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Nachtrag

 

8.  Hans Georg als Geheimer Finanzrat.  Umzug nach Dresden; Teilnahme am Geistesleben der Stadt.  Der Phrenolog Gall

us dieser Mißlichen Lage befreite ihn endlich die am 20. Juli 1805 durch den Kurfürsten vollzogene Berufung in die Stellung eines Geheimen Finanzrates im Geheimen Finanzkollegium (HStA Spezialreskripte 1805 Nr. 433).  Dieses Amt gewährte ihm die Mitarbeit in der einflußreichsten Oberbehörde und — unter Wegfall der 200 Taler Interimsbesoldung, — einen Jahresgehalt von 1000 Talern und dazu noch die „den Geheimen Finanzräten zeither zugestandene Porto= und Arzneifreiheit”.  Diese neue Besoldung Hans Georgs nahm allerdings erst am 1. Oktober 1805 ihren Anfang „inmaßen der Gnadengenuß der Erben des verstorbenen Geheimen Finanz=Rates, Geheimen Rats von Criegern erst ultimo September a. c. aufhört (HStA Loc. 32473, Gener. Nr. 826b vol. III, fol. 29 u. 30).  Durch das Spezialreskript 1805 Nr. 520 vom 24. August 1805 wurde der Vorschlag des Geheimen Finanzkollegiums vom 27. Juli bestätigt, daß Carlowitz an den Geschäften des III. Departements zu beteiligen sei.  Man muß demnach annehmen, daß er sein neues Amt etwa am 1. September 1805 antrat.

Auch aus den Briefen an Jeanette scheint sich zu ergeben, daß Hans Georg seine Tätigkeit im Geheimen Finanz=Kollegium am 1. September 1805 begann.  Denn das briefliche Kalendarium über seine Tätigkeit, das er seiner Frau nach Oberschöna schickte, beginnt mit dem 5. September 1805 [Donnerstag].  Die neue Stellung in Dresden machte die baldige Übersiedlung des gesamten Haushaltes nach der Hauptstadt nötig.  Die ersten Wochen seiner Tätigkeit war er in Dresden allein und wohnte im Gasthof zum Helm (Wilsdruffer Straße 16).

Schon vorher hatte Hans Georg begonnen, im Geistesleben der Residenz Fuß zu fassen.  Er besuchte die Gottesdienste in der protestantischen Hofkirche und fühlte sich zum Oberhofprediger Reinhard besonders hingezogen.  Er schreibt in der ersten Septemberhälfte 1805 an seine Frau:  „Gestern ging ich in die Kirche und hörte eine Predigt von Reinhard, die mich zwar nicht von seinen Grundsätzen überzeugt, aber als ein großes Meisterstück der Beredsamkeit im höchsten Grade interessiert hat.  Reinhard ist sehr kränklich und wirklich im Begriffe, blind zu werden.  Ein sehr schmeichelhafter Befehl vom Ministerio hat ihn vom Predigen dispensiert, soviel er sich selbst dispensieren will, und das Publikum entbehrt jetzt die Hälfte seiner Vorträge, weil er nur in 14 Tagen einmal auftritt.  Ich war in der Emporkirche des Hofetats, wo es immer ziemlich leer sein soll und der schönste Platz ist.  Sie liegt gerade über der der Minister, und ich werde so oft dahingehen, als Reinhard predigt, weil ich die Anhörung solcher Reden für eine der wichtigsten Vorzüge meines hiesigen Aufenthalts ansehe”.

Diesem vortrefflichen Theologen verdankte Hans Georg auch seine Bekanntschaft mit dem bekannten Arzte und Phrenologen Gall, der damals nach Dresden kam, um in Vorlesungen den Gebildeten der Stadt seine Lehre vorzutragen.  Hans Georg ging, um Galls Vorlesungen zu hören, auf 2 Wochen (im Juni) nach Dresden (s. Dresd. Anz. Wissensch. B. 4. April 1933), er schreibt:

„Nach meiner Ankunft ging ich auf die Ressource, um den Bruder aufzusuchen; er war aber auf dem Weinberge[1]) und kommt erst heute zu Galls Vorlesung zurück.  Ich fand die beiden Einsiedel, Bose, Friesen pp., von denen ich die nötigen Nachrichten über den Zweck meiner Reise einzog.  Gall hält überhaupt 10 Vorlesungen.  Sie sind im Saale des Hotel de Pologne (jetzt die Sächsische Bank in der Schloßstraße) und fangen nachmittag um 5 Uhr an. Ihre Dauer bestimmt sich nach der abgehandelten Materie.  Bei der 10ten steht mein Wagen aufgepackt vor der Türe des Hotels, um mich in die Arme meines lieben Weibes zu führen.  Täte ich’s, aufrichtig gesagt, nicht Deinem Jungen zu Gefallen, daß ich mich hierhersetzte, um die neue Theorie zu studieren, so kehrte ich heute zurück.  Mir hilft sie nicht, denn mein Kopf mag sein, wie er will, ich mache ihn doch nicht anders, und viel wird nun einmal nicht aus mir.  Es gibt eine einzige sehr seltene und in den Buchläden schon längst vergriffene Schrift über Galls System von einem D. Walter in Wien, die Gall für gut erklärt.  Miltitz gab sie mir gestern, und ich eilte mit meinem Schatz ins Bette.  Hätte ich Dir nicht versprechen müssen, im Bette wenig zu lesen, so wäre ich vielleicht heute schon im Besitze der neuen Lehre, aber freilich mußte ich aus Respekt für Deine entfernten Verbote meiner Wißbegierde Grenzen setzen und in der Mitte aufhören.  Soviel weiß ich indes schon, wo das Organ des Temperaments — der nicht platonischen Liebe liegt.  Jetzt kann ich Dir den Ort nicht beschreiben, Du wirst ihn aber selbst finden, wenn Du Dein kleines eigensinniges Köpfchen untersuchst.  Da Dir dies Organ abgeht, so findest Du es da, wo Dein Köpfchen die tiefste Einbiegung hat.  Auf diese Weise habe ich bei mir das musikalische Organ gefunden.  Mm. Höser hat sich von Gall untersuchen lassen und die soll da, wo dies Organ liegt, kleine Hörner haben.  Gall wird, wenn er Geduld hat, seine Untersuchungen fortzusetzen, hier noch mehr Leute, wenn auch nicht mit musikalischen, doch mit anderen Hörnern finden.

. . . Mein Enthusiasmus für Gall wächst mit jeder seiner Vorlesungen und meine Freundschaft mit ihm mit jedem unserer Gespräche, ich könnte ihn lieben, wie ich Hardenberg (Novalis) geliebt habe, wenn ich Zeit dazu hätte.  Gestern abend trafen wir uns in der Ressource, wo ich ihn unserer Verabredung nach erwarten sollte.  Er setzte sich zu mir, und wir haben zwei Stunden in einem weg miteinander gestritten.  Mein System des Kriminalrechts, — das Produkt eines zwölfjährigen Studiums, hat er umgestürzt und mir ein neues, besseres gegeben, aber über die Moral sind wir noch nicht einig.  Er leugnet das Dasein des Gewissens a priori — wie wir Philosophen sagen — ich will mir das meinige nicht nehmen lassen, wir kämpften lange, und noch gebe ich mich nicht gefangen.  Es sind Teile seiner Behauptung allerdings wahr, aber im Grunde läuft sie auf die Verwechselung der Begriffe von Gewissen und Reue hinaus, die er nicht genug trennt.  Ich packte ihn mit dieser grammatisch=logischen Definition; er wurde sehr nachdenklich und versprach mir, bei unserer nächsten Zusammenkunft die Resultate seiner weiteren Forschung mitzuteilen.  Es wäre doch sonderbar genug, wenn ich Gallen bekehrte und so das Gewissen bei vielen tausend Menschen erhielte, die seine Lehre ohne Prüfung annehmen.

Böttiger, Beichel, Hartmann und einige andere Gelehrte in der Gesellschaft hörten unserem Streite mit großer Aufmerksamkeit zu, aber ohne selbst teil zu nehmen — weil Gall die Eigenheit hat, daß er gegen Professionsgelehrte erstaunend grob ist, — und traten nach seiner Entfernung laut und einstimmig meinen Grundsätzen bei.  Einige von uns fielen nun über Galln her, besonders ein paar Schriftsteller und George Einsiedel, wir begannen einen zweiten Kampf, ich entwickelte Galls Individualität, und so viele als gegen ihn gestritten hatten, traten endlich zur Partei seiner Anhänger über.  Ich kann meine Bewunderung und Anhänglichkeit an den großen Mann nicht genug ausdrücken, und es irrt mich gar nicht, wenn er in seiner Wienerischen Gutmütigkeit mir hier und da eine Menge Grobheiten sagt.  Da ich das Gewissen in Schutz nahm, und ehe ich ihn noch auf den Unterschied zwischen Gewissen und Reue aufmerksam machte, sagte er mir manche gar nicht verbindliche Dinge:  Sie hängen an Vorurteilen; Ihre Erziehung hat nix getaugt — (das wußte ich schon vorher); Sie schicken sich besser zum Handeln als zum Forschen usw., und bei dem allen meinst es der Mann doch herzlich gut.  Einige seiner Freunde, zu denen ich mich gar sehr rechne, geben ihm eine Fete.  Wir haben den Kaiserlichen Geschäftsträger Baron Buol ersucht, sie zu veranstalten, und da hoffe ich, soll er sich zur Untersuchung unserer Organe bereitfinden.  Meine guten Anlagen sage ich Dir alle, aber die schlimmen erfährst Du nicht; — damit könnte Mißbrauch getrieben werden.  Ich kann gar nicht erwarten, Dein kleines Köpfchen zu untersuchen.  Das Organ der Kindesliebe muß prädominant sein, doch nur auf einer Seite, wenn es bei mir auf der anderen ist.  Zum tausendsten Glück der Gallianer hat sich ein Schneider gehängt, der nun morgen früh um 7 Uhr geöffnet werden soll.  Heute sind Vorlesungen von 5 bis ½8, ich habe also die Einladung der Tante zum Tee und Spiel ablehnen müssen und nur die zum Souper annehmen können.

Zum Schluß noch ein paar Anekdoten von Gall.  Die Ärzte in Leipzig wollten ihn aufs Eis führen und nahmen ihn mit ins Zuchthaus, um Gefangene zu untersuchen.  Man brachte ihm eine sechzigjährige, häßliche Frau.  Er untersuchte, besann sich lange und sagte endlich:  Ich kann nicht erraten, warum die Frau hier sitzt, sie hat ein starkes Organ der physischen Liebe, das Organ der Kinderliebe fehlt ihr ganz, und wenn sie nicht so alt und häßlich wäre, müßte ich sie für eine Kindermörderin halten.  Sie war auch eine, hatte aber viele Jahre gesessen, und das weiß der Wiener Arzt nicht, daß in Sachsen die Mörder für Alter sterben.  Man brachte ihm einen Mann, er fand, er sei kein Mörder, kein Dieb, er habe nur ein prädominantes Zahlenorgan und die Oberfläche des Kopfes verrate eine gewisse Unordnung aller Organe.  Wenn der Mann wirklich etwas verbrochen hat, sagte er, so muß er ein Spieler gewesen sein; und auch hier traf er den Punkt.  Die Leipziger Ärzte strechten das Gewehr, und Galls Scharfblick flößte auch dort eine allgemeine Bewunderung ein.

Wir danken die Erscheinung des großen Mannes dem Oberhofprediger, seinem warmen Freunde.  Die Minister waren zweifelhaft, ob man seine Vorlesungen gestatten könne.  Reinhard verschaffte sich Galls Rechtfertigung an den Kaiser und brachte sie durch Hopfgarten an den Kurfürsten.  Der Kurfürst hat die Schrift gelesen und sich sehr zufrieden mit der Sache erklärt, er wünsche, daß Gall lesen möge, doch auch, daß keine Damen ihn hörten.

Von den Weibern hat er eine große Meinung, er versicherte mich, daß sie weit mehr wahren Verstand als die Männer hätten, und daß er ohngeachtet aller Anstrengungen nie einen Mann in seiner Kunst habe soweit bringen können als Weiber.  Ihre richtigere Beachtung äußerer Gegenstände, ihr sicheres Auge und selbst ihr feineres Gefühl der Hand gäbe ihnen in der Wahrnehmung der Organe eine entscheidende Überlegenheit.

Du siehst schon daraus, daß Du mir auch in wissenschaftlicher Hinsicht direkt notwendig wärest.  Da gar keine Dame in unsere Vorlesungen kommt, so ist die Prinzessin Rohan genötigt gewesen, sich eine außerordentliche halten zu lassen, für die sie 1000 Taler gibt und zu der einige Damen ihrer Bekanntschaft Zutritt haben.  Unsere Gesellschaft ist gegen 90 Personen stark geworden, von Ministern hören Hohenthal und Carlowitz [Carl Wilhelm v. C., s. Register] die Vorlesungen und einige Gesandte, und unter anderen Großen hören auch Rex und Moritz [von Schönberg] zu.  Wir haben heute die dritte Vorlesung gehabt, von der Bildung des Kopfes vor der Geburt, von dessen Zustande bei der Geburt und nebenbei auch von manchen Eigentümlichkeiten der Weiber in Hinsicht auf ihre Organisation und daher zugleich auf ihre Seelenäußerungen.  Wenn Du nun jetzt einmal ungerechterweise böse auf mich bist, wenn Du zankst pp., so werde ich künftig die Ursachen in der Individualität der Weiber suchen und noch viel stiller dabei sein als sonst.

Diesen Morgen um sieben Uhr fing die Sektion des Gehirns des gehängten Schneiders an und währte bis nach 10 Uhr.  Alle anwesenden Ärzte waren ganz enthusiasmiert über Galls Methode bei der Sektion und seinen genialen Scharfsinn.  Schade, daß Petzold nicht gegenwärtig sein konnte.  Morgen sind Vorlesungen von 10 bis 11, Sektion unmittelbar vor Tische, und dann wieder von 5 bis nach 7 Uhr.  Mit Ende dieser Woche wird Gall ganz gewiß fertig, und da ich keine Stunde länger von meinem geliebten Weibe entfernt sein will, als ich muß, so bitte ich Dich, mir die Pferde zur Rückreise am Donnerstag hierherzuschicken.

Herr Gall hat diesen Nachmittag eine Vorlesung gehalten, die ich, wegen des tiefen Eindrucks, den sie auf mich gemacht hat, Dir ziemlich von Wort zu Wort werde wiedergeben können.  Unter anderen Resultaten war auch die Entschuldigung Deiner Kälte, die ich Dir nun gar nicht mehr vorwerfen darf.  Mich ärgert es, daß der Mann entdeckt hat, wie wenig das weibliche Geschlecht wahres Temperament habe, und im Grunde folgt aus alledem, was er sagt, daß Ihr nicht nur besser, sondern sogar auf einer höheren Stufe der geistigen Vollkommenheit seid.  Ich habe gar nichts wider die Weiber, aber über mich sehe ich [sie] doch ungern gesetzt, und gleichwohl finde ich, daß Gall recht habe.

Morgen mittag ist die Fete, die wir Galln geben, und ich zweifle nicht, daß sie dem großen Manne angemessen sein wird, da der Kaiserl.  Geschäftsträger ihre Besorgung übernommen hat.  Vermutlich wird Gall jedem von uns sagen, was an ihm sei, aber ich bin nach vielfältiger Untersuchung meiner selbst schon im voraus überzeugt, daß ich auch nicht ein einziges Organ habe, das der Erwähnung verdiente.

Gäbe es eins für schwärmerische Liebe, so wäre es bei mir ein Horn, aber leider gibt’s nur für Kinderliebe einen Ausdruck in der Organenwelt.

Lebe wohl, Du gutes herziges Weib! Und liebe mich nur zum zehnten Teile so innig, als ich Dich anbete.  Dienstags abends um 9 Uhr.”

Wer die vorstenhenden Briefe über Galls Phrenologie vorurteilsfrei liest, wird nicht verkennen, daß das Zusammenleben mit Jeanette Hans Georgs Gefühls= und Geistesleben noch vertieft und geläutert hat.  Die Liebe hat in ihm auch die Kunst des Briefschreibens, die in unseren Tagen mehr und mehr verloren geht, zu hoher Vollkommenheit entwickelt.  Ernst und Scherz, durchdringender Verstand und Phantasie, Scharfe Beobachtung und schwärmerische Ausdeutung derselben vereinigen sich in ihm zu einer oft wundervollen Harmonie.  Diese fein gemischten Stimmungen durchziehen auch die folgenden Briefe, in denen er die Einführung in sein neues Amt als Geheimer Finanzrat und seine ersten Versuche selbständiger amtlicher Wirksamkeit schildert, ja sogar die Berichte über seine Wohnungssuche in Dresden und die Schilderung der ersten Erlebnisse in der gewählten Wohnung werden durch seine Darstellungskunst verklärt.  Hören wir ihn nun selbst.

*

   Hans Georg an Jeanette v. C. Dresden, Dienstags abends um 8 Uhr [3. 9. 1805]:  „. . . Die Reise ging gut, und ich war kurz nach 3 Uhr hier.  Schon unter der Türe kam mir die Madame Erler (Wirtin des Gasthofs zum Helm) entgegengeschrien, daß seit dem Sonntage [1. Sept.] zu allen Stunden Nachfrage nach mir gewesen sei und alle Exzellenzen von Dresden schon geschickt hätten.  Mir war die Nachricht gar nicht angenehm, denn ich glaubte, ich hätte etwas versäumt, ließ mich also geschwind frisieren, die Pferde fressen und fuhr darauf gleich unter dem stärksten Gewitter und dem heftigsten Gußregen zu Hopfgarten.  Versäumt hatte ich, wie man mir sagte, zwar nichts, aber ich wäre, wenn ich gestern [Montag, 2. Sept.] hätte eintreffen können, morgen [Mittwoch, d. 4. Sept.] verpflichtet worden, statt daß ich nun auf den Sonnabend [7. 9. 1805] dazu komme.  Denke Sonnabend früh um 9 Uhr an mich, da stehe ich zum ersten Male vor den symbolischen Büchern und nehme dann Sitz am Rate der Götter.  Den Sonntag bedanke ich mich bei Hofe.  Und der gute Onkel Leipziger wird mich als Kammerherr vom Dienst der Kurfürstin vorstellen.  Tags nachher hoffe ich, was mir das liebste von allem ist, wieder in den Armen meiner geliebten Jeanette zu sein.  Bei Hopfgartens wurde ich äußerst freundschaftlich aufgenommen; auch der Alte kam gleich herzu, um mir seine Gratulation zu machen.  Nur darüber wundert man sich, daß Du nicht mitgekommen seist, und die Komtessen [Rex] glaubten Dich immer noch in Reserve, bis ich hoch und teuer versicherte, daß Du wegen wichtiger Amtsgeschäfte nicht hättest mitreisen können.

Die Nacht habe ich wieder der Wanzen wegen auf dem Sofa zugebracht.  Um 8 Uhr fuhr ich zu Wallwitzen, der ernstlich krank ist und bei dem ich anderthalbe Stunde blieb.  Der alte gute Mann hat mich mit der herzlichsten Freundschaft empfangen und wohl zehnmal umarmt.  Er war sehr bewegt, daß ihn seine Krankheit hindert, mich zu verpflichten, und versicherte mich, daß er seit 30 Jahren niemand so gern verpflichtet hätte als den Enkel seines Jugendfreundes[2].  Spillner muß nun meine Verpflichtung besorgen.  Wir sprachen von den Geschäften des Finanzkollegii, und auf einmal sprang der alte Mann mit dem Ausrufe auf:  Sie sind ganz ein Kollege, wie ich mir ihn wünsche, bleiben Sie so, und der Kurfürst wird an Ihnen einen Mann finden, der sich dem Zeitgeiste mit Nachdruck widersetzen hilft.  — Es ist gut, daß das Publikum von dieser Äußerung aus dem Munde des Ministers Wallwitz nichts erfährt, sonst könnte ich gleich zu gutem Anfange in ein schlimmes Licht kommen.  Wallwitz gab mir bis zum Ende des Septembers Urlaub, um meine Angelegenheiten zu arrangieren, und sagte mir, daß er auch künftig so oft und solange Urlaub geben wolle, als ich bei meinen Dienstgeschäften für tunlich und für meine eigenen für ratsam fände:  Sie werden keine Reste aufkommen lassen, setzte er hinzu, und wenn Sie immer fertig sind, so können Sie auch immer gehen, wohin Ihnen beliebt.

Ohngeachtet ich in die Versuchung geriet, die halbe Nacht aufzusitzen, um das Versäumte wieder nachzuholen, ging ich doch, aus Respekt gegen Deinen Befehl, um 11 Uhr zu Bette, um 5 Uhr war ich schon wieder zu Platze, und um 9 Uhr fing mein Vortrag an. Er war so stark, daß, als ich um 1 Uhr auf Ersuchen des Präsidenten schloß, noch eine Menge einstudierte Sachen zurückblieben, die ich morgen oder wenn sonst Zeit dazu ist, nachholen muß . . .

Ich habe nach lebhaften Debatten durchgesetzt, daß ein ungerechter Prozeß, den der Kurfürst gegen einen Bauer im Amte Weißenfels führte, und der dem Bauer schon 20 Jahre lang Not gemacht hat, vielleicht noch ebenso lange Sorgen und Kosten verursacht hätte, gänzlich niedergeschlagen wurde, und ich werde das Reskript heute noch selbst aufsetzen, indem wir dem gekränkten, von seinen Beamten gedrückten Manne sagen, daß wir anfangen gerecht zu sein.  Bei einem zweiten seit 1738 anhängigen Prozesse gelang es heute noch nicht durchzudringen; Biedermann, Ferber und Einsiedel fochten zugleich wider mich, und ich wurde endlich überstimmt, aber die Sache bleibt doch in meiner Hand, und was heute nicht durchgesetzt werden konnte, setzt man vielleicht zu einer anderen Zeit durch.

Dresden, Freitag, den [6.] Sept. 1805.  . . . Gestern habe ich den ganzen Tag nichts getan als die Stadt rekognosziert und Quartiere besehen.  Ich beschreibe Dir zwei Quartiere, die beide eine möglichst freie Lage und für alle Deine tausenderlei Bedürfnisse samt Suite vollkommen Platz haben.  Das eine Quartier ist im Eckhause des Neustädter Marktes unmittelbar an der Brücke und der Frau von Felgenhauer so gerade gegenüber, daß man sich gegenseitig zum Fenster heraus unterhalten kann[3].  Die Lage des Hauses ist entzückend schön, man sieht aus allen Zimmern den Markt und die Hauptstraße und aus den mehrsten die Elbe und die Brücke, letzere so nahe, daß man mit den Leuten, die auf der Brücke gehen, reden kann.  Das Quartier besteht aus 12 Stuben, wovon 8 nach dem Markte oder der Brücke und vier in den Hof gehen.  Die Eckstube wäre zu Deiner Visitenstube sehr bequem und hat zwei Fenster nach dem Markte und drei nach der Brücke.  Übrigens gehören zum Quartiere 3 Kammern, 2 Küchen, wovon wenigstens eine groß genug zu sein scheint, Stallung zu 4 Pferden, ein verschlossener Boden zu Vorräten, ein verschlossener Keller, 1 Speisegewölbe an der größeren Küche und verschlossene Holzplätze zu 3 Schragen Holz.  Wenn man durch den Hof des Hauses geht, kommt man in einen kleinen Garten, 43 Schritte lang und 20 Schritte breit, der mit Bäumen, Wein und Gartengewächsen besetzt ist, übrigens aber, eingeschlossen von den hohen Giebeln der benachbarten Häuser, als Garten eben nicht viel Reize hat.  Am Ende des Gartens liegt ein allerliebster Pavillon, von außen zwar häßlich und einem Weinbergsneste ähnlich, aber reizend durch seine Lage und Aussicht.  Er besteht aus einer Stube parterre, 9 Ellen lang und 11 Ellen breit mit einer Türe nach der Elbe und 4 Fenstern, und aus 1 Stube über dieser von gleicher Größe mit 9 Fenstern.  Diese beiden Stuben sind wie kleine Gartensäle, recht gut angelegt und brauchen nur noch ein wenig dekoriert zu werden, um der schönste Ort in Dresden zu sein.  Neben dem Pavillon ist eine kleine Küche und ein Keller.  Das Parterre wird durch einen Kamin geheizt, und die Oberstube kann es durch einen Windofen werden.  Vom Parterre führt eine steinerne Freitreppe nach der Oberstube.  Am Ende der Treppe ist ein freier Vorplatz, auf den man Tische und Stühle setzen kann.  Die Aussicht dieses Platzes und des Pavillons geht nach der Elbe.  Man sieht die ganze Brücke und die ganze Seite der Altstadt nach dem Flusse.  Das Finanzkollegium, künftig mein Memento mori, nimmt sich nebst dem Brühlschen Garten vortrefflich aus.  Durch den Pavillon führt eine Türe auf die Wiese an der Elbe.  Du kennst diese Wiese und den angenehmen, unbemerkten Spazierweg an selbiger.  Man geht zwischen der Elbe und den Gärten von Neustadt bis an die Festungswerke, und ich bin sie gestern bis ans Ende durchgegangen, um mich zu überzeugen, daß der Platz groß genug sei, auf dem Du mit Deinem ungezogenen Gefolge dem Kurzfürsten das Gras niederlatschen kannst . . .”

Endlich findet Hans Georg ein auch Jeanettens Ansprüche befriedigendes Quartier in dem vom Grafen Riesch erbauten Palais, das damals einem Subalternbeamten gehörte.  Die Wohnung umfaßte die ganze zweite Etage des Palais, des jetzigen Harmoniegebäudes in der Landhausstraße, das 90 000 Taler zu bauen gekostet und vorher von dem russischen, dann dem englischen Gesandten, zuletzt von der Gräfin Kielmansegg (Kielmannsegge) bewohnt worden war.  Hans Georg bezahlte jährlich nur 400 Taler Miete, „die Kielmannsegg hatte 600 Taler gegeben, aber auch alles so eingesaut, daß der Wirt malen, tapezieren und sogar dielen lassen mußte”.  Einige Zimmer, die fertiggestellt sind, bezieht Hans Georg sehr bald, sie werden von Jeanettens Weinberg aus notdürftig möbliert, und Jeanette selbst kommt einmal aus Oberschöna herein und verbringt einen oder zwei Tage bei ihrem Eheherrn, aber bald rufen sie die mütterlichen Pflichten nach Oberschöna zurück.  „Seit Du weg bist, Liebchen,” — so klagt er in einem Briefe — „habe ich auch nicht eine frohe Stunde mehr gehabt . . . Du glaubst gar nicht, wie grausam einsam es um mich her ist.  In der ganzen Etage bin ich der einzige Mensch — Fellern rechne ich zu einem Siebenschläfer — und wenn ich mich rühre, wenn ich nur mit einem Fuße in den Riesensaal trete, hallen die Töne wie in einer verlassenen Kirche.  Am schlimmsten bin ich des Nachts daran.  Mir ist, als schliefe ich im freien Felde, denn die Sonne muß schon hoch am Himmel stehen, wenn ich die vier fernen Wände der großen leeren Hausscheune erkennen soll, in deren Winkel ich liege.  Hier fühle ich die Einsamkeit womöglich noch mehr wie im Helme.  Ich wollte doch manchmal, ich wäre dort, und die dortigen Wanzen wären indes hier.  . . . Heute habe ich unser Quartier doppelt liebgewonnen und entdeckt, daß es eins der besten und angemessensten in der ganzen Stadt sei.  Haxthausen sagte mir, daß der Brühlsche Garten in der Nähe sei, mir fiel also, da ich den Weg noch gar nicht wußte, ein eine Entdeckungsreise dahin zu machen, und es dauerte nicht drei Minuten, so war ich auf dem schönsten Punkte des Nordens[4].  Es sind von unserem Tore bis an das Gartentor gerade 206 Schritte; ich habe die Entfernung gemessen, und da noch, weil mir die Patrouille entgegenkam, ein paar Schritte zugegeben.  Der Garten steht vom Tagesanbruche bis zum späten Abend jedem offen, und ein Anschlag an der Türe manifestiert dies ausdrücklich.  Daß sehr wenig Menschen von dem herrlichen Spaziergange profitieren, wird Dir und den Kindern lieb sein.  Ich bin in der vierten Stunde bloß einem Obstjungen begegnet.  Am Ende des Gartens sah ich gerade in mein Fenster, an dem ich im Finanzhause sitze; ich kannte es an dem Gebirge von Akten, die ich zu morgen da aufgetürmt habe.  Wir wollen uns Rendezvous geben, liebes Mädchen!  Mir fiel das gleich ein, wie ich das Fenster sah.  Du bestimmst mir eine Stunde, mit deren Schlage Du an der Galerie (die ehedem Brühlsche Bibliothek, später die der Sekundogenitur, jetzt ein Teil der Staatlichen Gemäldegalerie) bist und ich am Fenster; da sehe ich Dich, Du Engel!  Und werfe Dir verstohlene Küsse zu.”

Das beigegebene Bild Jeanettens (S. 72), von Wilhelm Tischbein gemalt, mit der zierlichen Gestalt, dem klassischen reinen Schnitt des lieblichen Gesichts, den großen seelenvollen Augen, dem dunkeln Haar, das den Kopf in reicher Lockenfülle umrahmt, und dem leisen Lächeln des feinen Mundes ist die beste Erklärung zu Hans Georgs Seelenstimmung.

Doch nun wenden wir den Blick von seiner Behausung und seinen glücklichen häuslichen Verhältnissen zu seiner neuen amtlichen Tätigkeit.  Ohne Zweifel haben die noch unverbrauchte Kraft Hans Georgs, seine in die schwierigsten und verwickeltsten Verhältnisse hineinleuchtende Klarheit und seine selbstlose Ehrenhaftigkeit und Menschlichkeit auch den älteren Geschäftsleuten des Finanzkollegiums Achtung abgenötigt und ihm auch manchen kleinen Erfolg beim Kurfürsten verschafft.  Anderseits waren das Herkommen und gewisse Gepflogenheiten der Geschäftsführung so starke Hemmnisse gegen seine Reformbestrebungen, daß er nicht immer den geraden Weg zu gehen vermochte, wenn er eine Sache durchsetzen wollte.  Er selbst erzählt uns in den Briefen an Jeanette und und Carl Adolf manches Beispiel davon:  „Drei Meilen rings um den Wendelstein[5] war kein Geburtshelfer, und nach der Anzeige der Beamten waren mehrere Weiber aus Mangel an Hilfe gestorben.  Ich trug ganz flüchtig die Sache im Kollegio vor, kein Mensch gab Achtung, Wallwitz schlief, und so erhielt ich stillschweigend die Beistimmung, dem Kurfürsten die Anstellung eines Geburtshelfers mit einer angemessenen Besoldung in Antrag zu bringen.  Ich machte den Vortrag selbst von vornherein langweilig, damit ihn niemand lesen sollte, aber am Schluß warm, wie es der Gegenstand verdiente, weil ich weiß, daß man im Kabinette immer nur den Schluß liest.  Gestern bewilligte der Kurfürst meinen Antrag unbedingt, und so habe ich vielleicht mancher Frau das Leben und manchem Kinde seine Mutter erhalten helfen.  Wallwitz konnte sich gar nicht auf die Sache besinnen und rief voll Verwunderung aus:  ‚Aber wer muß dem Kurfürsten solch dummes Zeug in den Kopf gesetzt haben?‘  Ich saß ganz still und tat, als ob ich auch einmal nicht Achtung gäbe.”

Wir sehen aus diesem typischen Vorfall, daß der Erfolg oder Mißerfolg eines von einem Ministerialrat bearbeiteten Vorschlags fast durchaus von der persönlichen Entschließung des Kurfürsten abhing.  Denn die Mitwirkung der Stände beschränkte sich auf das Recht der Steuerbewilligung und auf das Vorschlagsrecht in der Gesetzgebung, über deren Annahme oder Ablehnung der Kurfürst nach Gehör seines geheimen Konsiliums ganz allein entschied.  Deshalb wird es nötig sein, ehe wir die amtliche Tätigkeit Hans Georgs weiter verfolgen, wenigstens einige Worte über das Wesen und das Regierungssystem des Landesherrn einzuschalten.


Silberne Medaille auf Dr. Gall 1805 des Obermedailleurs der Berliner Münze
Daniel Friedrich Loos (geb. 1735 in Altenburg, gest. 1819 in Berlin).


 


[1] Einen Weinberg besaß schon der Vater Hans Carl August.   Andere hatte Carl Adolf hinzugekauft.  Sie lagen insgesamt in der Hoflößnitz (10 Kilometer von Dresden).  Carl Adolfs Gattin lebte oft längere Zeit auf einem dieser Weinberge; mehrere ihrer Kinder sind dort geboren.  (Carlowitzbuch S. 61, 63f.).

[2] Oberstleutnant Johann Georg v. C. (1692-1773) auf Steina bei Waldheim.  Das Wort „Jugendfreund” ist hier aufzufassen als „Freund des jungen Grafen Wallwitz”.

[3] General Felgenhauer wohnte im „Blockhaus”, in dem später das Kriegsministerium untergebracht war.  Die von Hans Georg geschilderte Wohnung war in dem Hause Neustädter Markt Nr. 11 (Kommerz= u. Privatbank).

[4] Die Brühlsche Terrasse, zu der die damals 1815 von Thormeyer gebaute schöne Freitreppe noch nicht hinaufführte.  Der Ausdruck Hans Georgs erinnert etwas an den Herdes „der Balkon Europas”.

[5] Das thüringische Amt, Schloß und Kammergut Wendelstein a. d. Unstrut, „eine der herrlichsten Domänen in dem noch ungeteilten Sachsen” (Schumann, Postler. 12 S. 649 ff.).