O Nacht
O Nacht der Liebe, die Dichter und Sänger beflügelt,
o Nacht der Phantome, der Geister und Schatten,
o Nacht des Verlangens, des Hoffens und Wissens!
Du bist wie ein Riese, der abends die Wolken vertreibt
und über die Röte des Morgens ragt.
Du bist mit dem Schwert der Angst bewaffnet,
des Mondes Strahlen krönen dich,
du wirst von Ruhe und Ordnung umhüllt.
Mit tausend Augen durchdringst du die tiefe des Lebens,
Mit tausend Ohren hörst du des Todes
ind Nicht-Seins Gejammer.
Das Licht des Himmels scheint durch dein Dunkel,
denn Tag ist ein Licht, das mit
der Erde Dunkelheit uns erdrückt.
Du öffnest unsre Augen in Ehrfurcht vor der Ewigkeit
und gibst uns Hoffnung,
denn der Tag ist eine Täuschung, die uns
durch Maß und Menge blind sein läßt.
Du bist vollkommene Stille und enthüllest die Geheimnisse
der Geister, die im Himmel wachen.
Der Tag ist nur ein Aufruhr, der die Seelen rüttelt,
so daß
sie zwischen Sinn-und Wundervollem schweben.
Du bist Gerechtigkeit, die an den Ort des Schlummers die
Träume der Geschwächten bringt, auf daß sie sich vereinen
mit der Hoffnung auf die Kraft.
Ein gnäd`ger Herrscher bist du, der mit Zauberhänden
die Augen der Betrübten schließt
und ihre müden Herzen in freundlichere Reiche führt.
Der Geist der Liebe findet Zuflucht
in den Falten deines Kleides;
Und auf deine taubenetzten Füße gießen
Verlass`ne und Verlor`ne ihre Träen.
In deiner flachen Hand, in der der Duft
der Täler liegt, findet der Fremdling Linderung
für sein Verlangen.
Die Liebenden begleitest du, schenkst den betrübten Trost.
Du schützt den Fremden und auch den Verlass`nen.
In deinem Schatten ruht des Dichters Sinnen
und wacht das Herz der Seher auf.
Und unter deiner Krone nimmt
des Denkers Weisheit Formen an.
Du regst die Dichter an, und den Propheten schenkst du
Offenbarungen; du lehrst die Philosophen.
Wenn meine Seele die Menschen nicht mehr ertragen kann
und meine Augen den Tag nicht sehen wollen,
geh`ich dorthin, wo die schweigenden Schatten
vergangner Zeiten ruhen.
Da halte ich vor einer düsteren Versammlng inne,
die tausendfüßig auf die Erde tritt
und sie erzittern läßt.
Da blicke ich den Schatten in die Augen
und vernehme das Rauschen unsichtbarer Schwingen;
ich fühle
den sanften Schwung des dichten Kleides der Stille und bleibe
standhaft vor den Schrecken schwarzen Dunkels.
Da seh`ich doch, o Nacht, schrecklich und schön, wie du mit
Nebel dich umgibst und zwischen Erd`und
Himmel schwebst; und eine Wolke hüllt dich ein,
und du verlachst die Sonne, hast Spott nur für den Tag,
verhöhnst die Sklaven, die schlaflos ihren Göttern opfern.
Ich sehe, daß vor Zorn du auf gekrönte Häupter blickst, wie
sie in samt-und seid`nen Betten schlafen.
Ich sehe, wie Diebe vor deinem wachen Blicke fliehn und
wie die Kinder du im Schlaf bewachst.
Ich seh`dich über das gequälte Lachen einer Dirne weinen
und über Tränen von Verliebten lächeln.
Ich seh`, wie deine rechte Hand das Gute aufhebt und wie
dein Fuß das Böse in den Boden stampft.
Ich sehe dich und du siehst mich, o Nacht.
Trotz deiner Schrecklichkeit bist du mir wie ein Vater,
und ich
seh`mich in meinen Träumen als dein Sohn.
Der Wall des Argwohns zwischen uns
ist weggeräumt, und du enthüllst mir
deinen Plan und dein Geheimnis;
und ich eröffne dir mein Hoffen und mein Wünschen.
Dein Schrecken hat sich in ein Lied gewandelt,
das süßer als der Blumen Duft mein Herz erfüllt.
Die Angst ist verschwunden,
ich bin so ruhig wie die Vögel,
Du hobst mich empor und hälst mich im Arm,
du lehrtest mich sehen und hören
und meine Lippen das Sprechen.
Mein Herz vermag nun zu lieben,
was andere hassen,
und lernte zu hassen,
was andere lieben.
Mit sanfter Hand berührst du
die Gedanken; und mein Inn`res fließt
wie ein gewalt`ger Strom.
Mit heißen Lippen küßt du
meine Seele,
und einer Fackel gleich entflammst du sie.
Ich habe dich begleitet, Nacht, und folgte dir,
bis wir Verwandte wurden.
Ich liebte dich, bis daß mein Sein
ein Spiegelbild von deinem Wesen ward.
Ins dunkle Selbst haben die Gefühle
glitzernde Sterne gestreut,
den Zug der Träume erhellt ein Mond
in meinem Herzen.
In meiner Seele ohne Schlaf enthüllt die Stille
der Liebenden Geheimnis,
und das Gebet der Frommen gibt sie wie ein Echo wieder.
Mein Gesicht trägt eine Zaubermaske, die
von des Todes Qual zerissen und
von der Jugend Lied wiederbelebt wird.
In jeder Weise sind wir uns gleich, o Nacht.
Wird man mich für einen Prahler halten, wenn ich mich mit
dir vergleiche?
Prahlt der Mensch nicht auch damit, daß er dem Tage
ähnlich sei?
Ich bin wie du, o Nacht;
und wir sind beide angeklagt,
etwas zu sein, was wir nicht sind.
Ich bin wie du, auch wenn die Dämmerung mich nicht mit
ihren gold`nen Wolken krönt.
Ich bin wie du, auch wenn der Morgen nicht mein Kleid mit
ros`gen Strahlen ziert.
Ich bin wie du, auch wenn ich nicht
in der Galaxis treibe.
Ich bin die Nacht: unendlich, still.
Meinem Dunkel ist kein Anfang,
meiner Tiefe ist kein End!
Und wenn die Seelen dann
zum Licht der Freude streben,
hebt auch meine Seele sich empor,
verklärt vom Dunkel ihres Leids.
Ich bin wie du, o Nacht! Und wenn mein Morgen naht, hat
meine Zeit ein End.