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Nachtrag

 

6.  Der Todesbund Hardenbergs mit Hans Georg von Carlowitz.  Novalis als Staatsmann. — Novalis’ Tod

an kann wohl im allgemeinen von einer „Wertherstimmung” jenes Zeitalters sprechen.  Im besonderen aber war der Gedanke, der Mensch sei berechtigt, das Leben infolge einer unglücklichen Liebe selbstherrlich zu beenden, von Fr. Schlegel in Novalis gepflanzt und von diesem wieder auf Carlowitz übertragen worden (Sieh den auf S. 43 angeführten Brief Hardenbergs an Fr. Schlegel).  Novalis war nach seiner ganzen Geistesrichtung einem solchen Pleudostoizismus oder besser wohl Zynismus zugänglich, ganz besonders aber seit Sophiens Tode.  Er hatte schon bald danach zu Sophiens Gouvernante gesagt:  „Sei Sie ruhig, ich habe weder Dolch noch Gift, aber ich fühle, daß ich bald sterbe.” Den Satz Schillers:  „Es ist der Geist, der sich den Körper baut” abwandelnd, meinte er, daß der Geist, wenn er den Willen zum Tode habe, auch das körperliche Leben auslöschen könne.  Die ganz eigenartige Ausgestaltung, die Novalis der Ichlehre Fichtes gab, zum „magischen Ich”, das alles objektive Sein in subjektives Erleben auflöst (magischer Idealismus), führte zu so hochgespannten Vorstellungen von der Kraft der Persönlichkeit, daß er sagen konnte, die Welt erscheine ihm als Resultat einer Wechselwirkung zwischen ihm und der Gottheit, oder:  „Das Leben soll kein uns gegebenes, sondern ein von uns gemachtes sein”, oder:  „Die Lebenskunstlehre soll das System der Vorschriften werden, sich ein unabhängiges, selbstgemachtes, in meiner Gewalt stehendes Leben zu bereiten.”

Auch Carlowitz waren solche Gedanken nicht fremd.  Sie finden sich hier und da in seinen Briefen.  Schon sein Auftreten in Weimar in März 1798 zeigt einen Weg, wie sich ein gewolltes Ende des Lebens auch ohne eigentlichen Selbstmord erreichen lasse.  Und noch am 8. April 1801 erschien es ihm in der Erinnerung als ein „Fest”, als sich sein Bruder einmal mit zehn Preußen zugleich schlug, „dem ich in Küstrin bei Mondenschein sekundierte, als er um Mitternacht seine dortigen Gegner aufsuchte.”

Indes  der bündige Beweis, daß er mit Novalis eine beschworene Abmachung getroffen hatte, gegebenenfalls freiwillig aus dem Leben zu scheiden, ist doch erst in dem neugefundenen Briefe Hardenbergs an Carlowitz vom 1. Januar 1800 enthalten.

Diesen für die Kenntnis des Wesens von Novalis und seines Verhältnisses zu Hans Georg von Carlowitz grundlegenden Brief hat Frau von Carlowitz im Archiv zu Oberschöna gefunden.  Seine erste Veröffentlichung sollte eigentlich das Glanzstück des von mir zu verfassenden Carlowitzischen Dreibrüderbuchs werden, aber die Besitzerin des Schatzes hat in großzügiger Hilfsbereitschaft genehmigt, daß die neue Ausgabe der Briefe und Tagebücher des Novalis von Richard Samuel (Leipzig, Bibliogr. Institut) dieses wichtige Stück schon vorher bringen durfte.  Indes die richtige und vollkommene Deutung und Ausbeutung des Fundes ist in Samuels Buche noch nicht vorhanden.  Sie wurde erst ermöglicht durch zahlreiche ergänzende Funde, die Frau v. Carlowitz und ich in gemeinsamer Forschung aus Carlowitzischen Archiven und anderen Quellen ans Licht gebracht haben und die zum Teil von mir im 15. Jahrbuch der Goethe=Gesellschaft 1929 (S. 185—200) veröffentlicht worden sind, zum Teil aber erst in dem vorliegenden Buche bekanntgegeben werden.

Der Brief des Novalis an Hans Georg vom „1. Jänner” [1800] aus Weißenfels lautet:  „Mit den herzlichsten Segenswünschen für Dich, teuerster, einziger Freund, bin ich in dieses neue Jahr getreten.  Carl hat mir Deinen traurigen Brief von Pfaffroda gezeigt, und so tief ich mich in Deine peinliche Lage versetzen kann, so fühl’ ich doch auch, daß diesmal Deine Phantasie und so viele Umstände Dich aus dem ruhigen wahren Gesichtspunkte verschoben und Dir ein trauriges Schattenspiel untergeschoben haben.  Gewiß scheinen Dich widrige Zufälle zu verfolgen; indes habe Mut — dafür hast Du die Aussicht auf ein herrliches Glück, wenn Du Jeanettens Herz Hast.  Ist sie Deiner wert, so werden sie Hopfgartens Dir nicht entreißen — und Du kannst in kurzer Zeit der glücklichste Bräutigam sein.  Du bist Jeanetten durch das Zutrauen ihres Vaters, durch Deine Liebe zu ihm, durch Deine Trauer an seinem Grabe doppelt lieb geworden.  Diese Eindrücke sind tief und versichern Dir ihre Treue.  Sie muß in Kurzem mündig sein — und dann steht ihr freie Disposition über ihre Hand zu.  Fasse Dich, teuerste Seele — und überlege mit kühlen Verstand tausend Umstände, die Dich begünstigen.  Die froheste Ahndung faßt mich am heutigen Tage — daß dieses Jahr nicht von dannen geht, ohne Dich, Carlen und mich in die glücklichste, häusliche Lage versetzt zu haben.  Es ist ein Geheimnis für uns beide — aber Carls Glück scheint von neuem aufzublühn.  Carl weiß nichts davon, um ihn nicht von neuem in ein Labyrinth zu stürzen.  Mein Schwager Fehrentheil hat den Plan noch nicht aufgegeben, und Jeanette scheint Carlen zu lieben — und Fehrentheil will Suchen das Jawort zu erhalten, um es dann Carlen zu eröffnen und seinen Entschluß zu hören.  Kommt es so weit, so sagt Carl nicht Nein.  Wenn ich wahrhaft liebte, sagt ich’s vielleicht auch nicht — ob sich gleich jetzt mein Stolz ein wenig regt.  Ich schweige still und erlaube mir nur eine leise Hoffnung eines glücklichen Ausgangs.  Ich bin nun Assessor mit 400 Talern.  — Noch fehlt meines Vaters Einwilligung zu meiner Zufriedenheit — die ich denn doch bald zu erlangen gedenke — dann, wenn auch Du Bräutigam oder gar Gatte bist, dann wollen wir einmal in Oberschöna — an der Seite unserer Frauen von den stürmischen und wunderbar düstern Zeiten reden, die dieser Ruhe vorausgingen.  Noch vergess’ ich die Zeit unserer erneuerten Freundschaft, unsern Entschluß, freiwilligen Abschied zu nehmen, nicht.  Nie werd ich sie vergessen — Sie war romantischschön und nicht ohne Gabe der Weissagung — der Entschluß bleibt, wie ein Palladium, verwahrt — ein Schatz für die Zukunft.  Ich sehe mit Schmerzen heiterern Briefen von Dir entgegen und hoffe, Dich in kurzem zu sehen.  Was ich Dir zu sagen habe — davon künftig und besser mündlich.  Es sind viele Dinge, die ich Dir erzählen möchte.  Julien (=Julchen) liebt Dich Schwesterlich.  Dein Fritz. [Hardenberg (andere Schrift und andere Tinte)].

Diese Zeilen Hardenbergs sind von wünschenswerter Klarheit, sie setzen das Verhältnis, in dem die beiden Freunde zueinander stehen, aufs deutlichste vor unser inneres Auge.  Die Innigkeit der alten Studentenfreundschaft ist erneuert worden, als Novalis im Dezember 1797 nach Freiberg übergesiedelt war, also in den Amtsbereich Carlowitzens und in die unmittelbare Nähe seines Wohnsitzes Oberschöna.  Als gegen Ende des Jahres 1798 neues Leben und neue Liebe in den beiden Freunden aufblühte, als Hardenberg sich mit Julie v. Charpentier verlobte und gleichzeitig Jeanettens Bild in Hans Georgs verödetes Herz einzog, hatten sie die Todesbrüderschaft geschlossen mit dem Schwure, freiwillig zu sterben, wenn auch dieser neue Liebesbund nicht zum Ziele führen sollte.  Und trotz aller süßen Hoffnung, die ihn bei Beginn des neuen Jahres 1800 beseelte, wird der Todeschwur von Novalis nicht aufgehoben, sondern gilt weiter als der Talisman, der das Kommende ahnen läßt und vor jedem noch so harten Schicksal Sicherheit gewährt.  So gleicht Novalis der Blume, die aus dunkeln Tiefen zum Lichte drängt und doch immer wieder im Schatten des Todes festgehalten wird.

Und nicht nur an Carlowitz schreibt er in diesem Sinne, schon am 20. Januar 1799 hatte er dem Freunde Friedrich Schlegel gestanden:  „Ich sehe mich auf eine Art geliebt, wie ich noch nicht geliebt worden bin.  Das Schicksal eines sehr liebenswerten Mädchens hängt an meinem Entschlusse — und meine Freunde, meine Eltern, meine Geschwister bedürfen meiner mehr als je.  Ein sehr interessantes Leben scheint auf mich zu warten — indes aufrichtig wär’ ich doch lieber tot.”  So geht durch sein Leben ein auffallender Zwiespalt, wie er sich teilweise schon frühe in seinem Wesen ausprägte als Gegensatz zwischen Kindlichkeit und genialer Frühreife, Naivität und Berechnung.  Immerhin kann man sagen daß der Neujahrsbrief von 1800 an Carlowitz den Höhepunkt der dem Grabe zugewandten Erotik und zugleich der magischen Ich=Philosophie Hardenbergs bezeichnet.

Trotz der Kürze seines Lebens war es ihm vergönnt, vom Übermaße seines Subjektivismus zu genesen.  Das geschah einerseits auf dem nachdenklichen Wege vom Leiden zum Sterben, anderseits durch den als Gegenpol des Ich=Menschen in ihm stark ausgeprägten Altruismus, der sich in einer sehr eindringlichen und weitschauenden Arbeit für den Staat auswirkte.

 

Sowie Novalis in Berührung mit dem Getriebe der sächsischen Verwaltung getreten war, nahm er es damit sehr ernst.  Schon von seinen Tennstedter Anfängen schreibt der Kreisamtmann Just:  „Ich sollte sein Lehrer und Führer werden, aber er ward mein Lehrer.  Nicht nur daß ich selbst in denjenigen Fächern, wo ich vielleicht durch Erfahrung und Übung ihn an Kenntnissen übertraf, alle meine Kraft aufbieten mußte, um seinem Forschungsgeiste, der sich mit dem Gemeinen, Bekannten, Alltäglichen nicht begnügte, sondern das Feine, das Triefe, das Verborgene überall aufsuchte, einige Genüge zu leisten; sondern auch hauptsächlich, daß er mich mit sich fortriß, mich von den Fesseln der Einseitigkeit und Pedanterei . . . befreite, mich zu vielseitiger Ansicht desselben Gegenstandes durch sein Sprechen und Schreiben nötigte, mich zu den Idealen, die seinem Geiste immer vorschwebten . . . erhob und den fast entschlummerten ästhetischen Sinn in mir weckte.”

In seinen letzten Lebensjahren hat in Novalis der praktische Staatsmann zwar nicht den Dichter, aber den in ihm spekulierenden Philosophen fast überwunden.  In seinem Buche:  „Die poetische Staats= und Geschichtsauffassung des Novalis” (1925) sagt Samuel mit Recht:  „Novalis’ Staatsauffassung ist im Grunde konservativ, trotz allen weitblickenden Sinns für Liberalität und Notwendigkeit organischen Fortschrittes und freier Entfaltung der einzelnen bürgerlichen Persönlichkeit.  Die patriarchalische Monarchie ist die ideale Staatsform, die auf dem Verhältnis des Vertrauens und der Liebe des Königs und der Untertanen zu ihrem König beruht.  . . . Novalis verkörpert im Monarchen sein Vater=Ideal; die Grundzelle seines Staats ist die Familie.”

Novalis begegnet sich in diesen Ansichten mit Christian Gottfried Körner, Dietrich v. Miltitz, vor allem aber mit Hans Georg von Carlowitz.  Dieser suchte ihn auch zu veranlassen, an den Beratungen des Sächsischen Landtags des Jahres 1799 teilzunehmen, etwa als Vertreter seines Vaters in der Ausübung des Mandats von Ober=Wiederstedt.  Carlowitz schrieb ihm am 20. Januar 1799 (Friedrich von Hardenberg [Novalis].  Eine Nachlese aus den Quellen des Familienarchivs‘ 1883, S. 236):  „Du glaubst nicht, wie groß die Torheit und der Unverstand der sächsischen Stände ist.  Graf Tottleben hat eine Schrift in der Tasche, in der er auf Abschaffung der Taufe, des Abendmahls, der Trauung usw. Antrug.  Der Domherr Holleufer, Scholastikus von Merseburg, wünschte die Aufhebung aller Anstalten, wo Schulmänner gebildet werden, weil dergleichen Kerls doch nichts lernten und auch nichts zu wissen brauchten.  Herr von Wietersheim bittet um Schiffbarmachung aller Flüsse in Sachsen, damit die Beschwerden über die Magazinfuhren erledigt werden möchten.  Graf Ronnow will die Witwen und Waisen der Steueroffizianten verhungern lassen, weil sie sonst dem Staate zur Last fallen könnten!  Komm nur auf einen Tag zu mir, ich will Dich in den Rittersaal führen, und Du wirst dort mehr lernen, als Du wissen willst.  Neugierig bin ich, welchen Eindruck es auf Dich machen wird, wenn Du die vornehmsten Glieder unseres Landes mit der Schokoladentasse in der Hand wie aristokratische Sansculotten sprechen hörst.  Wäre Rousseau auf den sächsischen Landtagen erschienen, er hätte gewiß nicht gesagt, daß die Majorität die Minorität nicht bloß an der Zahl, sondern auch am Verstande übertrifft.”

Novalis aber antwortete ablehnend.  Denn Carlowitz schrieb am 10. Februar 1799 (a. a. O. S. 237):  „Dein Bild von den Ständen ist leider sehr wahr, aber der Entschluß, nie auf dem Landtage zu erscheinen, ist nicht patriotisch.  Jeder tut für die gute Sache, was er kann, und gerade Du würdest viel können.  Du bist der einzige mir bekannte Mensch, dem ich zutraue, daß er eine ganze Generation erheben und die verhaßte Stimme des Egoismus, der Dummheit und der Brutalität unterdrücken könnte; Du allein würdest uns von der Verachtung retten, die wir verdienen.  Glaube nicht, daß meine Neigung zu Dir, die weder Dankbarkeit allein veranlaßt noch das Wort Freundschaft in ihrem Umfang ausdrückt, mich zum Übertriebenen fortreißt.  Ich habe mehr Selbständigkeit als viele von den anderen, und doch fühle ich meine unbedingte Abhängigkeit von Dir.  Ich weiß gewiß, daß auch dem Schwarm geborener Sklaven Deine Überlegenheit fühlbar sein müßte, die sich jetzt von einem Münchhausen, Planitz, Werthern am Narrenseil führen lassen.  Sie machen die Mehrheit unter uns aus und würden sich gewiß unter einem würdigeren Chef mit eben der Bereitwilligkeit zum Guten lenken lassen, mit der sie sich jetzt zu kleinlichen, entehrenden Zwecken hingeben.  Nur Du könntest die Scheidewand zwischen den Guten und Bösen bei uns vernichten und das Band wieder knüpfen, das man mutwillig zerrissen hat, um uns alle der allgemeinen Verachtung und vielleicht künftig der Verantwortung bloßzustellen.”

Man sieht aus dieser Darstellung, daß das ständische Regiment in Sachsen den anstürmenden Ideen einer Konstitution gegenüber hilflos und ohne Steuer auf den Fluten trieb, schon bevor Napoleon in die Geschichte des Landes eingriff.

Statt sich in die vorläufig ergebnislosen Streitigkeiten auf dem Landtage einzumengen, fand es Novalis reizvoller, sich mit den praktischen Aufgaben der Bodenforschung gründlich und tiefschürfend zu befassen, insbesondere der Salzlager um Artern und Weißenfels und der Braunkohlenlager, die damals zuerst im Staatshaushalt eine Rolle zu spielen begannen.  Wir sehen ihn im Verkehr mit dem großen Organisator der sächsischen Gesteinforschung, mit Abraham Werner in Freiberg, mit dem genialen Entdecker des Grundgesetzes der Voltaschen Säule und der chemischen Wirkungen des elektrischen Stromes Johann Wilhelm Ritter und mit den sächsischen Staatsmännern, die diese wissenschaftlichen und technischen Fortschritte praktisch auszuwerten versuchten, vor allem mit dem Geh. Finanzrate Julius Wilhelm v. Oppel. Aber Novalis steht neben diesen Erfahrenen nicht als ein tastender Anfänger, sondern als ein Fertiger, Gleichberechtigter, ja er übertrifft sie alle, indem er überall auf das Ganze geht und die äußersten Folgerungen zu ziehen bereit ist.  Er kommt mir vor, wie einer, der einen Röntgenapparat in seiner Seele trägt, mit dem er durch die dunkelsten Dinge hindurchschaut.  Man lese nur das von Artern aus im Dezember 1799 von Novalis an Oppel erstattete Gutachten über das Vorkommen von Kohle dort und in der Umgegend (‘Nachlese’ S. 252):  „Ich habe mich diese Zeit über mit dem Erdkohlenwesen bekannt zu machen gesucht.  Mein Vater hat mich die Etats auf künftiges Jahr fertigen lassen, und hier werde ich den für die Saline Artern ausarbeiten.  Der mir aufgetragene rückständige Bericht über die Erdkohlenlager in diesem Teile von Sachsen erfordert, um ihn so vollständig und gründlich als möglich zu machen, noch viel Zeitaufwand.  Es sind noch eine Menge Reisen nötig, um den geognostischen Teil zu vollenden.  Diese Untersuchung hat mich die Unvollständigkeit der bisherigen Beobachtungen der Flötz= und aufgeschwemmten Gebirge recht lebhaft fühlen lassen.  Der Geognost, durch Werners großen systematischen Geist erregt, hat ein mühsames und weitläufiges Geschäft.  Die Rücksichten sind so mannigfaltig, und der Blick aufs Ganze ist mit großen Schwierigkeiten verknüpft.  Der Mangel an richtigen Situationskarten ist ein großes Hindernis.  Scheinbare Unregelmäßigkeiten hemmen die glückliche Entwickelung der geognostischen Geschichte aus großen, einfachen Tatsachen . . . Ich bin Wernern auch für diese Erhöhung meines Lebensgenusses den innigsten Dank schuldig, wenn ich nicht auch jeden Tag Gelegenheit fände, seinen divinatorischen Blick zu bewundern.

Wie wichtig würde mir eine Reife in seiner Gesellschaft durch Thüringen sein!  Die neueren Formationen hat er noch nicht so reichlich ausgestattet wie die älteren, und er würde gewiß hier die herrlichsten Entdeckungen machen.  Die Urgebirge haben auf den ersten Blick etwas Anziehenderes; aber die Flötzgebirge sind dem Geognosten beinahe wichtiger, da hier die Natur mannigfaltiger und deutlicher gearbeitet hat, und sie noch nicht lange aufgestanden ist, ja wohl gar noch bei ihrer Arbeit überrascht werden kann . . .”

Es ist erstaunlich, mit welcher Sicherheit Novalis in einem Briefe vom April 1800 an den Bergrat Werner (Novalis IV, S. 338) die „Distrikte mit bituminösen Holzerdenlagern” (Braunkohlen) bestimmte.  „Sie gehören . . . zu einer großen, nach der Elbe zu sich neigenden Ebene, die meist nur von einzelnem Porphyr= und Sandsteinhügeln unterbrochen und von der Saale, Elster, Pleiße und Mulde durchströmt wird.  Die beträchtlichsten Niederlagen sind im Saalegebiet unterhalb Naumburg.  An der Mulde finden sie sich erst unterhalb Wurzen bei Bitterfeld, an der Elster unterhalb Zeitz und an der Pleiße unterhalb Altenburg ein.”

Was für ein Wirtschaftsminister für Sachsen hätte Novalis werden können, wenn er länger gelebt hätte.  Nach seinem Tode hat es 120 Jahre gedauert, ehe die Abbaupläne, die Novalis für die genannten Gegenden in seiner kühnen Seele trug, wirklich in Angriff genommen wurden.

Vor solchen Studien und Ideen von eminent praktischer Bedeutung für die Entwicklung technischer Energien in einem dicht bevölkerten, zur Industrie drängenden Lande verblaßten die früher von Novalis so hochgehaltenen Spekulationen der reinen Philosophie.  Er schreibt im Februar 1800 an den Kreisamtmann Just (a. a. O. S. 329, Nr. 205):  „. . . Die Philosophie ruht jetzt bei mir nur im Bücherschranke.  Ich bin froh, daß ich durch diese Spitzberge der reinen Vernunft durch bin und wieder im bunten erquickenden Lande der Sinne mit Leib und Seele wohne.  Die Erinnerung an die ausgestandenen Mühseligkeiten macht mich froh.  Sie gehört in die Lehrjahre der Bildung.  Übung des Scharfsinns und der Reflexion sind unentbehrlich.  Man muß nur nicht über die Grammatik die Autoren vergessen, über das Spiel mit den Buchstaben die bezeichneten Großen.  Man kann die Philosophie hoch schätzen, ohne sie zur Hausverwalterin zu haben und einzig von ihr zu leben.  Mathematik allein wird keinen Soldaten und Mechaniker, Philosophie allein keinen Menschen machen.”

Novalis war im Sommer 1800 nach Dresden gegangen, um seine Ernennung zum Amtshauptmann eines thüringischen Kreises zu betreiben.  Er konnte auf die Unterstützung seines hochverehrten Lehrers Werner und anderer führender Persönlichkeiten rechnen, z. B. des Geheimen Finanzrats von Oppel (s. dessen Bericht an den Kurfürsten, Novalis IV, S. 444).  Da warf ihn kurz vor Erreichung des Zieles ein Bluthusten auf das Krankenlager.  Nach einigen Wochen trat eine leichte Besserung ein.  Aber nun traf ihn ein neuer Schlag.  Am 28. Oktober ertrankt sein 14jähriger Bruder in der Saale.  Die Aufregung darüber verursachte ihm einen heftigen Blutsturz.  Die Eltern kamen vorübergehend nach Dresden, die Brüder Carl und Anton pflegten ihn.  Im Januar 1801 holte der Vater den hoffnungslos Kranken heim nach Weißenfels, wo er am 24. Januar ankam.  Julie durfte ihn begleiten und blieb bei ihm.

Schon längst hatte er die Meinung über Bord geworfen, daß der Mensch selbst sich ein „unabhängiges, selbstgemachtes, in seiner Gewalt stehendes Leben bereiten” könne.  In seinem Tagebuch regiert wieder der lebendige Gott:  „Wem es einmal klar geworden, daß die Welt Gottes Reich ist, wen einmal diese große Überzeugung mit unendlicher Fülle durchdrang, der gehet getrost des Lebens dunklen Pfad und sieht mit tiefer, göttlicher Ruhe in die Stürme und Gefahren desselben hinein.” (Nachlese S. 268.)

Am 24. März konnte er noch etwas arbeiten.  Friedrich Schlegel besuchte ihn.  „Am 25. März — so erzählt die Nachlese aus den Quellen des Familienarchivs — erwachte Novalis ruhig, aber sehr erschöpft . . . Sein Bruder Carl und Schlegel waren gegen Mittag bei ihm, er bat den ersteren, ihm auf dem Klavier vorzuspielen, was er sehr liebte.  Der Bruder erfüllte seine Bitte, und bei diesen Klängen schlummerte der Kranke sanft in ein besseres Leben hinüber ohne allen Kampf und Schmerz.”

Dieser Bericht ist unvollständig.  Er wird ergänzt durch die neu aufgefundenen Briefe Hans Georgs v. Carlowitz.  Dieser war im März 1801 nach Leipzig gereist zu Sitzungen des Oberhofgerichtes und um seinen künftigen Schwager Heinrich von Schönberg inskribieren zu lassen.  Er schreibt Sonnabend, den 14. März aus Leipzig an Jeanette:  „Hardenberg bittet mich, ihn in Weißenfels noch einmal zu besuchen, er läßt mir schreiben, daß alle Ärzte sein Leben nur noch auf wenige Tage berechnet haben, daß er ruhig sei über den Eintritt in die Ewigkeit und daß der Abschied von mir einer der wenigen ihm noch übrigen Wünsche sei.  Es wird mich viel kosten, aber ich folge dem Rufe unserer auch in jener Welt noch dauernden Freundschaft, und die Nacht vom Freitag zum Sonnabend bin ich bei ihm.  Dein Bruder wird mich begleiten, aber er mag sich den traurigen Anblick einer vom Schmerze ganz hingerissenen Familie sparen und, indes ich dort bin, den Ort und seine wenigen Merkwürdigkeiten besehen.  Den Tag nachher sind wir schon wieder in der Nähe von Freiberg.  Du weißt, daß Dein Bruder mit mir zugleich nach Leipzig reisen wollte.  Allein ein Husten hielt ihn noch einige Tage länger zurück, und wir treffen erst morgen dort zusammen.”

Durch diese Zeilen wird die bisher geltende Legende zerstört, Novalis habe nicht gewußt, daß er bald sterben werde.  Ein zweiter Brief Hans Georgs vom 19. März meldet:  „Morgen [Freitag, d. 20. 3.] wird unsere Sitzung aufgehoben, und vielleicht gehe ich mit Deinem Bruder schon nachmittags [statt abends] nach Weißenfels ab.  Die Rückreise nehmen wir über Leipnitz und Polkenberg, und spätestens den Montag früh [23. 3.] sind wir wieder in Oberschöna, wenn nicht unvorhergesehene Hindernisse unsere Reise aufhalten.”  Aus diesen letzten Worten folgt die Möglichkeit, daß Carlowitz bis zur Todesstunde des Freundes [Mittwoch, 25. 3.] in Weißenfels geblieben sein könnte.  Die Annahme dieser Möglichkeit wird verstärkt durch einen späteren Brief an Jeanette vom 2. Januar 1804:  „Ich muß Dir noch den Rest meines gestrigen Tages erzählen.  Ich ging zum Spiele nach Hof (Neujahrsassemblee).  [Graf] Schulenburg war der erste Bekannte, den ich fand.  Wir traten in ein Fenster und sprachen eine Stunde lang wie alte Freunde, die sich für eine dreijährige Trennung an einem Abend entschädigen wollen.  Erst war die Rede von unserem verewigten Hardenberg.  Ich mußte Schulenburg die letzten Stunden dieses einzigen Mannes schildern, und mit einem herzlichen Händedruck dankte mir der gute Schulenburg für den Mut, mit dem ich unserem sterbenden Freunde die letzten Augenblicke seines Bewußtseins erheiterte.  Er schalt die beiden V. (S. 28), die aus Furcht für ihr eigenes Leben ihren Bruder im Tode verlassen konnten, und versicherte mich, daß, wenn er mich auch nie gekannt hätte, er mein Betragen gegen Hardenberg mit einer lebenslänglichen Hochachtung würde ausgezeichnet haben.”

Aus den eben angeführten Worten Hans Georgs, daß „ich unserem sterbenden Freunde die letzten Augenblicke seines Bewußtseins erheiterte”, müßte man schließen, daß er bis zum Eintritt des Todes bei ihm ausgehalten habe.

Aber diesem Schlusse steht das „Dresden, den 27. März 1801” datierte Briefchen entgegen, durch das Hans Georg seinem Bruder Carl Adolf den Heimgang Hardenbergs meldet:  „Teuerster Bruder!  Am 25. Mittags ist unser Hardenberg eingeschlummert.  Ich melde Dir dies, denn auch Dir wird sein Verlust schmerzhaft sein.  Mir ist er unersetzlich, und ich werde nie den Eindruck verlieren, den mein letzter Besuch, drei Tage vor seinem Tode, und unser Abschied auf mich machte.  Lebe wohl, teuerster Bruder, mehr schreiben könnte ich Dir jetzt nicht.  Ewig der Deinige Carlowitz.”

Die richtige Lösung dieser Widersprüche scheint mir folgende zu sein.  Hans Georg hat seinen Aufenthalt in Weißenfels von Freitag abend bis Sonntag mittag ausgedehnt.  Er hat in dieser Zeit den Kranken mehrmals besucht, das letzte Mal „drei Tage vor seinem Tode”, also Sonntag, den 22. März um die Mittagszeit.  Als er Abschied nahm, wurde der Kranke von einem jener Schwächezufälle bewußtlos, wie sie sich am Sterbetage wiederholten.  Carlowitz hielt diesen Schwächezustand fälschlich für den Beginn der Agonie und glaubte deshalb, die letzten Augenblicke des Bewußtseins mit dem Freunde geteilt zu haben.

Was wird der Sterbende seinem Freunde anvertraut haben?  Doch vermutlich ein Wort über die große Wandlung, die sich in seinem Inneren vollzogen hatte vom Selbstbewußtsein des magischen Ichs zur Gotteskindschaft und damit den Verzicht auf jeden unnatürlichen Abbruch des Lebens.  Damit war der Todesbund gelöst, den er einst mit Carlowitz geschlossen hatte, und dieser sah vor sich eine sonnige Lebensbahn an der Seite seiner Jeanette.

Des Freundes Gestalt wuchs sich in der Erinnerung Hans Georgs zu einer fast übermenschlichen Größe aus.  Das zeigt schon der Brief, den Hans Georg am 1. April 1801 an seinen Bruder richtete:  „Seit Hardenbergs Tod war ich keinen Tag wohl, und ich weiß nicht, ob die Betrübnis und ein noch nie empfundener innerer Schmerz nicht die nächsten Ursachen meines Übelbefindens sein sollten.  Du glaubst gar nicht, wie unfähig ich jetzt zu allem bin, mein Genius ist von mir gewichen, und dafür kommt täglich ein alter pedantischer Arzt.  Jetzt eben war er bei mir, und schon meinen Schriftzügen siehst Du an, daß ich Fieber habe.”  Noch deutlicher zeigt es das Urteil, das Hans Georg über die im November 1805 in Schlichtegrolls Nekrolog erschienene Biographie Hardenbergs aus der Feder des Kreisamtmanns Just fällte.  Er schreibt an seine Frau Sonntag, den 15. Juli 1806:  „. . . als ich nach Hause kam, fand ich ‚Das Leben Hardenbergs’ von seinem Freunde Just in Tennstedt, das eben während meiner Abwesenheit von Leipzig angekommen war.  Ich stand am Scheidewege wie Herkules.  Sollte ich mein Wort brechen und die Nacht durch lesen?  Oder die Begierde unterdrücken, das Bild meines großherzigen Hardenberg vor meine müde Seele zu stellen?  Ich wählte — das erstere; ich legte mich zu Bette, aber ich konnte nicht schlafen, interessantere Dinge als der Schlaf bemächtigten sich meiner Phantasie.  Ich wog die Gegenwart und Vergangenheit, das himmlische Glück Deines Besitzes gegen die Stürme meiner Jugend, und was blieb mir übrig — als zu lesen?  Hardenbergs Leben zu beschreiben ist eine unmögliche Aufgabe, aber Just hat auch nicht einmal das Mögliche daran erreicht, und ich werde Dir die Schrift, die ganz hauptsächlich zu Deiner eigenen Bekehrung bestimmt war, — nicht einmal geben, weil Du gar nichts daraus sehen würdest.  Denke Dir, wenn ein so prosaischer Geschäftsmann wie Anton die Gegend Deines Weinbergs [in Loschwitz] beschreiben wollte, was würde da rauskommen?  Er würde die Linien des Horizonts eruieren, die zwischenliegenden Äcker veranschlagen und nebenbei bemerken, daß die Elbe durchläuft.  So ungefähr hat es Just mit Hardenbergs Leben gemacht, und Hardenberg wäre noch nicht einmal so viel gewesen als ich — wenn er nicht mehr hätte sein wollen, als wozu ihn sein Biograph macht.  Freilich ging Dein Organ, die Madame Otten (s. Register), noch weiter unter die Linie.”

Für Hans Georg blieb Novalis ohne Zweifel das größte innere Erlebnis seiner Entwicklungszeit.  Der bleibende Ertrag für Carlowitz war eine tief in den Kräften des Gemüts wurzelnde Humanität, eine selten gefundene Weite des Blickes und Unbefangenheit in der Beurteilung Staatlicher Verhältnisse, aber auch eine nie ermüdende, das eigene Ich schonungslos aufopfernde Arbeitskraft für das Gesamtwohl, die er in einer 45jährigen Tätigkeit in den wichtigsten Staatsämtern bewies.  Aus den gleichen patriarchalischen Verhältnissen erwachsen und von ähnlicher Veranlagung wie Novalis, war er auf dem Gebiete der Staatslehre und der Staatsgestaltung dessen Erbe.  Hardenberg selbst hat ihn als solchen bezeichnet, als er am 20. Januar 1799 (Raich S. 103) für den Fall, daß er vorzeitig Abschied vom Leben nehmen müßte, an Friedrich Schlegel schrieb:  „Karl (Novalis Bruder) oder Carlowitz hoffe ich ersetzen meine Stelle.”


Titelblatt zum Notenhefte Jeanettens aus der Zeit ihrer Verlobung,
aquarellierte Zeichnung von ihrem damaligen Bewerber Freiherrn von Pötting.
Federzeichnung von Frau von Büssing geb. v. Carlowitz