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Interview
mit Monika
Berberich |
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Interview mit Monika Berberich
Weshalb und vor welchem Hintergrund wurde
die Rote Armee Fraktion gegründet?
Die Aufnahme des bewaffneten Kampfes und die Gründung der Organisationen,
die ihn geführt und vorangetrieben haben wie die Rote Armee Fraktion,
sind nur aus der Geschichte der BRD und der Rolle, die sie als imperialistischer
Staat in Europa hatte, zu erklären und zu verstehen. Deshalb will ich
den konkreteren Fragen und Antworten einen kurzen historischen Abriss voranstellen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Deutschland angezettelt und verloren hatte,
wurde in den drei westlichen Besatzungszonen 1949 die BRD gegründet.
Als Antwort darauf erfolgte im gleichen Jahr in der sowjetischen Besatzungszone
die Gründung der DDR. Mehrere Vorschläge der Sowjetunion, Deutschland
als neutrales Land (wie Österreich) wieder zu vereinigen, wurden von
der BRD-Regierung abgelehnt. Die CDU, die unter Bundeskanzler Konrad Adenauer
die ersten Regierungen stellte, setzte voll auf die Integration in den Westen.
1949 wurde die Nato gegründet, und schon um diese Zeit begannen Überlegungen
und konkrete Vorbereitungen zur Schaffung einer neuen westdeutschen Armee,
die 1956 die Gründung der Bundeswehr und die verfassungsmäßige
Verankerung der allgemeinen Wehrpflicht zur Folge hatten. Schon seit 1955
war die BRD Mitglied der Nato, der sie die Bundeswehr dann unterstellte.
Von Anfang an bauten die USA, die als einzige der westlichen Mächte
durch den Krieg gestärkt worden waren, die BRD als "Frontstaat gegen
den Kommunismus" und Westberlin als "Schaufenster der freien Welt" auf. Der
Antikommunismus, der während des Faschismus in der Bevölkerung
mobilisiert und geschürt worden war, wurde in der BRD bruchlos übernommen.
Dafür war die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit
des Landes kontraproduktiv. Zwar gab es die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse,
die von den Siegermächten durchgeführt wurden und für einige
Funktionsträger des faschistischen Regimes mit der Todesstrafe oder
langen Haftstrafen endeten, doch schon 1948 begann juristisch und praktisch
die Amnestierung: Ehemalige Mitglieder der NSDAP wurden wieder Beamte in
allen staatlichen Organen, wurden Richter, Geheimdienstmitarbeiter, hohe
Regierungsfunktionäre usw. Die Polizei wurde mit ehemaligen Gestapo-
und SS-Angehörigen wieder aufgebaut (so standen 1959 zum Beispiel von
den 33 Polizeipräsidien in Nordrhein-Westfalen 20 unter der Leitung
ehemaliger SS-Hauptsturmführer). Der Bundesnachrichtendienst (BND) ging
aus einem Geheimdienst der Wehrmacht hervor und baute Verfassungsschutz und
Militärischen Abschirmdienst auf. Wegen Zugehörigkeit zur NSDAP
entlassene Lehrer nahmen ihren Dienst wieder auf, und nicht ein einziger
Richter wurde wegen seiner "Rechtsprechung" während des Nationalsozialismus
rechtskräftig verurteilt. Inhaftierte Funktionsträger des NS-Regimes
wurden vorzeitig entlassen.
Die Politik der BRD im Innern war auf Restauration der alten rechten Verhältnisse
gerichtet. Die Industrie wurde wieder auf- und zur stärksten Westeuropas
ausgebaut. Die USA leisteten dabei durch Kredite, Investitionen u.ä.
Hilfe. Dadurch und durch die Abhängigkeit der BRD von Produktionstechniken,
Lizenzen und Patenten behielten die USA das Land auch wirtschaftlich unter
Kontrolle.
Als ab Mitte der sechziger Jahre vor allem Studenten, andere Hochschulangehörige,
Schüler, Lehrlinge und junge Arbeiter auf die Straße gingen, hatte
dies neben der allgemeinen Rezession, die weltweit eine Krise der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse bedeutete, auch in der BRD noch besondere Gründe:
der Kampf gegen staatliche Reglementierungen und Eingriffe in die Autonomie
der Hochschulen und Universitäten, der Protest gegen die Notstandsgesetze,
die fehlende parlamentarische Opposition, die Kontinuität der politischen
und wirtschaftlichen Verhältnisse nach dem Faschismus und vor allem
der Vietnamkrieg und das Engagement der BRD für die Kriegspartei USA.
Der wegen "kommunistische Unterwanderung" aus der SPD ausgeschlossene Sozialistische
Deutsche Studentenbund (SDS) wurde dabei zu einer immer einflussreicheren
Gruppierung. Dort wurden viele Themen marxistischer Theorie diskutiert, und
man suchte nach Wegen, sich aktiv mit den antikolonialistischen und antiimperialistischen
Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zu solidarisieren.
Anfang der sechziger Jahre gab es ein relativ breites Bündnis aus Studenten,
Hochschullehrern und anderen Intellektuellen gegen die so genannten Notstandsgesetze,
die den Einsatz der Bundeswehr im Innern gegen Streiks u.ä. und eine
wesentliche Einschränkung der Grundrechte im Falle eines "Notstandes"
vorsahen. Der Bevölkerung wurden diese Gesetze damit schmackhaft gemacht,
dass sie alliierte Vorbehaltsrechte ablösen und zur vollständigen
Souveränität der BRD führen sollten. Ihren Höhepunkt
erreichte die Bewegung gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968 mit einem Sternmarsch
in Bonn, an dem über 30 000 Menschen teilnahmen. Die Gesetze wurden
trotz aller Proteste beschlossen. Weil seit 1966 eine "große Koalition"
aus CDU und SPD an der Regierung war, gab es keine nennenswerte parlamentarische
Opposition mehr; deshalb wurde zur Gründung einer Außerparlamentarischen
Opposition (APO) aufgerufen. In dieser Opposition spielte der Vietnamkrieg
eine wichtige Rolle. In Vietnam versuchten die USA, einem Volk gegenüber,
das für seine Freiheit und Unabhängigkeit in einem ungeteilten
Land kämpfte, ihre Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen. Die USA
bombardierten vor allem die Infrastruktur des Landes und führten diesen
Krieg mit aller Brutalität; ihr Militär beging zahlreiche Kriegsverbrechen,
für die praktisch nie einer der Verantwortlichen bestraft wurde.
Auch das Territorium der BRD war in diesen Krieg involviert: Als logistisches
Hinterland für US-Basen, wo Flugeinsätze in Vietnam koordiniert
wurden, Maschinen zwischenlandeten, in Krankenhäusern verletzte GIs
behandelt wurden, die Soldaten sich erholten usw.
Ab Mitte der sechziger Jahre wurde dieser Krieg immer mehr zum Thema der
Diskussionen, des Protestes und des Widerstands innerhalb der oppositionellen
Bewegung. Der Krieg in Vietnam machte deutlich, dass ein armes Bauernvolk
einer Weltmacht wie den USA widerstehen konnte, und wurde zum Symbol des
antiimperialistischen Kampfes schlechthin.
Aus diesen verschiedenen Wurzeln speiste sich das, was man dann "Studentenbewegung",
"APO" oder die Bewegung der Neuen Linken nannte. Es war ein radikaler Bruch
von großen Teilen der jungen Generation, der Generation nach dem Faschismus,
mit den starren Verhältnissen der fünfziger und frühen sechziger
Jahren. Die Forderungen waren berechtigt und bewegten sich zunächst
völlig im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Die heftige Reaktion
von Politik und Medien radikalisierte die Bewegung aber zunehmend. Wendepunkt
war am 2. Juni 1967 die Demonstration gegen den Besuch der Schahs von Persien
in Berlin. Sie wurde von der Polizei niedergeknüppelt, der Student Benno
Ohnesorg starb durch eine Polizeikugel; der Schütze wurde von Politikern
gedeckt und nicht bestraft. Danach diskutierte man im SDS zum ersten Mal
über die Anwendung von Gegengewalt, denn es hatte sich gezeigt, dass
mit Demonstrationen und anderen Protestformen allein nichts zu erreichen
war. Eine breite Diskussion darüber begann, wie man an den Inhalten
der Protestbewegung festhalten könne. Verschiedene Organisationen wurden
gegründet, aus denen eine kommunistische Partei hervorgehen sollte.
Viele ihrer Mitglieder gingen in die Produktion, um vor Ort zu agitieren
und Arbeiter zu gewinnen. Viele andere setzten ihre Ausbildung fort und suchten
eine "revolutionäre Berufsperspektive" hauptsächlich in den sozialen
Berufen. Andere machten sich auf den "Weg durch die Institutionen", weil
sie glaubten, etwas verändern zu können, wenn sie erst an den Schalthebeln
der Macht säßen.
Aber auch die Diskussion über die Anwendung militärischer Mittel
wurde jetzt ziemlich breit geführt. In vielen Ländern der Dritten
Welt gab es Guerillabewegungen, die gegen eine Kolonialmacht oder ihre eigene
korrupte Bourgeoisie kämpften. In Kuba hatte die Guerilla 1959 gesiegt.
Die allgemeine Einschätzung war, dass der Imperialismus, wenn er überall
auf der Welt konsequent bekämpft würde, zu besiegen oder zumindest
immer weiter einzukreisen und zurückzudrängen wäre. Wegen
der Schwäche revolutionärer Kräfte und der territorialen Lage
kam für die BRD nur eine Stadtguerilla infrage. Vorbilder gab es in
Brasilien und Uruguay, wo die Guerilla mit einigem Erfolg in den Städten
agierte. Mit dem Rückgang der Bewegung insgesamt begann ein kleiner
Teil, sich als Stadtguerilla zu organisieren. Die Rote Armee Fraktion war
die erste und am längsten bestehende Organisation. Etwas später
kamen die Bewegung 2. Juni, die Revolutionären Zellen (RZ) und deren
Frauenorganisation Rote Zora hinzu. Daneben gab es eine Reihe weiterer Gruppen,
die aber unbedeutend blieben.
Das beleuchtet also ein wenig den Hintergrund, auf dem die RAF entstand.
Man darf sich die "Gründung" allerdings nicht vorstellen wie bei einem
Verein, mit konstituierender Sitzung o.ä.; die RAF entstand aus einem
ständigen Prozess des Diskutierens und Handelns von Menschen, die an
den Inhalten der Bewegung festhalten wollten und erfahren hatten, dass das
nur mit Reden oder Schreiben, und sei es noch so richtig, nicht möglich
war.
Aus welchen persönlichen Motiven hast Du den Kampf aufgenommen?
Nach dem 2. Juni 1967 habe ich mich immer mehr mit der Protestbewegung solidarisiert
und identifiziert. Ich war zwar nicht mehr an der Uni, kannte dort aber viele
Leute, von denen die meisten von den Polizeieinsätzen selbst betroffen
waren. Und je mehr ich mich auf die Seite der Protestierenden stellte, desto
mehr wurde ich auch zum Angriffsziel. Es gab damals eine unglaubliche Hetze
gegen die Studenten und alle anderen Protestierenden in den Medien, allen
voran der Springer-Presse, die den Berliner Zeitungsmarkt beherrschte. Ostern
1968, nach den Schüssen auf Rudi Dutschke am Karfreitag, erreichte die
Protestbewegung ihren vorläufigen Höhepunkt. Ich gehörte dem
Ermittlungsausschuss an, der die Berichte über die unzähligen Einkesselungen,
Festnahmen, Prügeleinsätze der Polizei mit zum Teil schwer verletzten
Demonstranten, die Misshandlungen der Festgenommenen usw. sammelte, auswertete
und dokumentierte. Auch danach gab es immer wieder Demonstrationen gegen
das Vorgehen von Polizei und Justiz, die die Polizei gewaltsam verhindern
wollte.
Mir ging es wie vielen anderen: Trotz der verschärften Repression erlebten
wir diese Zeit als Befreiung von den Betonverhältnissen der Nachkriegszeit
mit ihrer völligen Verdrängung des Nationalsozialismus, mit den
alten Werten und dem Konsum als neuem Lebensinhalt. Denn die Demonstrationen
waren nicht das Wesentliche: Es gab Analysen der politischen Entwicklung
und der gegenwärtigen Situation, die Dialektik wurde wieder entdeckt,
Theorien über Marxismus, Leninismus, Imperialismus, Sozialismus und
Kommunismus wurden diskutiert, verändert, neu aufgestellt oder verworfen,
man gebrauchte und etablierte neue Begriffe, arbeitete zu verschiedenen Ländern
usw. Innerhalb kurzer Zeit entstand für uns ein stark verändertes,
schlüssigeres und dem Vorgefundenen sehr viel eher entsprechendes Weltbild.
Wir fanden Antworten auf drängende Fragen, und auch wenn diese Antworten
aus heutiger Sicht vielleicht zu einfach und undifferenziert waren, so schienen
sie doch unendlich viel treffender als das, was man vorher wusste.
Nach all diesen hier nur sehr verkürzt dargestellten Erlebnissen und
Erfahrungen war es für mich einfach nicht mehr möglich, mit dem
Abflauen der Bewegung zu einer Art Normalität zurückzukehren. Ich
konnte mir eine "revolutionäre Berufsperspektive" nicht vorstellen (ich
hab Jura studiert) und noch viel weniger den "langen Marsch durch die Institutionen"
– beides hätte bedeutet, mich wieder in das Milieu zu begeben, dem ich
grade erst entronnen war. Dagegen hielt ich es für richtig, der Macht
des Staates durch Angriffe aus der Illegalität eine fundamentale Opposition
entgegenzusetzen und damit sowohl den Befreiungsbewegungen in der so genannten
Dritten Welt wie auch der nichtstaatlichen Opposition hier Luft zu
verschaffen. Der Schritt zum bewaffneten Kampf war, nicht nur für mich,
eine logische Konsequenz aus der bisherigen Entwicklung.
Heinrich Böll sprach mal vom "Krieg der 6 gegen 60 Millionen".
Wie stelltet Ihr euch vor, sollte dieser "Krieg" gewonnen werden, war es
überhaupt möglich, ihn zu gewinnen?
Es gab diesen "Krieg" nicht. Aus dem, was ich vorher gesagt hab, wird ja
schon deutlich, dass es nicht nur sechs oder meinetwegen auch 60 waren, sondern
sehr viel mehr Menschen, die den Versuch, "den staatlichen Herrschaftsapparat
an einzelnen Punkten zu destruieren, (. . .) den Mythos von der Allgegenwart
des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören" (Zitat aus der
ersten RAF-Zeitung), mit ihrer Hilfe oder Sympathie begleiteten: 1972, vor
der Festnahme der meisten damaligen RAF-Mitglieder, ergab eine Meinungsumfrage,
dass beinahe 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung eine strafrechtliche
Verfolgung in Kauf nehmen würde, um einen der Gesuchten für eine
Nacht zu verstecken. Und nach einer Schülerumfrage aus dem Jahr 1973
identifizierten sich 15 Prozent der Schüler mit den Aktionen der RAF.
Aber die Infamie von Bölls Äußerung ergibt sich vor allem
aus der Tatsache, dass sich der Kampf der RAF nicht gegen die Bevölkerung,
also die "60 Millionen" richtete, sondern gegen den Staat und seine Repräsentanten.
Schwer zu glauben, dass Böll das nicht wusste.
Grade auch im traditionellen kommunistischen Spektrum war schnell
die Rede von Agents provocateurs.
Es hat noch keine kämpfende soziale oder Befreiungsbewegung gegeben,
der nicht auch nachgesagt wurde, dass ihre Aktionen von Agents provocateurs
gesteuert würden. Das ist also ein alter Hut. Natürlich ruft ein
Angriff gegen den Staat oder seine Repräsentanten eine Reaktion des
Staates hervor, das ist immer und überall so. Aber an der Art, Schärfe
usw. dieser Reaktion kann man doch nicht messen, ob der Angriff legitim war,
auch nicht daran, dass ein Teil des "traditionellen kommunistischen Spektrums"
irgendwelche Agents provocateurs am Werk sieht. Entscheidend sind Wirkung
und politisches Ziel des Angriffs. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass
alle Aktionen der RAF richtig waren. Es ist eine Sache, bestimmte Aktionen
politisch falsch zu finden und zu kritisieren, aber eine ganz andere, die
Urheberschaft einer solchen Aktion bei Polizei oder Geheimdiensten zu suchen,
weil diese Aktion von einigen Repräsentanten des Staates oder der Wirtschaft
ausgenutzt wird. Gerade erleben wir eine Neuauflage der These, der ehemalige
Sprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, sei von Leuten der eigenen
Seite umgebracht worden, weil er zu fortschrittlich gedacht habe. Das ist
allenfalls der Versuch, die RAF bzw. das, was von ihrer Spur vielleicht noch
übrig ist, zu diskreditieren, oder es ist nur die Wichtigtuerei eines
Einzelnen.
Ich könnte mir vorstellen, dass ihr dazu etwas Konkretes im Kopf habt
– aber dann fragt bitte auch danach. Mit diesen allgemeinen Aussagen kann
ich wenig anfangen.
Die Medien zeichneten ein bestimmtes Bild der bewaffneten Gruppen.
Konnte dieses Bild widerlegt werden?
Da gilt, was ich grad gesagt hab. Einfach: Es gab und gibt nicht die Medien,
so wenig wie die bewaffneten Gruppen. Die RAF zum Beispiel hat 28 Jahre lang
bestanden; in dieser Zeit war sie in ganz verschiedener Weise öffentlich
präsent. Es gab die verschiedenen Medien in der BRD, in der DDR, im
Ausland, sie waren politisch unterschiedlich ausgerichtet usw. usf.. Noch
mal: Fragt bitte konkret. Und: Meint Ihr nur die RAF oder auch die Gefangenen
aus der RAF, die ja nicht mehr Teil der Organisation waren?
Die Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzunehmen, schließt
ein, auch auf den Gegner zu schießen. Wie seid Ihr mit dieser Entscheidung
umgegangen, vor allem, wenn tatsächlich ein Mensch getötet wurde?
Ich kann nur über die Anfangszeit reden, denn ich bin schon im Oktober
1970, fünf Monate nachdem die RAF mit der Befreiung von Andreas Baader
zum ersten Mal öffentlich präsent war, verhaftet worden. Wir hatten
die Bestimmung, die Waffe nur im äußersten Notfall einzusetzen
zur Selbstverteidigung beziehungsweise, um eine Flucht zu ermöglichen,
und dann auch nicht gezielt tödlich zu schießen. Das damalige
Verhältnis der Gruppe zum Waffengebrauch mag folgendes Beispiel beleuchten:
Bei der Aktion zur Befreiung von Andreas sollten zunächst nur Frauen
beteiligt sein (aus praktischen Gründen, nicht ideologischen). Weil
der Plan aber vorsah, die Schließer, die Andreas bewachten und die
bewaffnet waren, durch Drohungen zum Stillhalten zu zwingen, tauchte die
Vermutung auf, dass die Schließer Widerstand leisten würden, weil
sie die Frauen nicht ernst nähmen. Dann hätten die Frauen schießen
müssen, um sich durchzusetzen, und das wollte man unbedingt vermeiden.
Deshalb wurde im letzten Augenblick ein Mann dazugenommen. Dass gerade dieser
Mann, ohne sich in einer Notlage zu befinden, auf einen Institutsangestellten
schießen und ihn schwer verletzen würde, war weder geplant noch
vorherzusehen. Der Schütze ist intern heftig kritisiert worden.
Diese restriktive Bestimmung des Waffengebrauchs ist aber nicht durchgehalten
und später aufgegeben worden. In den achtziger Jahren bestand die Strategie
der RAF fast nur noch darin, hochrangige Vertreter von Staat und Wirtschaft
zu töten. Diese Politik war in keiner Weise mehr emanzipatorisch und
hatte damit ihre Legitimation verloren. Die Frage, wieso das so kommen konnte
und wo der entscheidende Fehler lag, ist bis heute nicht wirklich beantwortet
worden. Ich denke, ob wir die richtige Antwort finden, wird darüber
entscheiden, ob man positive Schlüsse – und wenn ja, welche – trotz
des Scheiterns, nicht nur der RAF und der anderen bewaffneten Gruppen, sondern
der gesamten radikalen nichtstaatlichen Linken aus dem bewaffneten Kampf
ziehen kann.
[Was das Konkrete betrifft: Da müsstet ihr nach jedem einzelnen der
getöteten Gegner (Unbeteiligte gab es m.W. nur ein Mal) fragen. Ich
glaube aber nicht, dass hier der richtige Ort ist, um darüber zu reden.]
Nachdem die Lufthansa-Maschine "Landshut" entführt wurde,
kam es auch zu Kundgebungen, bei denen zur Liquidierung der politischen Gefangenen
aufgerufen wurde. Was hatte sich geändert und warum?
Zur Beantwortung dieser Fragen müsste ich ein ganzes Buch schreiben.
Macht es doch bitte etwas genauer und konkreter.
Wie bewertest Du die Nacht in Stammheim?
Vermutlich meint Ihr die Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977, nach der
Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot und Irmgard Möller
schwer verletzt gefunden wurden; umstritten ist aber auch die Nacht vom 8.
auf den 9. Mai 1976, nach der Ulrike Meinhof in ihrer Zelle erhängt
aufgefunden wurde. Ich sehe beides, sowohl Ulrikes Tod wie auch den der drei
anderen Gefangenen in Stammheim, als vollkommene Niederlage nicht nur für
die bewaffneten Gruppen, sondern für die gesamte radikale Linke – unabhängig
davon, was wirklich in jenen Nächten in Stammheim passiert ist. Denn
am nächsten Morgen waren die GenossInnen tot, die für die Weiterführung
unseres Kampfes enorm wichtig waren, 1977 hat der Staat nach der Erstürmung
der "Landshut" triumphiert. Der Tod der Gefangenen hat diesen Triumph zwar
geschmälert, aber gemessen am Erfolg der staatlichen Stellen war das
nicht wirklich relevant. Ich denke, das haben wir uns damals zu wenig bewusst
gemacht, obwohl wir es, glaub ich, alle gespürt haben; stattdessen haben
wir uns endlos darüber gestritten, ob es Mord oder Selbstmord war. Natürlich
ist diese Frage auch wichtig, aber sie ändert nichts am Ergebnis, dass
die GenossInnen tot waren.
Wahrscheinlich wollt Ihr trotzdem wissen, wie ich darüber denke. Nun,
niemand von uns weiß, was wirklich passiert ist, außer Irmgard
Möller, die diese Nacht schwer verletzt überlebt hat und sagt,
es hätte die vom Staat behauptete Verabredung und Durchführung
einer Selbsttötung nicht gegeben. Einige ehemalige Gefangene aus der
RAF und etliche andere GenossInnen glauben ihr aber nicht, u.a. weil sie
bestreitet, dass Waffen und Sprengstoff im 7. Stock waren – dass sie aber
da waren, halte ich inzwischen für erwiesen. Viele GenossInnen meinen
auch weiterhin, dass die Gefangenen von einer staatlichen oder staatlich
gedeckten Stelle getötet wurden. Ich gehöre zu Letzteren. Ich halte
es für sehr fraglich, ob die Gefangenen durch die Verlegungen nach der
Schleyer-Entführung überhaupt Zugang zu den Waffen hatten. Und
ich bin sicher, dass staatliche Stellen sowohl durch Abhören der Gefangenen
wie durch Kronzeugenaussagen von der Existenz der Waffen wussten. Es gibt
eine ganze Reihe kriminalistischer Feststellungen und Hinweise, die für
Mord sprechen. Daraus allein kann man m.E. zwar die Mordthese nicht begründen,
ich nehme sie aber als wichtige Indizien.
Gegen die Mordthese gibt es zwei gewichtige Argumente: zum einen, dass die
Ermordung der Gefangenen aus der Sicht des Staates für ihn eine irrationale
Aktion gewesen wäre, weil er sich mit dem glimpflichen Ausgang des Sturms
auf die "Landshut" behauptet und ein breites gesellschaftliches Bündnis
hergestellt habe, das er mit der Ermordung der Gefangenen gesprengt hätte,
ohne aus diesem Tod zusätzlich Gewinn zu ziehen.
Gegen diese These spricht aber, dass die Gefangenen in Stammheim mit der
erfolgreichen Stürmung der "Landshut" zwar eine heftige Niederlage erlitten
hatten, trotzdem eine ständige Beunruhigung für den Staat blieben,
der davon ausging, dass er, solange es diese Gefangenen gab, immer wieder
mit Befreiungsversuchen rechnen musste. Eine Liquidierung der Gefangenen
hätte der damalige Bundeskanzler Schmidt in "normalen Zeiten" politisch
nicht überlebt. Das war nur mit der großen Zustimmung zur Befreiung
der Geiseln in der "Landshut" möglich, auch wenn durch den Tod der Gefangenen
der staatliche Erfolg geschmälert wurde. Und wenn der Tod der Gefangenen
dem Staat tatsächlich ungelegen kam, dann fragt man sich natürlich,
warum er ihn nicht verhindert hat – die Gefangenen sind bei weit geringeren
Anlässen abgehört worden, also mit Sicherheit auch während
Schleyers Entführung. Staatliche Stellen wussten von den Waffen, sie
wussten auch, ob die Gefangenen an sie rankamen. Warum haben sie dann eine
Selbsttötung nicht verhindert?
Das zweite Argument für eine Selbsttötung ist vielleicht noch gewichtiger:
dass die Gefangenen nicht als Opfer in der Ecke sitzen und abwarten, sondern
bis zum Schluss als Subjekte handeln und über sich selbst bestimmen
wollten. Sie hatten ja auch gegenüber staatlichen Vertretern geäußert,
dass sie dem Staat die Entscheidung aus der Hand nehmen würden, wenn
er weiterhin eine Entscheidung über die Forderungen der Schleyer-Entführer
hinauszögere, was man durchaus als Ankündigung ihrer Selbsttötung
verstehen kann.
Dagegen spricht allerdings, dass sie mit dieser Äußerung eine
Entscheidung der Regierung herbeiführen wollten – als sie starben, war
diese Entscheidung aber schon gefallen. Und in meinen Augen widerspricht
es sich vollkommen, dass man einerseits als Subjekt handeln will, andererseits
aber nach außen vermittelt, man sei doch Opfer des Staates, indem man
bei der Selbsttötung den Eindruck von Mord entstehen lässt. Und
das war ja der Fall. Man kann natürlich argumentieren, mit ihrer wie
Mord aussehenden Selbsttötung hätten die Gefangenen dem Staat noch
ein letztes Mal angegriffen, indem sie das Bild des Rechtsstaats zerstörten
und die Welle von Protest- und Widerstandsaktionen auslösten, die es
national und vor allem international ja gegeben hat. Das wäre m.E. aber
total verantwortungslos gewesen, weil sich die Gefangenen mit ihrem Tod selbst
jede Möglichkeit genommen hätten, sich zu diesen Aktionen in irgendeiner
Weise zu verhalten. Das wäre ein völliger Bruch mit der bisherigen
Politik der RAF gewesen.
Gut, das ist meine Position, aber ich akzeptiere auch, wenn jemand von Selbsttötung
ausgeht. Denn ich bin sicher, dass sich nichts an der heutigen Misere der
radikalen Linken ändern würde, wenn wir wüssten, was sich
damals in Stammheim abgespielt hat. Es hätte auch damals nichts wirklich
geändert. Wenn sich heute GenossInnen immer noch in die Haare geraten
wegen Mord oder Selbstmord, ist das m.E. ein Symptom der Niederlage, ein
Zeichen für die Schwäche der jeweiligen Politik: Man sieht die
eigene politische Position bedroht. Das will ich hier aber nicht weiter ausführen.
Als Du gefangen genommen wurdest: Wie verhielten sich die sozialen
Gefangenen?
Das kann ich nicht sagen, weil ich die ersten Jahre fast nur isoliert wurde.
Mittlerweile sind 25 Jahre seit dem Tod der Stammheimer Gefangenen
vergangen. Vom Theaterstück bis aktuell zum Spielfilm gibt es eine Vielzahl
von Veröffentlichungen, die sich mit dem bewaffneten Kampf befassen.
Wie siehst Du diesen "Boom"?
Mit sehr gemischten Gefühlen, eher negativ. Die meisten Veröffentlichungen
setzen sich ja nicht ernsthaft mit bewaffneter Politik auseinander. Der 25.
Jahrestag der tödlichen Nacht in Stammheim im Jahr 2002 spielt sicher
eine große Rolle. Manche Autoren (-innen kenn ich bisher keine) wollen
einfach nur Geld verdienen, andere haben es vielleicht "gut gemeint" (also
schlecht gemacht) oder sie befriedigen mehr ihre Eitelkeit, als dass sie
zu notwendigen Diskussionen beitragen würden. Deutlich wird an dem "Boom"
jedenfalls, dass die RAF in der deutschen Wirklichkeit noch keineswegs ein
"erledigtes Kapitel" ist, auch wenn es von offiziellen Stellen häufig
suggeriert wird. Allein die Tatsache, dass es immer noch fünf Gefangene
aus der RAF gibt, die zum Teil seit über 20 Jahren im Knast sind, zeigt
das schon. Diese Gefangenen, es sind Rolf Clemens Wagner, Brigitte Mohnhaupt,
Christian Klar, Eva Haule und Birgit Hogefeld, müssten aus allen erdenklichen
Gründen – politischen, juristischen und humanitären – längst
frei sein. Ich möchte an dieser Stelle auf das Heft der Roten Hilfe
verweisen "Freilassung der politischen Gefangenen aus der RAF", in dem diese
Gründe ausführlich dargestellt und erläutert werden.
Nach der Annexion der DDR wurde bekannt, dass das MfS über
Kontakte zu den bewaffneten Gruppen verfügte. Wie siehst Du das?
Na und? Wesentlich ist doch nicht, zu wem man Kontakte hat, sondern welchen
und ob man die eigene Politik dadurch irgendwie beeinflussen lässt.
Davon hab ich nichts gehört.
In den neunziger Jahre wurdest Du aus dem Knast entlassen. Was
hat sich für Dich verändert?
Das aufzuschreiben gäbe noch ein Buch.
Gibt es noch eine Perspektive für die Linke?
Die Frage müsst Ihr schon selbst beantworten.
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