden. Hinzu
kommt die Vielzahl an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die als zweiter
und dritter Arbeitsmarkt gehandelt werden und wo von vornherein weniger Lohn
gezahlt wird. Neben dem Lohndrücken dient die Arbeitslosigkeit aber
auch dazu, ungarantierte, allerhöchstens auf zwei Jahre befristete
Arbeitsverhältnisse einzuführen. Diese Entwicklung hat in den neunziger
Jahren Ausmaße angenommen, so dass heute in Berlin beispielsweise weniger
als die Hälfte aller abhängig Beschäftigten über einen
normalen tariflich abgesicherten und garantierten Arbeitsplatz verfügt.
Neben der Arbeitslosenhilfe ist die Sozialhilfe zu einer wichtigen Erwerbsquelle
für viele Abhängige geworden. Waren es 1973 etwa 600 000, die Sozialhilfe
bekamen, sind es heute 2,5 Millionen, das sind 3,5 Prozent der Bevölkerung
(
siehe Grafik II.1).
Allein 1,1 Millionen Kinder erhalten in diesem Land Sozialhilfe oder 6,8
Prozent aller Unter-18-Jährigen. Während 3,2 Prozent aller Männer
Sozialhilfe bekommen, sind es bei den Frauen 3,8 Prozent. Deutsche erhalten
zu 3,0 Prozent diese Hilfe, Immigrierte zu 9,1 Prozent, von denen ein Großteil
wiederum wegen der Asylgesetzgebung nicht mal den vollständigen Satz
eines Deutschen bekommt (
siehe Grafiken II.3
und II.4).
Die Einkommensverhältnisse haben natürlich Konsequenzen für
das Bildungsniveau der Kinder. Eine Untersuchung 14-jähriger Schülerinnen
und Schüler im Zeitraum von 1986 bis 1996 brachte zu Tage, dass die
Kinder von Arbeiterinnen und Arbeitern ähnliche Schultypen besuchten
wie die Kinder von Erwerbslosen. Mehr als die Hälfte ging zur Hauptschule,
nicht einmal 30 Prozent machten ihren Abschluss an einer Realschule, aber
gerade mal etwas mehr als jeder Sechste versuchte den Abschluss an einem
Gymnasium.
Demgegenüber waren Angestelltenkinder fast zur Hälfte auf einem
Gymnasium, über ein Drittel besuchte eine Realschule, und nur jeder
Sechste ging zur Hauptschule. Auch die Kinder von Selbstständigen wiesen
eine ähnliche Verteilung auf, wenngleich hier noch jedes vierte Kind
die Hauptschule besuchte, die Realschule aber im gleichen Umfang wie bei
Arbeiterkindern frequentiert wurde. Die Kinder von Beamten aber sprengen
jeden möglichen Vergleich: Hier ist nicht einmal jedes zehnte Kind auf
der Hauptschule zu finden, etwas mehr als jedes sechste Kind geht in die
Realschule, aber drei von vier Beamtenkindern gehen wie selbstverständlich
aufs Gymnasium (
siehe
Grafik IV.1). Bei dieser ungleichen Schulausbildung zeigt sich natürlich,
dass die Studierenden nur zu etwa 13 Prozent Arbeiterkinder sind. Dieser
Prozentsatz ist im Westen seit Anfang der siebziger Jahre im Wesentlichen
unverändert geblieben. Allerdings zeigt sich, dass mit der sozialliberalen
Bildungsreform in den Siebzigern nun überwiegend Angestelltenkinder
an die Hochschulen drängen, deren Anteil sich von zunächst 34,6
Prozent (1973) auf fast 45 Prozent erhöht hat. (
siehe Grafik IV.3)
Dieser Anstieg ist der einzige Grund, warum der Anteil der Kinder von Selbstständigen
und Beamten an den Hochschulen gegenüber den siebziger Jahren leicht
abnahm. Mit der seit den achtziger Jahren registrierten Abnahme der Bafög-Förderung
wird sich die Ungleichheit der Ausbildung und damit der Berufsperspektiven
sicherlich nicht bekämpfen lassen. Im Gegenteil wird sie von Generation
zu Generation weitergegeben.
Kommen wir zum Abschluss noch zu einem letzten Aspekt: der Gesundheitsversorgung.
Sowohl die von Rot-Grün eingesetzte Rürup-Kommission als auch die
Herzog-Kommission der Union wollen das bisherige Gesundheitssystem derart
beschränken, dass in Zukunft nur noch Reiche von einer wirklichen Gesundheitsversorgung
sprechen werden können. Die aufgezwungene Selbstbeteiligung wird in
einem Ausmaß ausgeweitet, dass viele sich keine umfassende Versorgung
mehr leisten können. Dies wird – analog zu einigen EU-Ländern –
dazu führen, dass Reichtum und Armut schon am Gebiss zu unterscheiden
sein werden. Die Kostenexplosion wird dabei nicht durch eine Begrenzung der
Gewinne der Pharmafirmen erreicht, die wie eine regelrechte Mafia durch Bestechung
seit Jahrzehnten schon die teuersten Medikamente Ärzten und Kliniken
verkaufen, sondern mithilfe der Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung
von der Versorgung. Bei Ärzten und Pharmafirmen scheint dabei die Berechnung
zu bestehen, dass der Anteil an Reichen derart hoch bleiben wird, dass Gewinne
noch zur Genüge eingefahren werden können.
Was ist zu tun?
Mit den postulierten Streichungen à la Hartz und Rürup wird die
soziale Schere noch weiter auseinander gehen. Die Herrschenden sind anscheinend
der Meinung, dass eine Armutsgrenze bei 1672 Mark auf einem derart hohen
Stand ist, dass hier locker mal gekürzt werden kann (
siehe Tabelle I.2 und I.3). Selbstverständlich
gilt das auch für die hohen Löhne in garantierten Arbeitsverhältnissen.
Wenn VW zum Beispiel nun beginnt, die Belegschaft in befristeten und oft
auch ausgeliehenen Arbeitsverhältnissen zu organisieren, zeigt dies,
dass die Konsumfähigkeit großer Teile der Bevölkerung eingeschränkt
werden soll. Dass diese Einschränkung nicht ohne Protest durchgesetzt
werden kann, ist auch schon im Hartz-Konzept dargestellt. Natürlich
wird jeder Überbau mobilisiert, um einen möglichen Protest einzugrenzen
oder, wie zu Beginn der neunziger Jahre in der ehemaligen DDR schon geschehen,
auf Minderheiten umzulenken. Bereits heute trägt die Hetze gegen vermeintliche
Sozialamtsbetrüger rassistische Züge. Ein Bild, das mit der Berichterstattung
über "kriminelle Ausländer" noch verstärkt wird. Wenn die
radikale Linke ähnlich lethargisch agiert wie bei der Zerschlagung der
Wirtschaftsstrukturen der DDR, wird sich wie in den neunziger Jahren eine
Welle des rechtsradikalen Mobs über das Land ergießen.
Wenn die radikale Linke auf diesem Feld aktiv wird, begibt sie sich allerdings
auf eine Gratwanderung, da die aus der Einschränkung der Konsumfähigkeit
sich entwickelnde Wut natürlich auch egoistische Züge trägt.
Allerdings erzeugt diese Wut auch eine Sensibilisierung, die die Linke nutzen
kann, um die Wut auf die richtige Adresse umzulenken. Dabei kann die Linke
auf den hohen Entwicklungsgrad dieser Gesellschaft zurückgreifen, denn
die dereinst wahrscheinlich als goldene Jahrzehnte in die Geschichte eingehenden
30 Jahre seit 1970 haben bei vielen ein hohes Bildungsniveau und – damit
verbunden – auch einen hohen Bewusstseinsgrad erzeugt. Viele, die jetzt ausgegrenzt
werden sollen, besitzen ein Potenzial, das sie befähigt, die gesellschaftlichen
Zusammenhänge zu erkennen. Solange aber die Studierenden beispielsweise
nur streiken, um Studiengebühren abzuwenden, nicht aber beginnen, ihr
erlangtes Wissen den Unterprivilegierten zu vermitteln, wird sich an den
herrschenden Zuständen wenig ändern.
Darüber hinaus muss die Linke aber auch fähig sein, sich von alten
Dogmen zu trennen. Dazu gehört sicherlich auch die Fixierung auf das
Industrieproletariat. In dieser entwickelten Gesellschaft finden sich heute
gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die tariflich abgesichert sind und
über ein derart hohes Einkommen verfügen, dass ihr Interesse an
einer Systemveränderung nur minimal ist. Gleichzeitig aber finden sich
Selbstständige, die in einer Art Selbstausbeutung ständig in der
Gefahr leben, ihre Existenz nicht mehr genügend absichern zu können.
Es ist daher mehr denn je notwendig, nicht nur die Stellung im Produktionsprozess
zu berücksichtigen, sondern auch die Privilegierung, in der ein Mensch
lebt. Und dies betrifft sowohl das Proletariat als auch um ihre Emanzipation
kämpfende Frauen. Wir werden jedenfalls weder den abgesicherten Betriebsrat
von Siemens noch eine Angela Merkel von unseren Positionen überzeugen,
denn beide bieten allenfalls egoistische Lösungen an. Auf die unterschiedlichen
Unterdrückungsverhältnisse einzugehen bedeutet freilich aber nicht,
auf eine antikapitalistische Kritik zu verzichten. Denn schließlich
sind es – wie oben schon erwähnt – kapitalistische Verhältnisse,
die die Geschicke jedes Menschen hier bestimmen und nicht rassistische oder
patriarchale. Diese sind Ideologien, die der Kapitalismus heutzutage benutzt,
um seine Herrschaft abzusichern. Die radikale Linke muss lernen, zwischen
der Funktionsweise dieses Systems und seiner Vielzahl an Unterdrückungsverhältnissen
zu unterscheiden. Die einzelnen Unterdrückungsverhältnisse brauchen
dabei nicht in Konkurrenz zueinander gestellt werden.
Wie falsch die Fixierung auf das Industrieproletariat darüber hinaus
ist, zeigt sich schon allein an den Ereignissen zum Ende der DDR. Das Proletariat
in der DDR war der ständigen Verlautbarungen vermeintlicher Verbesserungen
müde und entschied sich, wenn es schon ausgebeutet wird, dann doch für
das Original, das bis zur Wende einen höheren Lebensstandard versprach.
Dass dieser Lebensstandard viel mit der Existenz des Systemkonkurrenten zu
tun hatte, erkannte das Proletariat nicht. Umso verwunderter ist es heute,
wenn dieser Standard gesenkt wird. Bei dieser Sicht wird allerdings vergessen,
dass dieser Standard nie für alle Arbeitenden gegolten hat, das Elend
in den Minen, den Schuhfabriken und auf den Plantagen der Dritten Welt macht
dies überdeutlich. Um egoistischen Lösungen wie dem Nationalismus
vorzubeugen, muss die Linke daher immer auch die internationalen Verhältnisse
berücksichtigen. Die Geschichte hat zudem gezeigt, dass es einer kommunistischen
Linken kaum gelingt, in den Betrieben ihre Agitation entfalten zu können.
Sofort steht das Kapital bereit, die Entlassung einer Kommunistin oder eines
Kommunisten durchzuführen, sobald die Agitation nicht nur auf die Lohnentwicklung
beschränkt wird. Die meisten sozialdemokratischen Betriebsräte
haben diese Entlassungen bis jetzt immer noch unterstützt. Zudem sind
aus den Siebzigern noch die Berufsverbote bekannt, die zumindest in Form
von Schwarzen Listen immer noch weitergeführt werden. Da mit den ungarantierten
Arbeitsverhältnissen aber sowieso der Organisationsgrad der Arbeitenden
weiter abnehmen wird, sollte sich die Linke vor allem auf die Stadtteile
konzentrieren, denn hier sind alle Unterdrückten, ob zurzeit arbeitslos
oder nicht, ob mit oder ohne deutschen Pass, Frau und Mann, anzutreffen.
Hier ist es möglich, in einer Art proletarischen Selbsthilfe beispielsweise
die Bildungsmisere zu bekämpfen, wobei gleichzeitig auch erklärt
werden kann, warum sie existiert. Ähnlich agierte die Black Panther
Party in den USA, die in den Ghettos neben der Müllabfuhr auch eine
Frühstücksspeisung anbot und damit das Vertrauen der Unterdrückten
gewann. Diese Stadtteilstrukturen ermöglichen es auch, mit der Zeit
eigene Überbauten aufzubauen, um den Alltag solidarisch zu gestalten.
Die radikale Linke hat hierzu einen wahrhaft reichhaltigen Schatz an Erfahrungen
anzubieten, der nur gehoben werden braucht. Erinnert sei an dieser Stelle
nur an die Roten Märkte im neapolitanischen Montesanto oder aber die
verschiedenen Kulturgruppen, die bei einer Bündelung, auch auf die gesamte
Gesellschaft ausstrahlen können. Mit "Rock gegen rechts" hat das
früher zumindest schon mal ganz gut geklappt. Schließlich erlauben
diese Stadtteilstrukturen auch, eigene “Schützengräben” aufzubauen,
mit denen die kapitalistische Burg belagert werden kann.